Am 25. September 2022 stimmen wir über eine Vorlage zur Stabilisierung der AHV (AHV 21) ab. Die Reform beinhaltet eine Änderung des AHV-Gesetzes und einen Bundesbeschluss über die Zusatzfinanzierung der AHV durch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer. Umfragen zeigen, dass das Ergebnis knapp werden könnte; Frauen sind eher gegen die Reform, die auch eine Erhöhung ihres Rentenalters beinhaltet; Männer eher dafür. Wir haben bei einer Frau nachgefragt, die sich sowohl mit der AHV als auch mit Frauenrechten hervorragend auskennt: Anja Peter ist Co-Geschäftsleiterin von Economiefeministe, einer Plattform für feministische Ökonomie. Sie hat zur Geschichte der letzten gelungenen AHV-Reform geforscht, ist Mutter von drei Kindern und teilzeiterwerbstätig. Wir kennen uns aus der Eidgenössischen Kommission dini Mueter, die sie mitgegründet hat. Dieses Interview ist eine überarbeitete und gekürzte Fassung eines Insta-Livetalks vom 30. August 2022.
Anja Peter, was geht mich die AHV-Reform an? Muss ich mich wirklich mit diesem abstrakten Thema befassen? Ich bin gerade 40 geworden, bis ich Rente erhalte, dauert es eh noch ewig!
Vielleicht ist es für dich weit weg, aber zumindest für Frauen aus deinem Umfeld nicht unbedingt. Frag doch einmal deine Mutter, Schwiegermutter oder sonst eine Frau im Rentenalter in deinem Umfeld, wie gut sie mit der AHV-Rente zurecht kommt. Die durchschnittliche AHV-Rente beträgt 1800 Franken, sehr viele Frauen haben darüber hinaus keine berufliche Vorsorge, weil sie als Mütter und Hausfrauen gearbeitet haben und/oder teilzeiterwerbstätig waren. Und von 1800 Franken kann in der Schweiz niemand leben. Nun soll das Rentenalter der Frauen erhöht werden, was faktisch ein Leistungsabbau ist und eine Schwächung unserer besten Sozialversicherung bedeutet – das muss uns alle interessieren. Für mich ist die AHV auch deshalb überhaupt kein abstraktes Thema.
Da bist du eine grosse Ausnahme.
Ja, das ist mir bewusst. Ich habe mich schon früh für die Ungerechtigkeiten in unserem Rentensystem interessiert, deshalb habe ich auch die 10. AHV-Reform erforscht. Die Alters- und Hinterlassenenversicherung ist ein sehr schlaues System und unsere sozialste Altersvorsorge. Gleichzeitig kostet ihr Betrieb im Vergleich zur beruflichen Vorsorge sehr wenig. Wir sollten alle Sorge zu dieser Errungenschaft tragen.
«Schon x-mal wurde vorausgesagt, dass der AHV das Geld ausgehen werde, aber es hat sich nie bewahrheitet. Das System ist schlau.»
Aber jetzt hat die AHV ein Finanzierungsproblem.
Hat sie das wirklich? Meines Erachtens ist das ein Schreckgespenst, das immer wieder bemüht wird, um die AHV zu schwächen. Schon x-mal wurde vorausgesagt, dass der AHV das Geld ausgehen werde, aber es hat sich nie bewahrheitet. Das System ist schlau: Die Renten werden durch die Lohnsumme der Erwerbstätigen gedeckt. Steigt die Lohnsumme, und das ist sie in den vergangenen Jahren, dann kann auch ein höherer Bedarf an Renten finanziert werden. Zudem machte die AHV im Jahr 2021 zwei Milliarden Franken Gewinn. Und sie verfügt über fast 50 Milliarden Franken Reserve. Die AHV braucht die Erhöhung des Frauenrentenalters gar nicht. Bis heute sind die AHV-Finanzen nicht in Schwierigkeiten geraten. Und sollte dies trotzdem dereinst passieren, gibt es andere Möglichkeiten.
Wer hat denn ein Interesse daran, die Finanzen der AHV schlechtzureden?
Die mächtige Versicherungslobby – sie profitiert von den immensen Gewinnen aus der beruflichen Vorsorge, den Pensionskassen. Deshalb ist es für sie von Interesse, die AHV zu schwächen, damit immer mehr Lohnprozente in die 2. Säule fliessen und so die Gewinne dieser Versicherungen weiter steigen.
Die AHV-Reform umfasst verschiedene Elemente, neben dem viel diskutierten Frauenrentenalter auch eine flexiblere Pensionierungsmöglichkeit und eine Erhöhung der Mehrwertsteuer. Einige dieser Punkte scheinen doch sinnvoll, nicht?
