Edith Vanoni bot uns am ersten Elternabend vor dem Kindergartenstart das Du an und sagte: «Ich verstehe unsere Zusammenarbeit als Partnerschaft.» Damals fand ich das eine schöne Geste. Erst jetzt, zwei Jahre später, verstehe ich, wie viel ihr Wirken und ihre Inputs zur gesunden Entwicklung unseres Sohnes beigetragen haben. «Frau Vanoni», wie sie die Kinder nennen, scheut keinen Aufwand: Die Kinder sollen möglichst viel entdecken und daran wachsen dürfen. Von Mosten bis Theaterspielen, von Schneemannfilzen bis zum Mehlmahlen, Natur erleben und Purzelbaumkindergarten ermöglicht sie den Kindern immer wieder Selbsterfahrung und Selbsterforschung, während sie einen Entstehungsprozess hautnah erleben.
Am meisten schätze ich Edith Vanonis psychologische Beobachtungsgabe. Dank ihrer langjährigen Erfahrung entgeht ihr nichts. Gleichzeitig bleibt sie objektiv. «Mühsame» Kinder, die den Unterricht stören, gibt es für sie nicht. Während unserem Interview schildert sie mir, wie sie als junge Frau aus dem Appenzellerland ihren kleinen Neffen auf dem Arm hielt. Ihr wurde bewusst, dass die Persönlichkeit schon angelegt war. Von da an verstand sie ihre Aufgabe als Kindergärtnerin darin, die Entfaltung dieser jungen Menschen zu fördern und zu begleiten.
Edith, du bist seit über 40 Jahren Kindergärtnerin: Unterscheiden sich die Kinder von heute von denen von früher?
Die Kinder von heute unterscheiden sich stark von denen von früher. Kinder waren früher viel stiller. Sie trauten sich weniger, sich zu äussern. Heute reden die Kinder gerne und haben einen viel differenzierteren Wortschatz als früher. Dafür hatten die Kinder früherer Generationen mehr Ausdauer und waren fein- und grobmotorisch geschickter, weil sie Flick- oder Näharbeiten bei ihren Eltern zu Hause abschauen konnten.
Ganz allgemein waren die Kinder mehr von ihrem Umfeld geprägt. Heute prägen die digitalen Medien sie stark. Manchmal sehen mich die Kleinen verständnislos an, wenn ich sage: «Die Fäden der Webarbeit muss ich noch vernähen.» Ich fördere deshalb im Kindergarten gern die motorische Geschicklichkeit.
Wo siehst du ganz konkrete Unterschiede?
Früher zeichneten alle Kinder eher das Gleiche: oft ein Häuschen mit Kamin und Rauch, der aufstieg. Und immer einen Boden- oder Rasenstreifen und einen Himmelstreifen mit Sonne und ein paar V-Vögeln. Heute sind die Zeichnungen viel abwechslungsreicher und fantasievoller. Dafür haben die Kinder wiederum weniger Ausdauer beim Ausmalen.
«Die Kinder dürfen viel mitbestimmen. Aber dabei müssen sie mich auch spüren. Sie brauchen die Gewissheit, dass ich sie an der Hand nehme und führe.»
Hast du das Gefühl, wir erziehen heute auch anders?
Die Normen gaben früher fast alles vor. Es gab im Grunde nur eine Version von Erziehung, und sicher stand das Kind dabei weniger im Zentrum. Heute beobachte ich, dass es viele Modeströmungen gibt, die die Eltern zum Teil überfordern. Es ist noch nicht so lange her, da waren die Kinder schon früh auf sich alleine gestellt. Jetzt versuchen wir manchmal zu sehr, sie vor Gefahren zu schützen. Das hat die Kehrseite, dass sie nicht mehr so viele Erfahrungen alleine oder mit ihren Gspänli machen dürfen.
Stehen die Kinder im Kindergarten im Zentrum?
Ich selbst pflege eher einen demokratischen Stil im Kindergarten. Die Kinder dürfen viel mitgestalten und -bestimmen. Aber dabei müssen sie mich auch spüren. Sie brauchen die Gewissheit, dass ich sie an der Hand nehme und führe.
Du bist Kindergärtnerin mit Leib und Seele. Hat der Beruf für dich nie den Reiz verloren?
Als junge Kindergärtnerin befürchtete ich, dass ich diese Belastung nicht ein Berufsleben lang durchhalten würde. Dann lernte ich 1993 an einer Weiterbildung bei der Freien Pädagogischen Vereinigung die anthroposophische Pädagogik kennen und damit eine andere Sicht aufs Kind. Dank dieser Betrachtungsweise habe ich die Freude und das Interesse an meinem Beruf nie verloren. Seit 1994 besuche ich jedes Jahr im Herbst diese Kurswoche in Trubschachen. Sie bringt meine Leidenschaft jedes Mal zurück.
