Nora Oelbermann ist Inhaberin und leitende Zahnärztin in der Familienpraxis Zahninsel an der Berner Laupenstrasse. Auf den ersten Blick verrät hier nichts, dass sich die Praxis besonders den kleinen Patientinnen und Patienten verschrieben hat. Erst auf den zweiten Blick entdeckt man ein paar Plüschtiere, ein iPad, einen Bildschirm, um die Zeit zu verkürzen. Kinder, die zum ersten Mal in die Zahninsel kommen, dürfen hier erst einmal alles ausprobieren. Auf der Website der Zahninsel gibt die Zahnärztin unter anderem Tipps für den ersten Zahnarztbesuch oder die Zahnpflege bei Kindern und beruhigt auch einmal eine besorgte Grossmutter.
Nora Oelbermann*, wie häufig sollte ich meinen Söhnen, 1- und 3-jährig, die Zähne putzen?
Zwei Mal am Tag. Wichtig ist, es einmal richtig zu machen. Um Bakterien zu entfernen, benötigt man einfach eine gewisse Zeit. Wer also nach jedem Essen putzt, aber nur husch-husch, hat nichts gewonnen, weil dann einige Stellen vielleicht über Tage hinweg nicht geputzt werden.
Wie lange denn?
Bis man fertig ist. Man kann da keinen Timer stellen.
Darauf wollte ich hinaus. Wir haben eine Sanduhr. Aber ich kann meinem Kind nicht drei Minuten lang die Zähne putzen, das ist einfach unmöglich!
Diese Zeitempfehlungen gibt es, damit mans nicht husch-husch macht. Wir empfehlen bei grösseren Kinder eine elektrische Zahnbürste. Die ist sehr klein, und man muss keine grossen Putzbewegungen machen, sondern nur die Bürste draufhalten, und die Zähne werden in den meisten Fällen schon sehr schön sauber.
Mein 3-jähriger Sohn möchte gern selber Zähneputzen. Muss ich jedes Mal nachputzen?
Selber zu putzen ist super, das ist gut für die Koordination und die Motivation. Aber einmal am Tag sollten Sie gründlich nachputzen.
Wann sollte man denn anfangen mit Zähneputzen? Beim ersten Zahn?
Ich würde schon vorher beginnen und bereits beim Baby ganz früh das Ritual einführen. Auch wenn es noch keine Zähne hat: Einmal am Tag bis hinten auf dem Kieferkamm mit dem Finger hingehen. Damit das schon früh ganz selbstverständlich zum Tag gehört.
Zeitweise war das Zähneputzen bei uns ein Riesenkampf. Was tut man da?
Es wird immer Zeiten geben, in denen es schlechter geht. Da hilft es zum Beispiel, Lieder zu singen. Oder ein Video im Internet anzusehen, es gibt da ganz süsse zum Zähneputzen. Was auch gut hilft, ist, wenn die Kinder bei Mama oder Papa Zähne putzen dürfen.
Und wenn alles nicht hilft?
Dann muss man sich auch eine Zeit lang durchsetzen, zum Wohle der Kinder.
Wir haben das auch auf Rat der Kinderärztin so gemacht. Aber es fühlte sich an, als würden wir unserem Kind Gewalt antun.
Das verstehe ich. Aber da überwiegt in meinen Augen das langfristige Bedürfnis, nämlich nach gesunden Zähnen, gegenüber dem kurzfristigen nach Harmonie und Autonomie. Ich würde mein Kind ja auch nicht bei minus 10 Grad nur in Unterhosen rausgehen lassen, nur weil es keine Lust hat, sich anzuziehen. Da lässt man ja auch irgendwie nicht mit sich reden, weil man weiss: Am Ende ist es fürs Kind gut. Ich sehe halt die Folgen, wenn man es nicht macht.
«Beim Zähneputzen müssen sich die Eltern nötigenfalls auch einmal durchsetzen. Da überwiegt in meinen Augen das langfristige Bedürfnis, nämlich nach gesunden Zähnen, gegenüber dem kurzfristigen nach Harmonie und Autonomie.»
Welche Folgen sind das?
Zum Beispiel 2-, 3-Jährige mit Riesenlöchern. Und das tut mir einfach in der Seele weh, wenn Kinder unter 7 schon Füllungen brauchen.
Ausser der fehlenden Mundhygiene: Was sind gängige Gefahren für die Zähne, die man vielleicht unterschätzt?
Das ständige Essen. Selbst ein Maispop oder ein an sich gesundes Vollkornbrötchen oder Darvida besteht aus Kohlenhydraten, und wenn das Kind den ganzen Tag daran rumkaut, ist das einfach ein super Nährboden für Bakterien. Das gleiche gilt für süsse Tees, auch wenns nur ganz wenig Zucker drinhat. Es ist – aus Zahnarztsicht – weniger schlimm, einmal am Tag ganz viel Schokolade zu essen und danach zu putzen, als den ganzen Tag immer wieder ein wenig. Das gilt für Erwachsene genauso.
