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«99 Prozent der Täter sind den Kindern bekannt»

Agota Lavoyer* berät Opfer von sexueller Gewalt. Verhindern könne man die Übergriffe kaum – aber dank Aufklärung früher stoppen.
29 Jun 2021
Bilder — Unsplash

Spätestens seit ihrer Rede an der feministischen Sondersession Herbst 2020 wollten wir Agota Lavoyer* unbedingt interviewen. Das Herzblut, mit der sie sich auf allen Kanälen gegen Sexismus und sexuelle Gewalt einsetzt, und die Offenheit, mit der die Mutter von vier Kindern über diese Tabuthemen spricht, haben uns beeindruckt. 

Ich bin Mutter zweier Kinder. Dass ein Kind von mir sexuelle Gewalt erleben könnte, ist eine meiner allergrössten Ängste. Wie begründet ist diese Angst?
Agota Lavoyer: Leider durchaus begründet. Wenn man die Statistiken anschaut – die jüngste für die Schweiz ist die Optimus-Studie von 2012 –, dann muss man davon ausgehen, dass eines deiner oder meiner vier Kinder irgendwann zwischen 0- und 18-jährig von sexueller Gewalt betroffen sein wird. Die Zahlen, die sich auch mit Befunden aus internationalen Studien decken, sprechen eine eindeutige Sprache: Jedes zweite bis dritte Mädchen und jeder fünfte Junge wird mindestens einmal in seiner Kindheit von sexueller Gewalt betroffen sein. Trotzdem ist dies für uns unvorstellbar für uns. Und das ist auch ein Teil des Problems.

Inwiefern?
Alles, was unvorstellbar ist, hat scheinbar auch wenig mit mir zu tun. Es scheint weit, weit weg von meinem Leben – und ich fühle mich gleichzeitig ohnmächtig und denke, dass ich nichts dagegen ausrichten kann. Deshalb ist eines der Ziele der Prävention, dieses Ohnmachtsgefühl bei den Eltern zu ersetzen durch Handlungsfähigkeit. Die Botschaft muss lauten: Sexuelle Gewalt passiert, sie ist eine Realität. Wir müssen das Wissen, dass sie meine Kinder treffen könnte, aushalten, sonst verschliessen wir die Augen und können unsere Kinder nicht schützen.

Wie kann ich das als Mutter verhindern? Kann ich es überhaupt verhindern?
(Zögert) Nein. Wir können noch so gute Eltern sein, noch so engagiert und sensibel – und wir können es doch nicht verhindern. Um zu verhindern, dass sich jemand an meinem Kind sexuell vergreifen kann, müsste ich es quasi von allen abschotten, und das ist selbstredend auch keine gesunde Option. Man kann es einfach wirklich nicht ausschliessen. Aber wenn wir unsere Kinder aufklären über sexuelle Gewalt, über Grenzüberschreitungen und über Täter*innenstrategien, dann haben die Kinder viel bessere Chancen, die Gewalt zu erkennen, und es fällt ihnen womöglich leichter, die Tat offenzulegen.

Gibt es Kinder, die eher Opfer sexueller Gewalt werden?
Grundsätzlich kann jedes Kind zum Opfer werden.

Aber gibt es nicht auch gewisse Faktoren, die Risiko erhöhen?
Doch, die gibt es. Einer davon ist Vernachlässigung. Vernachlässigte Kinder springen noch viel eher an auf die Aufmerksamkeit und Zuneigung, die sie ja eben auch erhalten von einem Täter oder einer Täterin. Gerade weil sie auch viel Liebe und Zuneigung erhalten, stecken sie in einem grossen Loyalitätskonflikt – eine typische Täterstrategie. Der zweite Risikofaktor sind Beeinträchtigungen. Beeinträchtigten Kindern wird zudem auch weniger Glauben geschenkt, wenn sie dann eine Tat offenlegen, und das macht das Ganze umso tragischer. Die dritte Risikogruppe sind Kinder, die schon einmal Gewalt erfahren haben. Sie sind stärker gefährdet, erneut Opfer von Gewalt zu werden.