«Ich bin dankbar, habe ich eigene Kinder. Ich weiss, als Eltern kann man nicht immer alles richtig machen.»
Was befeuert denn diese Leidenschaft?
Ich entdeckte damals, dass das Kind im Zentrum stehen durfte. So begann ich beispielweise, mit den Jahreszeiten zu gehen und jene Handarbeiten in den Kindergarten einzubringen, die dazu passen. Weil ich weiss, wieso ich beispielsweise mit ihnen webe oder filze, den Hampelmann übe oder in den Wald gehe, kann ich es auch immer wiederholen.
Und was ist der Reiz an den Wiederholungen?
Jedes Kind geht anders an die Arbeit heran. Es geht um den Prozess, nicht um das Produkt. Die Kinder sind aktiv dabei, kommen in den Flow. Mit dieser Betrachtungsweise bleibt es für mich immer spannend.
Dir ist das Beobachten der Kinder in Bezug auf ihre kognitive, sprachliche, soziale, grob- und feinmotorische Entwicklung sehr wichtig. Wieso?
Ich verfolge die Entwicklung anhand eines anthroposophischen Vorgehens und kann frühzeitig abwägen, falls das Kind mehr Unterstützung braucht. Das Wichtigste ist für mich, zwischen Beobachten und Beurteilen zu unterscheiden. Ich benutze dazu einen Fragenkatalog und beginne mit dem Betrachten von Äusserlichkeiten: Wie sind die Haare, die Haut, die Augen, Hände, Füsse? Wie ist die Körperhaltung und -spannung? Von da weite ich den Blick immer weiter aus – zur Sprache, zum Sozialverhalten, zur Fein- und Grobmotorik, zur Art, wie das Kind Aufträge ausführt oder sich Einzelheiten merken kann.
«Es ist immer ein Abwägen: Wo braucht das Kind besondere Unterstützung? Bei vielen Auffälligkeiten kann man sagen: Das entwickelt sich noch.»
Kannst du ein Beispiel nennen?
Ich nehme mir beispielsweise mal während einer Turnlektion vor, zu schauen, wie die Kinder den Ball fangen. Dann schaue ich, ob sie dem Ball mit den Augen folgen? Was machen dabei die Hände, Füsse, der Mund und die Zunge? Wenn andere Körperteile stark mitmachen, redet man von persistierenden kindlichen Reflexen. Das ist nicht weiter tragisch. Diese Reflexe erzeugen aber Spannung im System und brauchen Energie.
Was hat das für Auswirkungen?
Viele dieser Reflexe ergeben sich mit der Zeit von selbst. Wenn aber mehrere solche ungewollte Aktionen zusammenkommen, kann dies für den weiteren Lernprozess hinderlich sein. Dann schaue ich genauer hin und versuche zu ergründen, was dahintersteht und wie wir diese unbewussten Gewohnheiten ablegen können.
Und wann wird es problematisch, sprich: Wann muss ein Kind abgeklärt werden?
Es ist immer ein Abwägen: Wo braucht das Kind besondere Unterstützung? Bei vielen Auffälligkeiten kann man sagen: Das entwickelt sich noch. Da kommt mir bei der Einschätzung meine langjährige Erfahrung zu Gute.
«Wenn ein Kind viel Aufmerksamkeit benötigt, kommen wir schnell an unsere Grenzen. Die Gefahr besteht, dass wir niemandem mehr ganz gerecht werden.»
Wird heute deiner Meinung nach zu schnell eine Diagnose z.B. auf eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung gestellt?
Ohne zu politisch zu werden, ist es mir wichtig zu sagen: Ohne eine Diagnose hat man als Kindergartenlehrperson nicht die Möglichkeit, zusätzliche Ressourcen anzufordern. Wir sind schon so im Kindergarten personell völlig unterdotiert. Wenn ein Kind viel Aufmerksamkeit benötigt, kommen wir schnell an unsere Grenzen. Die Gefahr besteht, dass wir niemandem mehr ganz gerecht werden. Es ist verrückt, dass man als Lehrperson im Zyklus 1 mit so vielen Kindern allein ist. Unter Umständen verpasst man frühe Anzeichen und das Kind leidet unnötig.
Also siehst du keinen «Diagnose- oder Abklärungswahn»?
Ich erachte die Abklärungen als Fortschritt. Früher schaute man nicht so differenziert hin und manche Kinder fielen vor allem später in der Schule durch die Maschen. Als Lehrperson war man früher auch Alleinherrscherin. Man liess sich nicht in die Karten schauen. Heute ist immer mal wieder eine andere Fachperson anwesend. Mit Heilpädagog:innen, Logopäd:innen, Praktikant:innen und anderen Lehrpersonen haben ich viele Ansprechpartner:innen und bin ständig im Austausch. Ich finde, so werden wir heute den Kindern besser gerecht.