Eine Flexibilisierung des Rentenalters gegen unten für Frauen ohne finanzielle Einbussen, die in mental und körperlich anstrengenden Berufen wie der Pflege oder der Bildung arbeiten, wäre eine Errungenschaft, ja. Aber darum geht es ja nicht – es sollen alle am liebsten noch länger arbeiten.
«Frauen sind überproportional in Tieflohnsegmenten und in Branchen wie der Gesundheit und der Bildung vertreten, die körperlich und mental hoch anspruchsvoll sind. Statt ihnen die Renten noch zu kürzen, sollten sie früher mit existenzsichernden Renten in Pension gehen können.»
Und die Erhöhung der Mehrwertsteuer?
Die Mehrwertsteuer ist keine progressive Steuer, das heisst, sie ist für alle gleich hoch. Für Leute mit tiefem Einkommen ist eine Erhöhung dadurch sehr viel stärker spürbar als für Menschen mit hohem Einkommen. Deshalb auch noch einmal hier: Diese Reform geht auf Kosten jener, die jetzt schon am wenigsten haben: auf Kosten der Frauen, die die Reform mitfinanzieren mit der Erhöhung des Rentenalters. Und auf Kosten von Personen mit tiefem Einkommen, die sie mit der Erhöhung der Mehrwertsteuer mitfinanzieren – und auch dort sind Frauen überproportional vertreten.
Ich höre oft: Wir haben doch Gleichstellung – das muss sich auch im Rentenalter niederschlagen! Wenn die Frauen schon nicht ins Militär müssen, dann sollen sie wenigstens gleich lange arbeiten!
Gleichstellung heisst eben gerade nicht, dass alle genau gleich behandelt werden. Sondern, dass alle fair behandelt werden. Und von dieser Fairness sind wir noch weit entfernt. Frauen arbeiten gleich viele Arbeitsstunden wie Männer, verdienen aber 100 Milliarden weniger pro Jahr als Männer. Das ist eine unglaubliche Summe, die man sich kaum vorstellen kann! Hinzu kommt, dass Frauen überproportional in Tieflohnsegmenten arbeiten und in Branchen wie der Gesundheit und der Bildung, die körperlich und mental hoch anspruchsvoll sind. Statt ihnen die Renten noch zu kürzen, sollten sie früher mit existenzsichernden Renten in Pension gehen können.
Es gibt doch Entschädigungen, Kompensationszahlungen für die Frauen, um das auszugleichen.
Ja, die gibt es. Aber im Unterschied zur letzten geglückten Reform der AHV, die einen Leistungsausbau für die Frauen bedeutete, sind die Kompensationszahlungen diesmal lächerlich klein. Wenn man es genau anschaut, hätten von jenen Frauen, die überhaupt von Kompensationen profitieren würden – und das sind eh schon wenige Jahrgänge – nur ein minimaler Anteil gleich viel Rente als ohne die Reform. Der grosse Teil der Frauen würde Einbussen erleiden.
«Die Frage ist: Welche Interessen stehen hinter dieser Reform? Und es sind klar Interessen, die nicht auf der Seite der Frauen stehen.»
Das klingt so haarsträubend und frauenfeindlich. Wie kann so eine Reform durchs Parlament und den Bundesrat kommen?
Es ist auch haarsträubend, und die Frauenfeindlichkeit dieser Institutionen tatsächlich erschütternd. Die Frage ist: Welche Interessen stehen hinter dieser Reform? Und es sind klar Interessen, die nicht auf der Seite der Frauen stehen.
Was passiert bei einem Nein?
Es muss niemand Angst haben, dass die AHV zugrunde geht. Das Parlament hat durchaus Handlungsmöglichkeiten. Die AHV wird weiter existieren, die politische Debatte wird weitergehen. Deshalb ist es sehr wichtig, dass Frauenorganisationen, Feministinnen und Aktivistinnen bei einem Nein parat sind, um Verbesserungen bei der Rentensituation für Frauen einzufordern.
«Es ist eine absolute Frechheit, dass diese Frauen, die ihr Leben lang gearbeitet haben – als Mütter, als Hausfrauen, als Teil- oder Vollzeiterwerbstätige in ganz wichtigen Jobs im Gesundheitswesen, der Bildung oder der Kinderbetreuung – mit dieser mickrigen Rente auskommen müssen.»
Was wäre denn eine gute Reform?
