Dieser Beitrag erschien erstmals im Januar 2021.
Sabrina Leo, wann haben Sie zum letzten Mal ein Kind, das noch nicht selber frei laufen konnte, an der Hand geführt?
Das war bei meiner erste Tochter, die unterdessen 14 Jahre alt ist. Nachdem meine zweite Tochter zur Welt kam, las ich ein Buch «Lasst mir Zeit» von Emmi Pikler. Sie war Kinderärztin und hat von 1946 bis 1979 in Ungarn ein Waisenhaus geleitet – und den Ausdruck der «freien Bewegungsentwicklung» geprägt. Bei dieser Lektüre ging mir ein Licht auf, warum es so wichtig ist, dass Kinder die Erfahrung selber machen dürfen. Danach habe ich damit aufgehört, Kinder an der Hand zu führen, wenn sie noch nicht selber gehen konnten.
«Erst wenn Kinder Vertrauen in eine Fähigkeit entwickelt haben, kommt die nächste dran.»
Was hat Sie so angesprochen an diesem Ansatz?
Vor 11 Jahren trat ich eine Stelle als Kitaleiterin in einer Kita an, die vorher von einer Emmi-Pikler-Pädagogin geführt wurde – und ich war hell begeistert! Die Ausgangslage war ideal: Das Personal war bereits auf den Pikler-Ansatz geschult, das entsprechende Pikler-Bewegungsmobiliar stand zur Verfügung, die Mitarbeiterinnen haben mich gut eingeführt, es war für mich wie eine Erleuchtung!
Bei Pikler fasziniert mich insbesondere, wie sorgfältig und genau sie ihre Beobachtungen dokumentiert hat. Beispielsweise hat sie herausgefunden, dass Kinder 90 Prozent der Zeit pro Tag etwas üben, was sie schon können. Nur 10 Prozent ihrer Zeit nutzen sie, um Neues zu entdecken. Das heisst, erst wenn sie Vertrauen in eine Fähigkeit entwickelt haben, kommt die nächste dran. Mich spricht auch an, dass dieser Ansatz vom Kind ausgeht und Pikler deshalb so stark für das Beobachten plädiert hat. Wir können so viel mehr erkennen im Beobachten als im reaktiven Handeln. Ist mein Kind angespannt? Was braucht es, damit es sich entspannen kann? Ist es gerade zufrieden vergnügt am forschen? Dann braucht es nur meine Präsenz.
Wie haben ihre eigenen Kinder auf diese Prinzipien reagiert?
Mein drittes Kind wurde geboren, als ich in dieser Kita gearbeitet habe – er ist ein richtiges Pikler-Kind, was seine Bewegungsentwicklung angeht. Er hat nie nach Hilfe beim Bewegen oder Klettern verlangt und seine Grenzen sehr gut gespürt, das hat mich sehr beeindruckt.
«Wenn der Muskel schon früh etwas leisten muss, das er nicht kann, verspannt er sich – dass sich Verspannungen auf den Körper und die Gesundheit auswirken, ist bekannt.»
Und wie haben die Eltern ihrer Kita-Kinder das empfunden?
Wir haben die Entwicklungsschritte der Kita-Kinder oft mit Bildern und Videos dokumentiert, und den Eltern hat das Konzept auch eingeleuchtet, sie waren immer sehr froh um diese Impulse und Inputs.
Heisst denn freie Bewegungsentwicklung einfach keine Intervention von Seiten der Betreuungsperson?
Freie Bewegungsentwicklung bedeutet, dass das Kind die Bewegungen in seinem Tempo aus sich heraus und ohne Hilfe von aussen erlernen kann. Es wird also nicht in seiner Bewegungsentwicklung manipuliert, nicht in Positionen gebracht, die es noch nicht selber einnehmen kann. Die Kinder werden allerdings nicht einfach alleingelassen, sondern immer gut beobachtet. Dazu erhalten sie auch eine vorbereitete Umgebung, in der sie die nächsten Schritte eigenständig vollziehen können. Die Betreuungsperson beobachtet und ist präsent, benennt beispielsweise, wenn ein Kind frustriert ist, greift aber dann nicht ein oder zeigt die Bewegung nicht vor. Vorzeigen oder Erklären macht die Kinder noch unsicherer.
Ein Baby regelmässig in Bauchlage zu bringen wird heute noch von Expertinnen empfohlen – was soll daran falsch sein?
