Das Buch ist zwar schon zehn Jahre alt. Trotzdem war «Unconditional Parenting» (auf deutsch «Liebe und Eigenständigkeit», auf Englisch auch als Audiobuch erhältlich) für mich wie eine Erleuchtung. Darin erklärt Alfie Kohn sehr bildhaft, verständlich und mit wissenschaftlichen Befunden untermauert, warum viele der Erziehungs-«Techniken», mit denen wir selber gross geworden sind, höchstens kurzfristig Gehorsam produzieren – und längerfristig sogar schaden. Das besonders in seiner Heimat Amerika allgegenwärtige Lob («good job!») erreiche das Gegenteil dessen, was es bezweckt. Und auch Strafen wie Time-Outs seien kontraproduktiv. Er plädiert aber nicht bloss für Verhaltensänderungen, sondern ein gänzliches Umdenken in der Beziehung zu unseren Kindern: Liebe müsse nicht vom Verhalten der Kinder abhängen, sondern bedingungslos sein. Mit seinem Buch provozierte Alfie Kohn damals wie heute, weil er für viele das Fundament ihrer eigenen Erziehung infrage stellt. Sein Buch ist ein internationaler Bestseller. Dies ist Teil I des zweiteiligen Interviews, das wir am Telefon geführt haben. Teil II findet ihr hier.
Alfie Kohn, ich würde meine Kinder liebend gerne mit dieser bedingungslosen Herangehensweise grossziehen, die Sie in Ihrem Buch beschreiben. Aber ich finde es sehr schwierig, diesen Ansatz im Alltag umzusetzen. Gerade heute habe ich meinem vierjährigen Sohn damit gedroht, dass wir sofort vom Spielplatz heimgehen, wenn er nicht aufhört, seinen Bruder zu schikanieren. Es fühlte sich an wie ein Impuls, das Erste, was mir in einer stressigen Situation einfällt. Wie kann ich einen solchen Impuls überwinden?
Ich bezweifle, dass ich eine universelle Anleitung liefern kann, wie ein Elternteil einen solch verführerischen Impuls überwinden kann, der aus der eigenen Sozialisierung stammt. Ein entscheidender erster Schritt wäre, den Nutzen dieses altmodischen Erziehungsansatzes zu hinterfragen. Ich kann niemandem helfen, vom Ansatz «ich bestimme über mein Kind» («doing to») hin zu einem «ich arbeite mit meinem Kind zusammen» («working with») zu kommen. Ich kann lediglich belegen, wie wertvoll der zweite Ansatz ist und wie schädlich der erste. Und ich kann gewisse Leitlinien für diese Reise mitgeben.
Warum schädlich?
Wir machen Kinder mit Strafen absichtlich unglücklich, weil uns nicht gefällt, was sie getan haben. Das verschafft uns nur vorübergehend Gehorsam. Und der Preis dafür ist enorm hoch.
Was ist der Preis von Strafen?
Strafen untergraben die Beziehung zu unseren Kindern, sodass sie weniger geneigt sind, uns zu vertrauen. Sie fangen an, uns eher als Sittenwächter denn als fürsorgliche Verbündete zu sehen. Mit dem Resultat, dass sie uns weniger gern um Hilfe bitten oder davor zurückschrecken, uns etwas zu gestehen, worauf sie nicht stolz sind. Strafen erfüllen Kinder auch mit Wut und Trotz sowie mit dem Wunsch, uns etwas heimzuzahlen. Strafen lehren sie den Wert von Macht – das ist ja nicht, was wir ihnen eigentlich mitgeben wollten. Das Hauptproblem von Strafen ist aber, dass dabei die Folgen für das Kind selber im Zentrum stehen, und die Folgen des kindlichen Verhaltens für die anderen in den Hintergrund rücken.
«Selbst wenn wir sie euphemistisch als ‹Konsequenz› beschreiben: Jede Strafe macht ein Kind egozentrischer.»
Können Sie dafür ein Beispiel geben?
Eine Strafe lässt das Kind fragen: Was wollen die Erwachsenen von mir? Und was geschieht, wenn ich es nicht tue? Wie wir das Kind genau bestrafen, ob wir eine Erklärung dazu liefern – das spielt in Wirklichkeit alles keine Rolle. Selbst wenn wir sie euphemistisch als «Konsequenz» beschreiben: Jede Strafe untergräbt und verzögert die moralische Entwicklung des Kindes und macht es egozentrischer. Wenn wir zeigen, wer hier die Chefin oder der Chef ist, verspüren wir zwar oft eine kurzlebige, von Schuldgefühlen belastete Befriedigung. Aber wir müssen uns fragen: Ist es das wert?
Wie kommt es, dass Strafen so verbreitet sind, wenn sie so viele negative Auswirkungen haben?
Strafen sind nicht nur allgemein akzeptiert, sie werden auch von den Menschen in unserem Umfeld erwartet. Viele von uns wurden mit Bestrafungsstrategien erzogen. Wie wir erziehen, lernen wir in der eigenen Kinderstube (wortwörtlich). Unser Umfeld bestärkt uns darin. Es braucht Mut, diese Haltung in Frage zu stellen. Ausserdem ist Strafen beliebt, weil es einfach von der Hand geht.
«Strafen ist beliebt, weil es einfach von der Hand geht.»
Strafen geht einfach von der Hand? Was meinen Sie damit?