Völlig schützen vor einem Übergriff kann man ein Kind also nie. Aber wenn es Risikofaktoren gibt, dürfte es ja auch Faktoren geben, die es weniger wahrscheinlich machen, dass ein Kind von sexueller Gewalt betroffen wird, oder?
Es ist sehr wichtig, dass Eltern sich selber über sexuelle Gewalt an Kindern informieren und dass sie sie immer wieder thematisieren: in der Familie, in der Nachbarschaft, am Elternabend oder an der Infoveranstaltung der Pfadi. Es gibt nichts Abschreckenderes für Täter*innen als Familien, die offen über sexuelle Gewalt an Kindern reden und sich nicht scheuen zu intervenieren, wenn jemand ihrem Kind im Alltag zu nahe kommt. Hinzu kommt die Aufklärung der Kinder. Wenn ein Täter oder eine Täterin ein Kind manipuliert, ist es für Kinder enorm schwierig, «Stopp!» zu sagen. Aber je mehr ein Kind über sexuelle Gewalt weiss, desto eher erkennt es sie, und desto eher kann es die Tat offenlegen. Im besten Fall können die Taten frühzeitig gestoppt werden, bevor das Kind heftige Folgen davonträgt. Altersadäquate Sexualaufklärung ist deshalb wahnsinnig wichtig. Und zwar nicht nur über Sexualität, sondern eben auch über sexuelle Gewalt. Das ist heute immer noch ein riesengrosses Tabu, und dass Eltern mit ihren Kindern darüber sprechen, gerade mit kleineren Kindern, ist meiner Erfahrung nach wirklich die grosse Ausnahme. Gut informierte, selbstsichere, unabhängige Kinder sind weniger gefährdet, Opfer von sexuellen Übergriffen werden.

«Altersadäquate Sexualaufklärung ist deshalb wahnsinnig wichtig.»

Gibt es weitere präventive Faktoren?
Eine Erziehung, die gewaltfrei auskommt. Genug Aufmerksamkeit, damit die Kinder wirklich spüren, dass sie wichtig sind und ihre Meinung und ihr Nein zählen. Eine Erziehung, die von Liebe und Respekt getragen ist, damit Kinder weniger angewiesen sind auf die Liebe und Aufmerksamkeit von Tätern. Nun klingt das natürlich schön und gut – aber wenn der Täter der Vater oder eine andere nahestehende Person ist: Da ist das Kind trotz allem chancenlos.

Wo liegt denn die Grenze zum sexuellen Übergriff? Wenn ein Vater mit seinem 3-jährigen Kind badet und eine Erektion hat – ist das schon ein sexueller Übergriff?
Wenn er es dort stoppt, ist es noch kein Übergriff; es kann durchaus vorkommen, dass der Vater körperlich erregt ist und es absolut nichts mit dem Kind zu tun hat. Wenn er danach adäquat handelt – aus der Badewanne steigt, die Situation beendet; nicht anfängt, mit dem Kind zu handeln, währenddem er erregt ist –, hat das Kind keine Gewalt erfahren. Gewalt würde dort beginnen, wo der Vater anfängt, aufgrund seiner Erregung mit dem Kind zu handeln. Und dort ist es wichtig, dass Handeln nicht nur Anfassen des Kindes beinhaltet, sondern es kann auch bedeuten, dass er das Kind auf den erigierten Penis hinweist, das Kind auffordert, «möchtest du mal anfassen?». Oder wenn er dem Kind sagen würde: «Gell, das ist unser Geheimnis.» Wenn er die Badezimmertüre abschliessen würde. Alle Handlungen, die das Kind irgendwie in die Erwachsenensexualität involvieren und es zur Geheimhaltung verpflichten.