«Selbst ein Maispop oder ein an sich gesundes Vollkornbrötchen besteht aus Kohlenhydraten, und wenn das Kind den ganzen Tag daran rumkaut, ist das einfach ein super Nährboden für Bakterien.»
Was ist mit dem nächtlichen Schoppen (Flasche)?
Das ist aus Zahnarztsicht natürlich auch nicht zu empfehlen. An der Uni lernen wir: Ganz schlimm! Aber man muss immer abwägen: Was sollen die Eltern denn machen, wenn eine Flasche das einzige ist, das nützt, damit das Kind schläft? Ich habe sogar Zahnarztfreunde, deren Kinder nachts Milch trinken. Wichtig ist dann einfach, gut zu putzen. Und vielleicht die Milch immer mehr zu verdünnen, bis es am Ende nur noch Wasser ist. Ganz sicher aber keine zuckerhaltigen Getränke für die Nacht.
Aber ich kann dem Kind doch nicht in der Nacht die Zähne putzen!
Nein, aber am Tag dafür gut.
Was ist denn anders beim Stillen? Ich habe gelesen, weil die Milch über die Brust fast direkt in den Rachen läuft, sei das weniger problematisch.
Nein, das kommt aus zahnärztlicher Sicht aufs genau gleiche raus. Aber man muss da wirklich Prioritäten setzen. Ich habe ein Freundin, die Zahnärztin ist und ihr 1,5-jähriges Kind auch nachts noch stillt – weil so einfach alle am besten schlafen. Dieses Bedürfnis überwiegt hier. Man muss dann das Gesamtbild anschauen: Wie viele Süssigkeiten isst das Kind? Wie viel Mühe gebe ich mir beim Zähneputzen?
Wie schlimm ist Karies denn bei Milchzähnen überhaupt? Die fallen ja eh aus!
Karies kann weh tun und zu eintrigen Infektionen führen, die im blödsten Fall notfallmässig behandelt werden müssen. Dann ist man vielleicht auf eine Narkose angewiesen. Ist zudem der Zahnkeim unter dem betroffenen Milchzahn noch nicht ausgebildet, kann es durch die Entzündung an der Wurzelspitze auch zu Fehlbildungen am bleibenden Zahn kommen. Nicht durch ein kleines Löchli, aber wenn die Karies schon ausgeprägt ist und der Nerv abstirbt. Zudem sind die Milchzähne wichtig als Platzhalter für die bleibenden Zähne; wir wollen sie möglichst lange behalten, damit es nicht zu kieferorthopädischen Problemen kommt. Müssen die Schneidezähne zum Beispiel wegen einer Nuckelflaschenkaries gezogen werden, führt das auch zu Problemen bei der Sprachbildung.
Wie oft sehen Sie denn so ganz schlimme Fälle?
Ich selber etwa einmal im Jahr. Aber ich denke, Kinder mit solchen Problemen werden häufig direkt vom Kinderarzt in die Klinik geschickt.
Unser 3-Jähriger hat in der Nacht noch einen Nuggi (Schnuller). Wie schlimm ist das?
Zuerst einmal müssen wir uns bewusst sein, dass es zu einer Kieferverformung kommt. Dann …
… Es kann zu einer Kieferverformung kommen?
Das passiert eigentlich immer. Wenn Sie Ihren Sohn anschauen und er Sie anlächelt, werden Sie vorne schon einen Spalt zwischen Ober- und Unterkiefer-Frontzähen sehen, einen offenen Biss. Je früher er zu nuckeln aufhört, desto besser wächst diese Kieferverformung wieder zu. Trotzdem würde ich jetzt keinem Kind, das in meine Praxis kommt, den Nuggi verbieten. Meine Haltung ist, jetzt einmal ein wenig übertrieben gesagt: Lieber ein Kind mit einer Spange als eines mit einem psychischen Schaden, weil man ihm der Kiefergesundheit zuliebe plötzlich den Nuggi weggenommen hat. Natürlich sollte man es probieren mit dem Verzicht, den Nuggi dem Osterhasen oder dem Samichlaus abzugeben wenn möglich. Auf jeden Fall aber lieber ein Nuggi als der Daumen!
«Je früher ein Kind zu nuckeln aufhört, desto besser wächst die Kieferverformung wieder zu. Trotzdem würde ich jetzt keinem Kind, das in meine Praxis kommt, den Nuggi verbieten.»
Die Hälfte aller Kinder hat heute eine Spange. Wieso eigentlich?