Um mit dem Kind zusammenzuarbeiten und Lösungen zu finden, die authentisch, respektvoll und letztendlich auch viel wirksamer sind, braucht es Zeit. Es erfordert auch Anstrengung, Talent und Mut. Keine dieser Qualitäten ist nötig, wenn wir ein Kind leiden lassen, weil es etwas getan hat, was es nicht tun sollte. Manchmal hat Strafen eine kurzfristige Wirkung: Wenn die Drohung schwerwiegend genug ist, wird das Kind manchmal vorübergehend tatsächlich aufhören zu tun, was wir ihm austreiben wollten. Wir ziehen dann die Schlussfolgerung, dass Strafen funktionieren. Dabei ist uns aber nicht immer bewusst, welche vielschichtigen und bleibenden Auswirkungen Strafen haben. Also machen wir weiterhin das, wovon wir denken, dass es kurzfristig hinhaut – und machen es so nur schlimmer.
Trifft das auf jede Art von Strafe zu?
Ja. Jede Art von Bestrafung, einschliesslich das erzwungene Isolieren von Kindern, gerade wenn sie uns am meisten brauchen – das wird dann oft verniedlichend als «time out» bezeichnet – hat dieselbe schädliche Wirkung.
«Belohnungen und Bestrafungen sind keine Gegensätze. Sie sind zwei Seiten der gleichen Medaille.»
Mir scheint, dass mehr und mehr Eltern verstehen, dass körperliche Bestrafungen grossen Schaden anrichten. Belohnungen, Kleberli-Systeme, Süssigkeiten und Lob scheinen als Anreizsysteme hingegen immer noch weit verbreitet und akzeptiert zu sein. In Ihrem Buch behaupten Sie, dass beide Strategien Kindern schaden.
Belohnungen und Bestrafungen sind keine Gegensätze. Sie sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Mit Bestrafungen sagen wir dem Kind: «Tu dies, oder ich werde dir das antun.» Mit Belohnungen kommunizieren wir: «Tu dies, dafür bekommst du das.» Das sind zwei Beispiele von dem, was ich als Strategien von «doing to» – im Gegensatz zu «working with» – bezeichne. Sowohl beim Strafen als auch beim Belohnen konzentrieren wir uns nur auf das Verhalten an der Oberfläche und gehen nicht auf die Motivation, die Beweggründe und die Bedürfnisse des Kindes ein. Das bedeutet, dass wir dem Kind nicht helfen, über die Auswirkungen seines Verhaltens auf andere nachzudenken. Wenn ich dem Kind mit etwas drohe, dann ist klar, dass ich versuche, es zu kontrollieren. Eine Belohnung oder ein verbales Hundeleckerli («Bravo! Das hast du gut gemacht!») in Aussicht zu stellen, ist genauso manipulativ. Es ist auch nur Kontrolle, aber mit Zuckerguss.
Ich höre von Freunden, dass das Kleber-System bei ihren Kindern zu funktionieren scheint.
Forschungsergebnisse zeigen ganz klar, dass Belohnungen, genauso wie Bestrafungen, nur eines bewirken: temporären Gehorsam zu einem enorm hohen Preis. Auch damit lehren wir die Kinder, auf Eigeninteresse aus zu sein. Studien zeigen durchs Band weg – Kinder, die oft belohnt oder gelobt werden, sind egoistischer als Kinder, die nicht belohnt werden. Die Auswirkungen sind am stärksten, wenn sie belohnt oder gelobt werden, gerade weil sie grosszügig waren oder geholfen haben. Die Botschaft, die beim Kind ankommt, lautet: Wenn die Person an der Macht mitbekommt, dass ich grosszügig oder hilfsbereit war, dann springt etwas für mich raus. Dieses Kind ist nun womöglich weniger bereit als zuvor, anderen zu helfen, wenn keine Erwachsenen dabei sind, die eine Belohnung anbieten.
«Studien zeigen durchs Band weg: Kinder, die oft belohnt oder gelobt werden, sind egoistischer als Kinder, die nicht belohnt werden.»
Bezieht sich das auch auf das Erlernen neuer Fähigkeiten? Ich soll mein Kind nicht loben, wenn es gerade das erste Mal Fahrrad gefahren ist?
Psychologen unterscheiden zwischen intrinsischer Motivation und extrinsischer Motivation. Intrinsiche Motivation heisst: Wir tun etwas, weil wir einen Wert darin sehen und weil es uns Freude macht. Extrinsische Motivation bedeutet: Wir tun etwas, damit etwas geschieht, das nicht in direktem Zusammenhang mit der Handlung steht. Der Punkt ist: Die extrinsische Motivation übergräbt die intrinsische. Belohnungen untergraben das Eigeninteresse daran, etwas zu tun.
«Der einfachste Weg, das Interesse am Lesen zu zerstören, ist, ein Kind fürs Lesen zu belohnen.»
Können Sie dafür ein Beispiel geben?
Je mehr ein Kind für eine Handlung belohnt wird, desto weniger Interesse hat das Kind an dem, was es tun musste, um die Belohnung zu erhalten. Der einfachste Weg, das Interesse am Lesen zu zerstören, ist, ein Kind fürs Lesen zu belohnen.
Teil II dieses Interviews mit dem Titel «Lob schadet doppelt», wo wir nach Grauzonen und Alternativen fragen, lest ihr hier: «Lob schadet doppelt». Mit herzlichem Dank an Elisa Malinverni für die Übersetzung und an Stefan Wachs für die Redigierarbeit für die englische Version dieses Texts.
Mit seinem bahnbrechenden Buch «Unconditional Parenting» (Deutsch: «Liebe und Eigenständigkeit») landete der Amerikaner vor über 10 Jahren einen Bestseller. Darin erklärt er gut verständlich und nachvollziehbar, warum Strafen und Belohnungen mehr schaden als nützen. Auf seiner Website alfiekohn.org findet man zahlreiche Artikel, Audio- und Videobeiträge zu seiner Arbeit. Das Interview fand telefonisch statt, hier findet ihr die englische Version des Gesprächs.