Ob die Handlung vom Kind ausgeht oder nicht und ob eine effektive Berührung stattfindet, sind keine Kriterien, richtig?
Genau. Es ist wichtig, sich dessen bewusst zu sein, und mit ein Grund dafür, weshalb der Umgang mit diesem Thema so schwierig ist: Für Kinder ist sexuelle Gewalt extrem schwierig zu erkennen. Körperliche Gewalt ist für jeden erkennbar, das muss man nicht einmal einem Kleinkind erklären. Ein Kind spürt und weiss, dass ein Schlag etwas Schlechtes ist. Aber verpackt ein Täter die sexuelle Gewalt in ein Spiel, hat ein Kind, das nie darüber aufgeklärt wurde, kaum Chance, zu bemerken, dass dies nicht ok ist. Wir haben auf unserer Opferhilfestelle sehr viele Beispiele dieser Art. Oft fangen die Grenzverletzungen als noch vermeintlich lustiges Spiel an, das dann nach und nach in massivere sexuelle Gewalt umschlägt. Das ist auch eine Täterstrategie: Die Täter beginnen mit einer Handlung, von der sie, falls es rauskommt, noch behaupten können, das sei nur ein Spiel gewesen. Die Gewalt wird massiver, wenn die Täter sich sicher genug fühlen, dass das Kind niemandem etwas davon erzählt, weil er es schon so manipuliert hat.

Ich muss kurz die Ebene wechseln: Ist es nicht problematisch, wenn wir Täterstrategien hier so offen diskutieren? Geben wir (potenziellen) Tätern dadurch nicht noch mehr die Chance, ihre Taten zu verdecken?
Nein, das wäre naiv. Menschen, die sich an Kindern sexuell vergehen wollen, wissen genau, wo sie sich entsprechende Informationen holen können. Nicht nur in den zahlreichen Fachbüchern, die es darüber gibt, sondern vor allem auch im Darknet, in dem es wimmelt vor Foren, wo Männer einander Tipps geben, wie Kinder am besten manipuliert werden können. Die Lösung ist nicht, nicht mehr über sexuelle Ausbeutung zu schreiben. Sondern es erst recht zu tun, so dass alle (Eltern) realisieren, wie wichtig es ist, es zu thematisieren. Denn wie schon gesagt: Nichts ist für einen (potenziellen) Täter abschreckender als ein Umfeld, in dem offen über Nähe/Distanz, über Grenzverletzungen und über sexuelle Gewalt gesprochen wird.

«Nichts ist für einen  Täter abschreckender als ein Umfeld, in dem offen über Nähe und Distanz, über Grenzverletzungen und über sexuelle Gewalt gesprochen wird.»

Wir haben jetzt meistens von «dem Täter» gesprochen und auch vom Vater als Täter. Wer ist denn der typische Sexualstraftäter?
Der typische Täter ist männlich und aus dem nahen oder gar sehr nahen sozialen Umfeld des Kindes, das können der Vater, der Onkel, der Götti oder der Lehrer sein. Laut der Optimus-Studie sind es bei der Altersgruppe der bis 5-Jährigen Kinder zu 45 Prozent die Väter. Auch bei den 6- bis 11-jährigen Kindern ist noch jeder 4. Täter der Vater. Es gibt aber auch Frauen, die Kinder sexuell ausbeuten, auch Mütter. Bei den bis 5-jährigen sind 3 Prozent der Täter*innen die Mütter, bei den 6- bis 11-jährigen Kindern es gar 8 Prozent.

Also ist es selten einfach der böse Fremde, der das Kind mit Süssigkeiten zum Mitgehen verführt? Das ist ja das Bild des Sexualstraftäters, das einen auch in Kinderbüchern am häufigsten begegnet.
Bei den 0- bis 5-jährigen Kindern, die von sexueller Gewalt betroffen sind, sind nur 1 Prozent der Täter Fremde. 99 Prozent der Täter sind den Kindern und damit auch den Eltern bekannt. Aber dass irgendein fremder Psychopath das macht, ist halt leichter erträglich als der Gedanke, dass der eigene Partner, Bruder oder Vater das Kind sexuell ausbeuten könnte. Auch in der Prävention drehte sich lange Zeit viel darum, dass die Kinder nicht mit Fremden mitgehen. Und die Botschaft ist nach wie vor gut. Aber dieses Wissen schützt Kinder nicht vor sexuellen Übergriffen. Der stereotype Täter, der mit Süssigkeiten am Spielplatz lauert, taucht immer noch viel zu oft in den Medien auf. Das vermittelt ein komplett falsches Bild des typischen Täters.

