Der erste Hebammenbesuch nach der Geburt. Marielle sagt uns erst jetzt, dass unser Sohn ein so genanntes Sternenguggerli (hintere Hinterhauptslage) war: «Aber ich habe sofort gemerkt, dass du ihn aus eigener Kraft und ohne Nachhelfen gebären kannst. Deshalb habe ich nichts gesagt und niemanden dazu geholt.»
Die Geburt war kurz, aber heftig, und eben ganz natürlich. Hätte eine fremde Hebamme gewusst, dass sie mich machen lassen kann? Hätte ein Arzt uns das zugetraut und in dieser Situation auf Vakuum oder Zange verzichtet?
Marielle Camara ist eine von wenigen Beleghebammen in der Stadt Bern. Sie begleitet Frauen schon während der Schwangerschaft, macht alle Voruntersuchungen mit Ausnahme von Ultraschall. Wenn die Wehen einsetzen und in kurzen Abständen kommen, fährt sie zuerst zu der Gebärenden nach Hause, um zu untersuchen. Erst wenn die Zeit gekommen ist, der Muttermund genug geöffnet ist, fährt sie mit den werdenden Eltern gemeinsam ins Spital. Während der ganzen Geburt weicht sie nicht von der Seite der Gebärenden. Sie begleitet die Familie weiterhin auch im Wochenbett und in der ersten Zeit mit dem Neugeborenen.
Ich war selber überrascht, welch intensives Vertrauensverhältnis daraus entstand. Noch heute – Jahre nach meiner ersten Geburt – denke ich oft an meine Beleghebamme und wünsche mir, ich könnte ab und zu mit ihr Kaffee trinken.
Schon vor der Geburt lernte Marielle mich und meinen Partner kennen. Sie wusste, aus welchem Holz ich geschnitzt bin. Im Ernstfall Geburt konnte sie so in meinem Sinne entscheiden. Ich weiss, sie hätte sich loyal für mich eingesetzt, hätte mich jemand zu etwas überreden wollen, das mir nicht entspricht.
Selber sagt sie: «Der Körper der Frau kann der Hebamme eine gewisse Prognose für die Geburt mitgeben.» So könne eine Beleghebamme einschätzen, was an Präventionen und generell an Behandlung nötig sei, um eine Spontangeburt zu begünstigen.
Die Beleghebamme begleitet nicht nur einen kurzen Ausschnitt, sondern den ganzen Prozess Schwangerschaft – Geburt – Wochenbett.
Viele Frauen wissen gar nicht, dass es diese wertvolle Kombination – das Beste aus alternativer und klassischer Medizin – überhaupt gibt: Geburt im Spital, aber mit einer vertrauten Geburtshelferin. Die Hebamme begleitet nicht nur einen kurzen Ausschnitt, sondern den ganzen Prozess Schwangerschaft – Geburt – Wochenbett.
Mich schmerzt es jedes Mal, wenn ich von Geburtserlebnissen höre, die hätten anders verlaufen können, wenn eine Vertrauens- und Fachperson als Anwältin für die Gebärende dabei gewesen wäre.
Ich frage mich oft, wieso nur wenige Frauen diese Option wählen. «In der Schweiz ist es immer noch normal, dass eine Frau sich im Falle eines positiven Schwangerschaftstest beim Gynäkologen meldet. So ergibt es sich automatisch, dass die Schwangerschaft von einem Arzt/einer Ärztin begleitet wird», erklärt mir Marielle, die selber gerade zum zweiten Mal Mutter geworden ist.
«Viele Frauen mögen das Vorgehen, dass bei jeder Untersuchung ein Ultraschall gemacht wird.» Marielle weiss aus Erfahrung, dass viele sich verunsichert fühlen und Fachperson wechseln, wenn es nicht so gehandhabt wird. «Im Grunde sind die vielen Ultraschalle gar nicht indiziert. Die Schwangerschaft ist ja keine Krankheit.»
Eine Hebamme arbeitet mehr mit den Händen, tastet, benutzt Massband und Doptone. Sie macht keine Ultraschalls. Aber sie erkennt sehr wohl, wenn eine Schwangerschaft nicht regelrecht verläuft. In einem solchen Fall zieht sie ohne zu Zögern einen Arzt bei.
Vertrauen in die klassische Schulmedizin ist nicht der einzige Grund dafür, dass nur wenige Frauen mit Beleghebamme gebären. Im Raum Bern gibt es gerade mal eine Handvoll Beleghebammen. Sie sind sehr schnell ausgebucht. Aber wieso gibt es nicht mehr von ihnen?
«Meldet sich eine Frau nach der zwölften Schwangerschaftswoche, ist oft keine Kapazität von uns Beleghebammen mehr da.»
«Die Frauenklinik ist als Universitätsspital das einzige Spital in Bern, die dieses Modell anbietet», erklärt Marielle Camara. «Meldet sich eine Frau nach der zwölften Schwangerschaftswoche, ist oft keine Kapazität von uns Beleghebammen mehr da. Die anderen Spitäler funktionieren mit dem Belegarztsystem. Da noch Beleghebammen mitmischen zu lassen, ist wohl etwas schwierig.»