Erst einmal: Weil sie verfügbar sind. In unserer Kultur braucht man nun mal gerade Zähne. Es kann natürlich aber durchaus medizinisch notwendig sein, weil jemand sonst so einen schiefen Kiefer hat, dass er gar nicht kauen kann. Kiefergelenksbeschwerden können auch sehr schmerzhaft sein.
Für Eltern ist es sehr schwierig abzuschätzen, was nun wirklich notwendig ist und was nur «Nice to have».
Das muss man offen diskutieren. Man kann im Grunde auch warten, wenn man sehr skeptisch ist, ob es wirklich nötig ist. Schliesslich kann man ein Leben lang Kieferorthopädie machen. Es dauert später einfach länger, weil der Knochen härter ist.
Wie soll man ein Kind auf einen Zahnarztbesuch vorbereiten?
Es bewährt sich, das ganze als Abenteuer zu erzählen. Negative Formulierungen wie «Hab keine Angst!» oder «Es tut schon nicht weh!» unbedingt vermeiden, weil sonst denkt das Kind: Aha, es könnte eventuell weh tun! Ich könnte Angst haben!
Wie läuft der Besuch bei Ihnen ab?
Hier kommen die Kinder beim ersten Termin nur zum Kennenlernen. Sie dürfen dann alle Knöpfe drücken und alles anschauen. Es ist für sie wie eine riesige Raumstation, der Stuhl bewegt sich, man kann Wasser spritzen – alles sehr aufregend. Wichtig ist, dass wir als Zahnärzte die Wahrheit sagen, wenn zum Beispiel etwas weh tut, nicht zu lügen, sonst hat man das Vertrauen verloren. Wir versuchen ausserdem, die Zeit kurzzuhalten, die Kinder können auch fernsehen zum Beispiel.
Was, wenn schon grosse Angst da ist?
Locker bleiben! Bei den Eltern entsteht natürlich auch ein grosser Druck. Das macht das Ganze nicht einfacher. Und auf keinen Fall Geschenke versprechen. Sonst empfängt das Kind die Botschaft: Uh, das muss etwas ganz Schlimmes sein, wenn ich dann dafür ein Geschenk bekomme! Wenn man selber panische Angst hat vor dem Zahnart, dann besser nichts sagen oder zum Beispiel das Grosi oder den Grosspapa für die Zahnarztbesuche einspannen.
«Auf keinen Fall Geschenke versprechen vor dem Zahnarztbesuch! Sonst empfängt das Kind die Botschaft: Uh, das muss etwas ganz Schlimmes sein, wenn ich dann dafür ein Geschenk bekomme!»
Mussten Sie schon Behandlungen abbrechen?
Ja, wenns gar nicht geht, braucht es halt Hilfe von einem Anästhesisten, der mit Narkose arbeitet. Gerade bei kleineren Kindern. Aber es gibt auch scheinbar hoffnungslose Fälle mit einem Happy End. Vergangene Woche hatte ich eine 8-jährige Patientin, die schon einmal in Vollnarkose behandelt worden war und riesige Angst hatte. Sie musste eigentlich nur eine Versiegelung machen, es war keine grosse Sache, und sie machte auch gut mit– bis ich dann zum kleinen Sauger kam. Da ist sie komplett abgedreht, hat geschrien und geweint: «Mein Herz tut weh! Ich bekomme keine Luft mehr!» Da hat die Mutter supercool reagiert. Manchmal leiden dann die Eltern zu sehr mit und haben auch diesen mitleidigen Tonfall – das hilft nicht. Aber in diesem Fall blieb die Mutter bewunderswert ruhig und bestimmt. So ging es dann am Ende, und das Mädchen war am Schluss auch mega stolz.
Es gibt ein Buch mit dem Titel «Wackeln die Zähne, wackelt die Seele». Was ist da dran?
Es ist sicherlich eine aufregende Zeit. Wenn einem Erwachsenen ein Zahn gezogen wird, ist das ja auch ein Verlust, manche Psychologen sagen: wie eine Amputation. Zudem ist ja auch der Kaukomfort einige Zeit lang eingeschränkt, mich als Erwachsene würde das ja sehr stören. Aber letztlich machen wir Erwachsenen vielleicht manchmal auch etwas eine zu grosse Geschichte daraus. Die Kinder können das eigentlich gut einschätzen.
Gibt es Kinder, die schon Mundgeruch haben?
Ja, das gibt es, wie bei Erwachsenen: wegen mangelnder Mundhygiene, aber auch bei chronischen Mandelentzündungen, das haben viele Kinder.
Kann man da etwas machen?
Ja, zum HNO-Arzt schicken für eine Abklärung der Mandeln, und natürlich regelmässig zum Zahnarzt.
Ab wann müsste man Zahnseide benützen?