Wie kann ich als Mutter bemerken, dass mein Kind sexuell ausgebeutet wird?
Man merkt es dem Kind oft nicht an. Dazu muss man wissen, dass diese Kinder unter wahnsinnig grossem Druck stehen. Es ist auch eine bekannte  Täterstrategie, dass dem Kind gedroht wird, es werde etwas Schlimmes passieren, wenn das Kind jemandem etwas erzählt: Ich bringe deine Mutter um, ich nehme dir deine Katze weg, ich komme ins Gefängnis. Der Täter kennt das Kind extrem gut. Je nach Kind braucht es nicht einmal eine so krasse Drohung. Zudem befinden sich die Kinder in einem riesigen Loyalitätskonflikt, da sie den Täter ja meistens auch sehr gerne haben. Deshalb tun die Kinder meistens alles, damit man es ihnen nicht anmerkt. Eltern betroffener Kinder machen sich immer riesige Vorwürfe, weil sie nichts gemerkt haben. Dabei gibt es immer wieder Fälle, wo die Eltern keine Chance hatten, etwas zu bemerken. Leider häufig auch deshalb, weil sie sich selber nie mit sexueller Gewalt an Kindern auseinandergesetzt haben und es diese Gefahr für sie gar nie gab.

Aber würde ich nicht merken, dass mein Kind leidet?
Nicht zwingend. Einerseits kann es ganz viele Gründe haben, wieso es einem Kind nicht gut geht: Es wird gemobbt, es hat keine Freunde oder eine belastende Familiensituation. Da denkt man, verständlicherweise, nicht als erstes an sexuelle Gewalt. Andererseits haben wir auch ein falsches Bild des «missbrauchten Kindes». Man glaubt, es sei ständig deprimiert, depressiv, traurig. Das kann, muss aber nicht sein. Diese Kinder haben womöglich auch ganz viele gute Dinge im Leben und spalten die Gefühle, welche die sexuellen Übergriffe auslösen, ab. Sie schildern dann oft auch, dass sie sich selber aus der Vogelperspektive beobachtet haben. Was ja eigentlich eine grossartige Fähigkeit der Psyche ist zum Selbstschutz. So können die Kinder das oft eine lange Zeit gegen aussen vergleichsweise gut managen – bis es dann irgendwann nicht mehr geht. Die Frage ist, wann sie das zulassen.

«Lieber 3 Minuten pro Woche, jede Woche, als einmal im Jahr ein grosses Aufklärungsgespräch.»

Welche Folgen hat sexuelle Gewalt für die Opfer?
Sexuelle Gewalt ist für die Betroffenen sehr häufig ein traumatisches und damit lebensbestimmendes Ereignis. Die Kinder erfahren eine tiefgreifende Verletzung ihrer seelischen, körperlichen und sexuellen Integrität. Und nicht zuletzt erfahren sie einen tiefen Vertrauensbruch, da sie meist von Menschen ausgebeutet werden, denen sie vertraut haben, auf die sie angewiesen waren. Die Folgen hängen aber auch von verschiedenen Faktoren ab. Zum Beispiel: Je näher die Beziehung und die Abhängigkeit zum Täter oder der Täterin, je länger die Dauer der Gewalthandlungen, je nach Art und Weise der Gewalt, desto massiver sind oft die Folgen. Hinzu kommt, dass alle Menschen unterschiedliche Fähigkeiten haben, Traumas zu verarbeiten. Nicht selten entwickeln Betroffene eine sogenannte posttraumatische Belastungsstörung und brauchen Therapie, um zu heilen.

Wie kann ich mein Kind explizit und doch altersgerecht über sexuelle Gewalt aufklären?
Ich plädiere dafür, diese Aufklärung möglichst unaufgeregt in den Alltag einzubetten. Lieber 3 Minuten pro Woche, jede Woche, als einmal im Jahr ein grosses Aufklärungsgespräch. Ich arbeite gerade selber an einem Aufklärungsbuch für Eltern, in dem es eben nur um diesen Punkt gehen soll: Wie kann ich sexuelle Gewalt konkret mit meinem Kind thematisieren? Darin soll es auch um Alltagsszenen gehen, wie etwa wenn sich das Kind umzieht: Welche Fragen könnte ich dem Kind jetzt stellen, um es unaufgeregt zu sensibilisieren?