Dafür müssten wir zuerst einmal anerkennen, dass Frauen gemäss jüngsten Zahlen seit Jahren über 35 Prozent weniger Rente verfügen als Männer. Wir müssten anerkennen, dass ganz viele Frauen alleine mit der AHV auskommen müssen, weil sie nie einer beruflichen Vorsorge angeschlossen waren. Viele dieser Frauen müssen dann Ergänzungsleistungen beantragen. Es ist eine absolute Frechheit, dass diese Frauen, die ihr Leben lang gearbeitet haben – als Mütter, als Hausfrauen, als Teil- oder Vollzeiterwerbstätige in ganz wichtigen Jobs im Gesundheitswesen, der Bildung oder der Kinderbetreuung – mit dieser mickrigen Rente auskommen müssen. Eine gute Reform wäre eine, die fragt, wie man die AHV als unser gerechtestes Sozialwesen stärken können. Wir müssten eine Leitplanke setzen von 4000 Franken Rente im Monat – das müsste drin liegen für uns alle, um in der Schweiz einigermassen über die Runden zu kommen.
Dann müssten wir aber doch noch einmal über die Finanzierung sprechen …
Ja. Sollte es tatsächlich eine Zusatzfinanzierung, zum Beispiel für eine Rentenerhöhung brauchen, gibt es wesentlich gerechtere Möglichkeiten: Wir könnten Lohnprozente von der beruflichen Vorsorge (BVG) weg hin zur AHV umverteilen; progressiv ausgestaltete Steuern auf Vermögen und Spekulationsgewinnen dafür einsetzen; auch die Finanzierung mit dem Vermögen der Schweizerischen Nationalbank steht als Vorschlag im Raum.
«Wenn wir zurückschauen in der Geschichte, wurden alle jene Erfolge, die Frauen erreicht haben, von Frauen gegen den Willen von Männern erstritten.»
Ich hatte kürzlich eine lange Diskussion mit einem Mann, der mir empfahl, Frauen sollten die Reform annehmen, dafür würden ihnen die Männer dann sicher anderswo entgegenkommen, zum Beispiel bei der Lohngleichheit. Wie schätzt du diese Strategie ein?
(Lacht) Sämtliche Frauen, die das lesen, werden jetzt bestätigen, dass das genau ihre Erfahrung war im Leben: Wenn ich einen Schritt entgegenkomme, bin ich das nächste Mal dran. – Ironie beiseite: Das ist leider nicht die Erfahrung, die wir machen, nicht im Leben, und schon gar nicht in der Politik. Wenn wir zurückschauen in der Geschichte, wurden alle jene Erfolge, die Frauen erreicht haben, von Frauen gegen den Willen von Männern erstritten – und nur dann, wenn die Frauen über die Parteigrenzen vereint waren. Ein Beispiel ist die 10. AHV-Reform. Da sind die Frauen hingestanden und haben gesagt: Ohne Verbesserungen für die Frauen hat diese Reform keine Chance. Und dieses Bündnis hielt, die Verbesserungen wurden erzielt. Das ist die Erfahrung, die Frauen machen.
Auch jetzt wieder zeigen Umfragen, dass die Frauen eher dagegen sind, die Männer für die Reform. Was würdest du den Männern gerne sagen?
Es geht um eure Partnerinnen, Töchter, Mütter! Überlegt euch das noch einmal – ist es wirklich gerecht, diesen Frauen die Rente zu kürzen? Es geht für die Frauen ans Lebendige.
Was ist deine Prognose für die Abstimmung?
Ich habe vor wenigen Tagen ein Gespräch mit zwei Kolleginnen geführt, die sehr pessimistisch sind und glauben, dass es nicht gut rauskommt. Aber ich sehe das anders: Natürlich kommt es gut! Es wurde schon dreimal versucht, das Frauenrentenalter zu erhöhen, dreimal wurde es mit einem hohen Anteil an Frauenstimmen abgelehnt. Ich bin nach wie vor guten Mutes, dass diese Reform abgelehnt wird und wir danach hoffentlich über die Verbesserung der Rentensituation von Frauen sprechen können – statt über weitere Verschlechterungen.
Die Plattform Economiefeministe bietet Kurse und Inputs zu Fragen rund um die feministische Ökonomie an. Ihr Faktenblatt zeigt auf, was wir rund um die Altersvorsorge von Frauen wissen sollten, unter anderem auch, wie viele Stunden Grossmütter in der unbezahlten Enkelkindbetreuung arbeiten und was für eine wirtschaftliche Leistung das ist.
Die Co-Geschäftsleiterin von Economiefeministe ist Historikerin und forschte zur Geschichte der 10. AHV-Revision. Zuvor war sie in der Gleichstellungsarbeit bei den Gewerkschaften und in der öffentlichen Verwaltung tätig.