Die Leiterin Geburtshilfe der Frauenklinik, Simone Büchi, schätzt hingegen die Zusammenarbeit mit den Beleghebammen: «Die Beleghebammen gehören zum Team. Die Zusammenarbeit zwischen der Geburtshilfe der Frauenklinik und den Beleghebammen läuft sehr gut.»
Die drei Beleghebammen an der Frauenklinik bezeichnet sie bereits als «sehr viel». Denn diese Zusammenarbeit erfordere zusätzliche Organisation, «weil wir kein privates Belegspital sind, sondern eine öffentliche Universitätsklinik».
Auch Pia Bühler ist Beleghebamme an der Frauenklinik. Sie hat den Eindruck: «Professor Surbek (Chefarzt Geburtshilfe, Anm. D. Red.) ist sehr an der Zufriedenheit der Patientinnen interessiert. Er hat uns gebeten, die Absagen, die wir aufgrund mangelnder Kapazität machen müssen, zu erfassen und zu dokumentieren.»
Aber selbst wenn die Kliniken mehr Beleghebammen-Plätze schaffen: Nicht für jede Hebamme ist dieses Modell attraktiv. Wie jede freiberufliche Tätigkeit kennt auch diese Arbeit keinen Feierabend: «Sicherlich wollen viele Hebammen diese Selbständigkeit gar nicht auf sich nehmen. Sie ist nur schwer mit ihrem Privatleben zu vereinbaren.»
Marielle Camara weiss, wovon sie spricht: «Geburten sind nun mal nicht planbar. Wir sind dauernd auf Abruf und müssen nachts ausrücken, wenn es losgeht. Das ist eine grosse Dienstleistung. Andererseits teilen sich die beiden anderen Beleghebammen der Uniklinik dieses Pikett. Das zeigt doch, dass es viele kreative Möglichkeiten gibt!»
«Ich bin überzeugt, dass die Frauen bei Geburtsbeginn besser loslassen. Sie gehen angstfreier in die Geburt hinein, wenn sie mit der Hebamme bereits eine Beziehung aufgebaut haben.»
Marielle Camara will trotz Familie und zwei kleinen Töchtern dem Beleghebammenmodell treu bleiben. Was bewegt eine Hebamme dazu, sich für diesen Weg zu entscheiden?
«Nach einigen Jahren Berufserfahrung suchte ich eine neue Herausforderung. Ich ging immer sehr gerne als zweite Hebamme mit meiner Vorgängerin zu Geburten mit. Mir gefiel die Stimmung – sie war anders als bei den anderen Geburten im Spital! Als meine Vorgängerin ans Aufhören dachte, beschloss ich, es zu versuchen.»
Marielle Camara geniesst es, die Frauen ganzheitlich zu betreuen. Während der Schwangerschaft lernt sie das Paar mit all seinen Wünschen, Sorgen und Ängsten kennen: «Ich bin überzeugt, dass die Frauen bei Geburtsbeginn besser loslassen. Sie gehen angstfreier in die Geburt hinein, wenn alles vorbesprochen ist und wenn sie mit der Hebamme bereits eine Beziehung aufgebaut haben.»
Marielle schätzt die Möglichkeit einer ganz persönlich abgestimmten Betreuung, die sich dann im Wochenbett fortsetzt. Dort, im Zuhause der jungen Familie, findet sie ihren Abschluss: «Ich begleite die junge Familie alles in allem fast ein Jahr. Ich sehe den Weg, den sie zurücklegen und wie sie schliesslich zu einer Familie zusammen wachsen. Dass ich sie in diesem intimen, einzigartigen Moment begleiten und unterstützen darf, macht mich stolz und bereitet mir sehr grosse Freude. Denn es ist wichtig, wie wir geboren werden.»
Wie Belegärzte können auch Hebammen einem Spital angegliedert sein und die Infrastruktur der Klinik nutzen. Gleichzeitig führen sie ihre eigene Praxis und können ihre Aktivität frei gestalten.
Als Gebärende geniesst die Frau im Falle einer Geburt mit Beleghebamme das Beste aus zwei Welten: Die Geburt bleibt im Idealfall ganz intim und archaisch, nur Partner und Geburtshelferin sind mit dabei. Trotzdem fährt das Paar mit Hebamme für die Geburt ins Spital. Gibt es Komplikationen, ist das medizinische Fachpersonal der Klinik innert Sekunden im Gebärsaal. Wird ein Eingriff nötig, ist der Operationssaal gleich nebenan.
Liste nicht abschliessend, Ergänzungen sind willkommen!
Dieser Artikel erschien im Sommer 2017 zum ersten Mal. Meldet uns Inputs, Neuerungen und Korrekturen gerne an hallo@kleinstadt.ch – oder als Kommentar!