Was wären das für Fragen?
Wer darf dich alles nackt sehen? Dürfte ich dich jetzt fotografieren? Wer darf mit dir zusammen duschen? Wann gibt es womöglich Ausnahmen? Und dabei dem Kind auch klarmachen, dass zum Beispiel nicht einmal ich als Mutter mein 8-jähriges Kind nackt fotografieren darf. So dass das Kind auch merkt: Es sind nicht nur «böse Menschen», die Dinge nicht dürfen. Der Täter, die Täterin kommt nicht als Monster daher, sondern ist eben oft eine vertraute Person. Die Kinder lernen so, dass auch für nahe Menschen wie die Eltern Grenzen gelten.

Wie kann ich mein Kind vor Missbrauch schützen?

Ihre Kinder sind sicher super aufgeklärt.
Ja, ich spreche oft mit ihnen. Und trotzdem – auch ich muss ständig dranbleiben. Eines meiner Kinder hatte einige Zeit lang eine Phase, in der es nicht alleine duschen wollte. Also sass ich auf der anderen Seite des Vorhangs und plauderte mit ihm. Irgendwann habe ich es gefragt: «Dürfte ich jetzt zu dir reinkommen in die Dusche?» Da fand es pragmatisch: «Warum nicht, es hat ja noch Platz.» «Und wenn jetzt dein Onkel oder deine Gotte zu dir in die Dusche kommen möchten?» Auch das fand es noch ok. Das ist einfach die Antwort eines Kindes, das dem Erwachsenen total vertraut und keine negativen Absichten erkennen kann. Da war ich aber trotzdem erstaunt – wir sprechen viel über Grenzverletzungen und sexuelle Gewalt. Und doch: einmal aufklären reicht nicht!

Was haben Sie Ihrem Kind dann gesagt?
Ich habe ihm daraufhin erklärt: Du bist jetzt 8-jährig, ich möchte nicht, dass du mit Erwachsenen duschst. Es ist nicht wichtig, ob das Kind versteht, warum das so ist. Aber es ist einfach eine Regel, an die es sich hoffentlich erinnern würde, wenn es tatsächlich einmal in dieser Situation wäre. Ich denke nicht, dass das Kind es stoppen könnte. Aber vielleicht würde es mir hinterher davon erzählen, weil es wüsste, dass das nicht ok war von der erwachsenen Person – unabhängig davon, ob es zu sexuellen Handlungen kam oder nicht.

«Ein elementarer Punkt ist, dass wir die Geschlechtsteile schon sehr früh richtig benennen. Interessanterweise hat ja niemand ein Problem damit, «Schnäbi» zu sagen. Aber das Wort Vulva hört man fast nie.»

Wie können wir die Kinder denn über sexuelle Gewalt aufklären, ohne ihnen Angst zu machen? Ich möchte nicht, dass das erste, was sie über Sex hören, etwas Negatives ist.
Wer noch nie eine Sexualaufklärung gemacht hat mit seinem Kind, sollte zuerst über die positiven Aspekte sprechen, das sehe ich auch so. Meine Kinder sind jetzt zwischen 4 und 10 Jahren alt. Ich habe mit allen etwa ab 3 Jahren über Sexualität und so ab 4 Jahren über sexuelle Gewalt gesprochen – und ich habe nicht das Gefühl, dass ich ihnen Angst gemacht habe. Es ist vermutlich für sie tatsächlich eine völlig abstrakte Information, wenn ich ihnen sage: Gell, eine erwachsene Person darf sich nicht vor dir an seinem Penis oder ihrer Vulva reiben. Aber Hauptsache, sie merken sich, was sie hören.

Wie kann ich also konkret damit anfangen, bei einem 4-Jährigen beispielsweise?
Ein elementarer Punkt ist, dass wir die Geschlechtsteile schon sehr früh richtig benennen. Schon beim Wickeln eines Babys: Jetzt wasche ich deinen Penis oder deine Vulva. Gerade Mädchen fehlt oft ein Wort für «das da unten». Interessanterweise hat ja niemand ein Problem damit, «Schnäbi» zu sagen. Aber das Wort Vulva hört man fast nie. Auch ich musste mir das richtig antrainieren, denn auch ich bin aufgewachsen ohne ein Wort für meinen Intimbereich. Ich merke, dass das viele Eltern auch fast nicht über die Lippen kriegen. Heute habe ich das Gefühl, dass meine Kinder das Wort Vulva ebenso selbstverständlich brauchen, wie sie auch Schnäbi oder Penis sagen. Und das macht mir echt Freude! Sie wissen auch, dass man nicht mehr von «Scheide» spricht.