Da sind wir wieder beim Konflikt zwischen Wünschbarem und Realistischen. Ich empfehle meistens dann Zahnseide, wenn ich schon irgendwo eine beginnende Karies sehe. Auch wenn es dann eigentlich schon zu spät ist. Aber wie können wir Eltern dazu bringen, bei ihren Kindern Zahnseide zu benutzen, wenn sie es bei sich selber nicht einmal schaffen?
«Wie können wir Eltern dazu bringen, bei ihren Kindern Zahnseide zu benutzen, wenn sie es bei sich selber nicht einmal schaffen?»
Wie viel Prozent der Kinder haben denn schon Karies bei der ersten Kontrolle?
Bei den 3-Jährigen vielleicht einer von zehn. Bei den 5-Jährigen sind es dann schon etwa ein Viertel bis ein Drittel, grob geschätzt.
Sind es mehr geworden?
Ich kann es nicht über eine lange Zeitspanne beurteilen, aber ich könnte es mir gut vorstellen: Schon nur deshalb, weil jetzt ständig und überall Süssigkeiten verfügbar sind.
Braucht man eine Zahnversicherung?
So generell kann man das nicht sagen. Man muss letztlich auch da wieder abwägen. Manche profitieren später davon, dann hat es sich gelohnt; andere zahlen immer nur Prämien und brauchen sie nicht – so läuft halt das Versicherungswesen. Klar ist, dass der Zahnarzt ab einem gewissen Alter vor dem Abschluss der Versicherung die Zähne anschauen muss. Wenn man dann dort schon einen Kreuzbiss sieht, gibt es einen Vorbehalt, und wenn dann die ganze Kieferorthopädie draussen ist aus dem Leistungskatalog, lohnt es sich dann gar nicht.
Geheimtipp beim Zahnen?
Leider nicht. Zahngels, Beissringe, im allerschlimmsten Fall Schmerzmittel. Manche empfehlen Globuli.
Welche Zahnpasta empfehlen Sie für Kinder?
Auf jeden Fall eine mit Fluorid, die für das jeweilige Alter zugelassen ist.
Stichwort Fluorid: Ich höre immer wieder von Eltern, die ihren Kindern keine Fluorid-haltige Zahnpasta geben, weil das angeblich schädlich sei. Was sagen Sie dazu?
Ja, das höre ich auch ab und zu. Diese Leute haben Angst vor einer Fluoridvergiftung. Diese ist nicht schulmedizinisch nachgewiesen. Ich weiss nicht, woher diese Angst kommt. Vielleicht hängt sie damit zusammen, dass Fluor ein Giftgas ist. Aber Chlor ist auch ein Giftgas – und wir essen Kochsalz, also Natriumchlorid. Das sind chemisch zwei unterschiedliche Dinge! Wenn nun ein Baby eine ganze Tube Elmex Gel trinken würde, dann könnte es vielleicht schon zu einer Vergiftung kommen. Aber der tägliche Gebrauch, gerade in Kinderzahnpasta-Dosis, ist absolut unbedenklich.
Was ist denn mit diesen weissen Flecken, sind das nicht Anzeichen einer Fluroidüberdosis?
Die heissen Flurosen und bedeuten, dass zu viel Fluorid im Zahn ist. Das kommt extrem selten vor. Am ehesten noch an Orten, an denen das Trinkwasser schon von Natur aus stark fluoridhaltig ist.
Wozu ist Fluorid denn gut?
Es erhöht die Widerstandskraft der Zähne gegen Karies schon bei deren Bildung. Sind dann erst einmal Kariesbakterien vorhanden, lösen diese einzelne Stoffe aus dem Zahn heraus, man nennt das eine Demineralisierung. Wenn wir nun mit Fluorid putzen, lagert dieses sich an dieser Stelle ab und ersetzt in noch härterer Form die Zahnsubstanz.
Was, wenn jemand trotzdem kein Fluorid brauchen will?
Das ist – wie beim Impfen – diesen Personen selber überlassen. Ich empfehle dann einfach, noch umso besser zu putzen, putzen, putzen.
Letzte Frage: Wann hatten Sie selber das letzte Mal ein Loch?
Die letzte Füllung hatte ich vor vier Jahren.
* Nora Oelbermann (33) hat vor 2,5 Jahren die Zahnarztpraxis Zahninsel gegründet und ist private Schulzahnärztin der Stadt Bern. Sie leitet in der Zahninsel ein Team von sechs Mitarbeiterinnen. Zuvor arbeitete sie an der Schulzahnklinik in Bern. Die gebürtige Deutsche hat in Kiel studiert und lebt und arbeitet seit fünf Jahren in der Schweiz, wo sie zu ihrem Schweizer Lebenspartner gezogen ist. Von ihrer Praxis aus hat man einen wunderbaren Blick auf die Alpen, wo sie auch gern ihre Freizeit verbringt.