«Der Kindergarten bedeutet für Eltern auch, dass eine weitere Bezugsperson ausserhalb der Familie in das Leben des Kindes tritt. Diese Person wird für das Kind wichtig sein.»
Am ersten Elternabend sagtest du, die Zusammenarbeit zwischen Eltern und Kindergärtnerin sei eine Partnerschaft. Was können die verschiedenen Partner:innen zum harmonischen Zusammenspiel beitragen?
Gegenseitige Offenheit scheint mir das Wichtigste. Und auch Wohlwollen. Ich begrüsse es beispielsweise sehr, dass Eltern bei mir nachfragen, wenn das Kind etwas Negatives aus dem Kindergarten erzählt hat. Ich versuche, es dann für sie einzuordnen und ihnen zu schildern, was genau vorgefallen ist. Das heisst, wenn ich es kann – ich bekomme ja auch nicht alles mit.
Beide Seiten brauchen Offenheit für unterschiedliche Wahrnehmungen und das Vertrauen, dass alle es immer gut meinen, auch wenn wir Fehler machen. Ich bin dankbar, habe ich eigene Kinder. Ich weiss, als Eltern kann man nicht immer alles richtig machen.
Ich beobachte, dass eigentlich alle Eltern sehr offen sind. Sie erzählen an Elterngesprächen gerne von ihren Kindern und den innerfamiliären Beziehungen. Für mich ist das hilfreich. Ich höre dann möglicherweise heraus, wo ich gezielter hinschauen oder helfen kann.
Gibt es etwas, das du den Eltern, deren Kinder diesen Sommer in den Kindergarten kommen, mitgeben möchtest?
Ja. Loslassen! (lacht) Der Kindergarten bedeutet für Eltern auch, dass eine weitere Bezugsperson ausserhalb der Familie in das Leben des Kindes tritt. Diese Person wird für das Kind wichtig sein. Dann bleibt zu hoffen, dass die Beziehung zur Lehrperson eine glückliche wird. Wenn es aber nicht so ist, dann ist das kein Grund zum Verzweifeln: Schwierige Beziehungen gehören auch zum Leben.
«Wenn mich ein Kind irritiert, dann frage ich mich: Was habe ich von dem Kind heute wahrgenommen? Wie hat es was gemacht? Das Beobachten hat etwas Versöhnliches.»
Also einfach akzeptieren, weil man es sowieso nicht ändern kann?
Ich finde es wichtig, dass sich trotzdem immer alle Beteiligten Mühe geben. Ich habe nicht zu allen Kindern den gleich guten Draht. Für mich gehört es aber zu meiner Professionalität, dass ich mich um jedes Kind bemühe.
Auch da hilft mir zum Beispiel der anthroposophische Fragebogen: Wenn mich ein Kind irritiert, dann frage ich mich: Was habe ich von dem Kind heute wahrgenommen? Wie hat es was gemacht? Wie hat es sich bewegt? Das hilft mir wiederum nicht zu werten, sondern einfach nur wahrzunehmen. Das Beobachten hat etwas Versöhnliches. Ich lasse den Film vor meinem inneren Auge ablaufen und nehme mich raus. Am Ende muss ich meist schmunzeln.
Was, wenn die Chemie einfach nicht stimmt zwischen Kind und Lehrperson – oder zwischen Eltern und Lehrperson?
Wenn die Beziehung zur Kindergartenlehrperson tatsächlich belastet ist, dann rate ich unbedingt, nicht vor dem Kind negativ über die Lehrerin oder den Lehrer zu sprechen. Das führt schnell zu einem Solidaritätskonflikt für das Kind. Oft lohnt es sich, der Lehrperson gegenüber Interesse zu zeigen und nicht voreingenommen zu sein. Vielleicht klären sich Missverständnisse und die Situation wird leichter.
Falls das Kind wirklich leidet, sollte man das als Eltern natürlich ernst nehmen. Ich habe allerdings schon oft erlebt, dass eine Lehrperson dem Kind sehr guttun kann, auch wenn die Eltern nicht so begeistert sind. Die Kindergärtnerin meiner Tochter war beispielsweise anfangs nicht so mein Fall. Aber für die Entwicklung meiner Tochter war sie eindeutig eine Bereicherung.
*Elisa Malinverni ist Yogalehrerin und Autorin in Bern. Sie hat zwei Kinder. Ihr Sohn hat den Kindergarten bei «Frau Vanoni» besucht. womb.ch
**Tabea Reusser ist Fotografin in Thun. Sie ist Mutter dreier Söhne. tabeareusser.ch