Meine Kinder sagen den ganzen Tag Wörter wie Schnäbi und Vulvahaare, aber ich glaube nicht, dass sie deshalb besonders gut aufgeklärt sind …
Nicht zwingend, das stimmt. Trotzdem ist der erste Schritt der Aufklärung, überhaupt eine Sprache dafür zu haben. Wenn Kinder keine Wörter haben für ihre Geschlechtsteile, dann werden sie auch tendenziell weniger über einen sexuellen Übergriff sprechen wollen.  Weil sie spüren, dass «das da unten» ganz einfach Tabu ist: Darüber spricht man nicht, dafür gibt’s ja nicht einmal ein Wort. Sprache ist mächtig.

Was, wenn ich als Mutter oder Kindergärtnerin ein mulmiges Gefühl habe bei einem Kind oder einen konkreten Hinweis darauf, dass es einen Übergriff erlebt hat? Wie reagieren? Ich kann ja nicht den potenziellen Täter fragen: Hast du dich an meinem Kind sexuell vergangen?
Ja, tun Sie das nie! Wir erleben das leider oft bei der Opferhilfe, dass die Eltern oder die Schule die beschuldigte Person selber konfrontieren. Aber logischerweise wird kein Täter, keine Täterin einfach sagen: «Ja, das stimmt, sorry, ich höre damit auf.» Er wird den Vorfall immer abstreiten. Und er wird sehr gut vorbereitet sein auf ein solches Gespräch und X Gründe vorbringen, weshalb das Kind da nur was falsch verstanden hat oder ganz einfach lügt. Das führt bei Ihnen zu riesiger Verunsicherung: Auf der einen Seite die vielleicht etwas unzusammenhängende oder beiläufige Aussage eines Kindes – auf der anderen die felsenfeste Argumentation einer erwachsenen Person. Dagegen hat ein Kind keine Chance, und so bringt die Konfrontation auch die Eltern in einen noch stärkeren Konflikt. Zudem wird der Täter, die Täterin dadurch vorgewarnt. Womöglich erhöht er jetzt den Druck aufs Kind noch mehr, vernichtet Beweismaterial wie Fotos oder Videos; so verunmöglicht oder erschwert man auch ein Strafverfahren. Letztlich wird man dabei auch die Wahrheit nicht herausfinden. Also bei einem Verdacht nie den mutmasslichen Täter, die mutmassliche Täterin konfrontieren.

«Konfrontieren Sie einen potenziellen Täter nie selber!»

Was soll man sonst tun?
Sich bei einer Opferhilfestelle melden und sich beraten lassen. Der Vorwurf, dass ein Kind sexuelle Gewalt erfahren könnte, versetzt alle in einen emotionalen Ausnahmezustand. Deshalb darf man sich selber auch nicht überschätzen; Eltern brauchen dann Hilfe, sie können und müssen das nicht selber bewältigen.

Wenn mein Kind mir von einem sexuellen Übergriff erzählt: Wie reagiere ich dem Kind gegenüber am besten?
Auch wenn Sie schockiert sind: Erschüttert zu reagieren und wütend zu werden, ist meistens nicht hilfreich. Wenn man es nicht verhindern kann und die Tränen kommen, dann am besten einordnen: «Das macht mich jetzt grad sehr traurig, aber Danke vielmals, dass du mir das erzählt hast. Ich überlege mir, wie ich dir helfen kann.» Dem Kind auch signalisieren: Ich bin immer noch handlungsfähig. Nicht, dass das Kind sich auch noch Sorgen um die Eltern machen muss. Kinder überlegen sich meist sehr gut, wem sie etwas erzählen wollen; gerade weil sie ahnen, dass diese Person dann traurig oder wütend reagieren könnte. Was man auch verhindern sollte: dem Kind zu sagen, was für ein schlimmer Mensch der Täter ist – das hilft dem Kind nicht und stürzt es nur noch tiefer in den Loyalitätskonflikt.
Sehr wichtig ist auch, dass man das Verhalten des Kindes nicht hinterfragt. Nicht sagen: «Aber du wolltest doch immer zum Onkel, das verstehe ich jetzt nicht!» «Du warst doch immer so gut drauf, das kann doch nicht sein!» Das untergräbt seine Glaubwürdigkeit. Kinder sind in einem Loyalitätskonflikt und in einem Abhängigkeitsverhältnis mit den Erwachsenen. So zu handeln, wie sie gehandelt haben, war ihre Überlebensstrategie.

