Frühling, Bern erwacht. Gegen Sommer dann laufen die Hauptstadtbewohner zur Höchstform auf, machen Badis und Parks, Plätze und Gärten mit ihren Kindern zum zweiten Zuhause. Die Kehrseite während des Winterhalbjahrs: Muss es hier so eng, unfreundlich und grau sein? Und überhaupt: Was machen wir noch hier, wenn es woanders vielleicht interessanter, wärmer oder netter wäre? Die Antworten auf solche Fragen kennt, wer einmal längere Zeit weg war: Miriam Josi (36), Designerin, Mutter einer Tochter und Wahl-Pariserin.
Miriam, du hast zehn Jahre in Puerto Rico und New York gelebt, wohnst jetzt mit deinem Freund Fabien und deiner Tochter Léone mitten in Paris. Deine Kindheit und Jugend hast du im gemütlichen Bern verbracht. Vermisst du die Kleinstadt manchmal?
Meine Kindheit und Jugend in Bern waren wunderschön, und ich erinnere mich sehr gerne zurück. Trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen – wollte ich mehr sehen und herausfinden, wie es sich anderswo lebt. Richtig vermissen tue ich Bern nicht, auch weil ich jetzt so nahe wohne und schnell dort bin. Was mir in Paris manchmal fehlt, ist die Sauberkeit und das viele Grün.
Nach deinem Studium in New York bist du 2014 der Liebe wegen nach Paris gezogen. Hattest du den USA-Koller?
Fabien wäre auch bereit gewesen nach New York zu kommen. Wahrscheinlich hatte ich ein unbewusstes Bedürfnis, mich nach mehr als zehn Jahren USA wieder in Europa niederzulassen. Paris kann auf den ersten Blick distanziert wirken, aber ich finde die Leute hier sehr inspirierend. Sie wirken auf mich echter als Amerikaner, die Gespräche gehen tiefer und sind angeregter. New York besuche ich nach wie vor, ich arbeite dort mit einer Designerin zusammen. Obwohl ich New York liebe – den Alltag und vor allem die Subway vermisse ich nicht!
«Die Eltern hier sind etwas autoritärer als in Amerika oder der Schweiz»
Die New Yorkerin Pamela Druckerman hat vor einigen Jahren ein Buch über ihre Erfahrung als amerikanische Mutter in Paris geschrieben: In «French Children Don’t Throw Food» beschreibt sie, wie französische Mütter anders denken und handeln als ihre amerikanischen Freundinnen. Siehst du diese Unterschiede auch?
Ich habe das Buch selber nicht gelesen, werde aber immer wieder von meinen Freundinnen aus den USA oder der Schweiz darauf angesprochen. Ich finde es schwierig zu vergleichen. Was mir aber auffällt, ist, dass die Eltern hier etwas autoritärer sind als in Amerika oder der Schweiz. Den Kindern wird zudem früh viel Selbständigkeit zugetraut. Sie sind auch ein weniger grosses Gesprächsthema unter Freunden, und die Beziehung als Paar bleibt prioritär. Das mag egoistisch wirken, doch in meinen Augen ist es auch für die Kinder besser, wenn es den Eltern gut geht. Ich lese im Moment ein Buch über die Montessori-Methode, die in vielen Hinsichten mit der traditionellen französischen Erziehung im Widerspruch steht. Jeder und jede muss für sich selber herausfinden, was für sie oder ihn stimmt.
Wie gut gelingt dir und Fabien dieser Spagat, welche Freiheiten nehmt ihr euch als Paar?
Léones Grosseltern leben auch in Paris und freuen sich immer, sie mal über Nacht zu hüten. Auch meine Mutter kommt fast einmal pro Monat zu Besuch. So können wir zwischendurch etwas für uns oder mit Freunden unternehmen und am nächsten Tag richtig lange ausschlafen. Das tut gut.
«In Frankreich ist es normal, dass die Frauen drei Monate nach der Geburt wieder 100 Prozent arbeiten»
In Frankreich lässt sich der Wiedereinstieg und Alltag mit Kind dank staatlich finanzierter Kita anders organisieren als hier in der Schweiz.