Also dem Kind einfach zu 100 Prozent Glauben schenken.
Das klingt einfacher, als es ist. Wenn ich an Elternabenden frage, sind sich alle Eltern immer absolut sicher, dass sie ihrem Kind glauben würden. Aber wenns dann tatsächlich passiert und der Täter ist dein Bruder oder deine Mutter, dann bröckelt das sehr schnell. Es hilft, zu wissen: Kinder erfinden höchst selten sexuelle Übergriffe.

Was, wenn mein Kind sagt, ich dürfe es niemandem weitererzählen?
Das ist fast immer der Fall. Dann sollte man dem Kind auch keine falschen Versprechen abgeben, die man dann brechen muss. Sie können ihm sagen: «Ich tue sicher nichts, ohne dich darüber zu informieren.» Dann können Sie das Kind altersadäquat auf dem Laufenden halten. Und versuchen Sie, nicht übereilt zu handeln. Lieber eine Woche warten, dafür im Sinne des Kindes vorgehen.

Kommen wir zum Thema Doktorspiele: Was ist normal und gesund – und wo werden die problematisch?
Das ist eine wichtige Frage. Mir fällt auf, dass wir heute unsere Kinder in allen Aspekten ihrer Entwicklung unterstützen – aber am wenigsten in der Sexualentwicklung. Es ist wichtig zu wissen, dass es eine sehr normale und gesunde Entwicklung ist, wenn sich Kinder im Alter von 3 oder 4 Jahren oder auch früher für ihren Intimbereich zu interessieren beginnen – und auch für den anderer Kinder. Ok ist das, so lange es für beide einvernehmlich ist, wenn kein Machtgefälle besteht. Das ist nicht immer so einfach zu eruieren. Von Gesetzes wegen gelten drei Jahre Altersunterschied, was ich als Anhaltspunkt sinnvoll finde: Ein 10-Jähriger darf seinen 3-jährige Bruder nicht auffordern, seinen Penis zu berühren, Punkt. Wir haben bei Lantana viele Fälle von zum Teil massiver sexueller Gewalt unter Geschwistern. Das ist auch ein Riesentabu. Man vergisst, bei den Geschwistern hinzusehen. Aber dort gelten aber die genau gleichen Regeln wie bei Kindern ausserhalb der Familie, inklusive dem Altersabstand.

«Ich glaube, wir können mit den Kindern über viel mehr sprechen, als wir meinen.»

Was, wenn sich mein Kind vor mir an der Vulva oder am Penis anfasst?
Wenn das Kind seinen Penis oder seine Vulva entdeckt und immer und überall dran rumspielt, dann ist es wichtig, dass man es nicht verbietet oder sagt, es sei «gruusig» – und gleichzeitig klar die eigenen Grenzen kommuniziert: Hey, toll, dass dir das guttut – aber bitte in deinem Zimmer, das ist deine intime Sache. Also nicht tabuisieren – aber auch die eigenen Grenzen abstecken und dem Kind erklären, wann und wo das ok ist und wo vielleicht weniger – auch zum Schutz des Kindes.

Thema sexualisierte Sprache: Mein Sohn kommt schon mit ziemlich wüsten Wörtern vom Kindergarten heim. Soll ich es einfach ignorieren, um es nicht noch interessanter zu machen – oder muss man da schon eingreifen, obwohl er nicht einmal weiss, was er da überhaupt nachplappert?
Ich glaube, wir können mit den Kindern über viel mehr sprechen, als wir meinen. Wir können einem Kind schon altersadäquat erklären, dass das sexualisierte Schimpfwörter sind, die teilweise sehr abwertend sind. Sexualisierte Demütigungen sind sehr mächtig. Damit kann man eine erwachsene Person, zumindest für einen kurzen Moment, schachmatt setzen. Wenn ein 12-Jähriger seiner Lehrerin sagt, «du F*tze!», dann ist sie sicher mal sprachlos. «Figg dini Mueter!» ist auch so etwas, das man häufig hört. Es hilft wenig, dem Kind lediglich zu sagen, «ich will dieses Wort nie mehr hören». Wir müssen auch erklären, weshalb. Wenn man sich sexuelle Übergriffe nach Schweregrad als Pyramide vorstellt, dann fängt es unten mit Sexismus an – und mit der Sprache. Im Grunde sind das verbale sexuelle Übergriffe, auch wenn die Kinder das noch nicht wissen. Und sie sind ja fast immer gegen Frauen gerichtet, oder gegen Menschen, die als «zu weiblich» gelesen werden – etwa, wenn jemand abwertend als «schwul», «Homo» oder «Transe» bezeichnet wird.

Perspektivenwechsel: Was, wenn jemand bei sich selber feststellt, dass er oder sie sich von Kindern sexuell angezogen fühlt?
Hier ist es wichtig zu sagen, dass nur ein kleiner Teil der Sexualstraftäter auch pädophil ist, höchstens 20 Prozent. Pädophil sein heisst, dass jemand nur von Kindern angezogen wird und nicht in der Lage ist, mit Erwachsenen intim zu werden. 80 Prozent der Täter sind nicht klinisch pädophil, sondern machen es aus anderen Gründen: weil sie sich mächtig fühlen wollen, weil die Kinder verfügbar sind, weil sie Kontrolle ausüben wollen oder weil sie mit Filmmaterial Geld verdienen wollen. Es gibt auf der anderen Seite auch viele pädophile Menschen, die nie übergriffig werden. Pädophilie ist wie Homosexualität und Heterosexualität eine sexuelle Neigung, die wir nicht kurieren können. Sie ist auch ein schreckliches Los, weil diese Menschen die eigene Sexualität nie werden ausleben können, höchstens lernen, damit umzugehen. Es gibt zwar Beratungsstellen für pädophile Menschen, zum Beispiel forio in Frauenfeld, aber leider viel zu wenige.

Was, wenn ein Sexualstraftäter sich Hilfe suchen möchte?
Es gibt wirklich sehr wenige, die das von sich aus auch tun. Aber es gäbe dafür Fachstellen, in Bern beispielsweise die Fachstelle Gewalt, wo man sich hinwenden könnte.

Zuletzt noch eine persönliche Frage: Sie haben selber 4 Kinder. Wie können Sie sich täglich mit diesem unfassbaren Leid beschäftigen und dabei nicht gelähmt sein vor Angst um Ihre eigenen Kinder?
Das ist das A und O der sozialen Arbeit – dass man sich abgrenzen kann. Ich habe das also schlicht gelernt. Ich kann mich sehr gut abgrenzen. Aber natürlich gibt es Fälle, die mir besonders Nahe gehen, etwa wenn ich ein Mädchen im Büro habe, das im Alter meiner Tochter ist, und die Mutter eine meiner Freundinnen sein könnte. Je näher das Milieu, je ähnlicher die Personen, desto schwerer fällt es mir. Aber auf der anderen Seite ist das auch ein Antrieb; es sorgt dafür, dass mir die Prävention so ein Herzensanliegen ist. Ich weiss dank meinem Job, wie viel verbreiteter sexuelle Gewalt ist, als die meisten Menschen wissen. Und ich verspüre einen riesigen Drang, aufzuklären und mein Wissen zu teilen.

Hier findet ihr die Opferhilfestelle eures Kantons: Opferhilfe Schweiz.

Agota Lavoyer

Die Leiterin der neuen Beratungsstelle Opferhilfe Solothurn, die am 1. Juli 2021 eröffnet (opferhilfe.so.ch), arbeitete zuvor fünf Jahre lang als Opferberaterin und später stellvertretende Leiterin auf der Opferhilfestelle Lantana in Bern. Sie hält Referate, führt Schulungen zum Thema durch und ist als Netzaktivistin auf Twitter, Facebook und Instagram aktiv. Sie hat vier Kinder im Alter von 4 bis 10 Jahren.
agotalavoyer.ch
Bild: Gia Han Le