Die staatliche Unterstützung hängt auch von der Lohnklasse ab, aber ein Kitaplatz ist viel günstiger als in der Schweiz. In Frankreich ist es normal, dass die Frauen drei Monate nach der Geburt wieder 100 Prozent arbeiten. Kitaplätze gibt es daher normalerweise nur für fünf Tage die Woche. Es herrscht ein ziemlicher Kampf um einen Platz in der öffentlichen Kita, vor allem in solch familienreichen Quartieren wie unserem.
Und seid ihr zufrieden mit dieser Situation?
Ich finde die Kita hier genial, die Betreuerinnen sind super ausgebildet und Léone kann sich voll ausleben. Da bezahlt man plötzlich gern Steuern. Wer keinen Kitaplatz bekommt hat andere, auch vom Staat unterstützte Alternativen, wie zum Beispiel die crèche familiale oder assistance maternelle.
Fabien führt in Paris sein eigenes Restaurant. Werfen französische Kinder tatsächlich ihr Essen nicht auf den Boden?
Essen ist hier ein gesellschaftlicher Akt und sehr wichtig. Kinder nimmt man am Mittag ins Restaurant mit, am Abend geht man lieber ohne die Kleinen aus. Sie essen schon bald das Gleiche wie Erwachsene. Léone probiert jeden Tag neue Dinge, sie wirft ihr Brot aber oft auf den Boden! Das ist auch gut so, sie ist ja erst 10 Monate alt.
«Ich finde die Kita hier genial.
Da zahlt man plötzlich gern Steuern»
In Bern und der Schweiz kann man praktisch all seine Ziele zu Fuss erreichen, und das ÖV-Netz ist kompakt, wenn auch nicht immer kinderwagenfreundlich. Wie kommst du mit Léone am schnellsten von A nach B?
Wir haben das Glück, sehr zentral zu wohnen, und können im Alltag alles zu Fuss machen. Kita, Arbeit, Markt, Restaurants, Arzt – alles ist im Umkreis von wenigen Kilometern. Für grössere Distanzen nehme ich das Velo, und wenn ich Léone dabei habe den Bus, da hat es genug Platz. Jedenfalls für französische Kinderwagen! Mir ist aufgefallen, dass die Kinderwagen in der Schweiz vergleichsweise riesig sind. Die Metro meide ich mit dem Wagen. Wenn wir aus Paris rausgehen, dann mit Zug oder Auto.
Welche Orte inspirieren dich? Und wo trinkst du am liebsten einen Café au lait und bleibst gerne noch einen Moment länger sitzen?
Ich besuche viele Ausstellungen. Meine liebsten Museen sind Palais de Tokyo, Musée du Quai Branly und das Centre Pompidou. Café au lait schmeckt in Paris an den meisten Orten übrigens furchtbar, ausser in den zahlreichen neuen trendigen Coffeeshops … Aber da ich die alten Lokale gerne mag, bestelle ich eher Espresso, der ist trinkbar. Auch Diskussionen mit Freunden, zum Beispiel beim Apéro auf der Terrasse des Hotel Providence, bedeuten mir viel.
Welche Orte in Paris empfiehlst du – solche, die auch mit einem oder mehreren Kindern praktisch sind?
Es gibt hier ein grosses kulturelles Angebot und viele Orte für Kinder, die für Erwachsene ebenso attraktiv sind. Drinnen: Fast alle Museen bieten Ateliers und Kurse an für Kinder ab 3 Jahren. Draussen: Da empfehle ich die Berges de Seine. Das autofreie Ufer entlang der Seine mit vielen Unterhaltungsmöglichkeiten ist ideal zum Spazieren und Velofahren. Der Canal Saint Martin ist auch schön und am Sonntag sowie an Feiertagen ebenfalls autofrei.
Kannst du dir vorstellen, je wieder in einer Kleinstadt wie Bern zu leben?
Vorstellen kann ich mir das auf jeden Fall, aber wohl nicht in naher Zukunft.
Miriam Josi (36) absolvierte die Parsons School of Design in New York und arbeitet heute freischaffend als Produkt-Designerin an verschiedenen Projekten. Sie kreiert Objekte, die in kleinen Serien lokal und nachhaltig in Paris oder New York hergestellt werden – wie zum Beispiel Kerzenständer für Cire Trudon oder ein faltbarer Pflanzentopf für The Garden Apartment.
Website von Miriam Josi: miriam-josi.com