Ich sage nicht, dass ein Baby nie von den Eltern in Bauchlage gebracht werden soll. Was ich meine ist: Beobachten Sie Ihr Kind! Nehmen Sie wahr, ob sein Körper angespannt ist oder entspannt. Fühlt es sich wohl in der Bauchlage? Es gibt beispielsweise Kinder, die nur in Bauchlage schlafen – dann sollen sie das unbedingt tun! Vertrauen Sie Ihrem Gefühl – wenn es dem Kind gut tut, dann lassen sie es. Ich bin da nicht so extrem, wie es beispielsweise Emmi Pikler war. Die meisten Bébés sind unwohl in Bauchlage – auch wenn mir das jemand empfiehlt, würde ich mich also auf meine Beobachtung verlassen. Denn wenn der Muskel schon früh etwas leisten muss, das er nicht kann, verspannt er sich – dass sich Verspannungen auf den Körper und die Gesundheit auswirken, ist heute bekannt.
Welche anderen Interventionen in die freie Bewegungsentwicklung durch Eltern beobachten sie oft?
Ganz wichtig ist für mich die Erkenntnis, dass Eltern es nicht aus einem negativen Gedanken heraus tun, wenn sie eingreifen – sondern ihr Kind gerne unterstützen und ihm helfen möchten. Wir kennen es doch alle, dass wir fast nicht mit anschauen können, wenn ein Kind etwas probiert und nicht schafft! Dann ist die Verlockung, ein «Müpfli» zu geben, wenn es sich drehen will, enorm gross. Aber eigentlich ist es doch schade, dass das erste Erlebnis eines Kindes mit Hilfe passiert – damit verwehren wir ihm nämlich auch das wichtige Erfolgserlebnis «Ich schaffe es aus eigener Kraft!» Am häufigsten beobachte ich, dass Kindern beim Drehen geholfen wird, oder beim Sitzen und Laufen lernen.
«Wir kennen es doch alle, dass wir fast nicht mit anschauen können, wenn ein Kind etwas probiert und nicht schafft!»
Womit hat das zu tun?
Einerseits sicher mit der erwähnten «Hilfe», die wir leisten wollen. Andererseits hat das aber auch mit fehlendem Wissen zu tun: Die meisten Eltern kennen beispielsweise die vielen Zwischenstufen der Bewegungsentwicklung nicht, beispielsweise der seitliche Ellbogenstütz, der abgestützte Seitsitz, der Knie-Händestütz und der Kniestand, um nur ein paar zu nennen. Ich habe beispielsweise noch niemanden gehört, der sagt: «So jetzt mach mal den Bärengang!», oder der sein Kind in den seitlichen Ellbogenstütz gebracht hat.
Und woran merken Sie, dass ein Kind in der Bewegungsentwicklung manipuliert wird?
Im Sitzen kann man es sehr gut beobachten: Ein Kind, dass noch nicht von sich aus sitzen kann, versteift sich im Rücken und im Becken, dann plumpst es vielleicht um. Wenn Eltern sagen, dass ihr Kind nie gekrabbelt ist, hat das oft damit zu tun, dass es nicht selber sitzen gelernt hat. Bei vielen Kindern kommt das Krabbeln und sich Hochziehen in der Entwicklung vor dem Sitzen. Wenn Kinder von den Eltern zum Sitzen gebracht werden, sind sie viel länger in der sitzenden Position, als sie es sonst wären, und können nicht mehr selber aus der Position heraus. Beim Laufen sieht man manchmal Kinder, die die Arme in die Luft halten, die Hüfte nach vorne geschoben, etwas steif, mit hohlem Kreuz. Auch daran kann man entdecken, dass die Bewegungsentwicklung nicht frei war.
Welche Folgen hat es für Kinder, wenn sie in ihrer Bewegungsentwicklung nicht frei sind?
Die Muskeln sind dann für die ausgeführten Bewegungen noch nicht bereit, Gelenke und Wirbelsäule können Schaden nehmen. Diese Wägeli beispielsweise, in welchen die Kinder sitzend herumrollen können – man vergisst, dass sich die Hüftgelenke und die Muskulatur zuerst aufbauen müssen, damit das Kind das schafft. Dazu kommt die emotionale Komponente: «Ich brauche Hilfe! Ich schaffe es nicht alleine!» Solche Glaubenssätze können einen manchmal ein Leben lang begleiten und machen uns abhängig – auch bei anderen Themen, die nichts mit der Bewegung zu tun haben.
«Ich brauche Hilfe! Ich schaffe es nicht alleine! – Solche Glaubenssätze können einen ein Leben lang begleiten.»
Was empfehlen Sie denn stattdessen?
Wenn man einem Kind die Freiheit lässt, seine Bewegungsentwicklung selber zu durchlaufen, gibt man ihm auch eine Zuversicht mit, dass es von sich aus kompetent ist. Das ist ein riesiges Geschenk! Ich kann mit dem Kind seine Freude teilen, präsent sein und gut beobachten, das ist für Kinder sehr wichtig: «Ich habe dich gesehen, Du hast wieder etwas Neues gelernt!» Unterstützung bedeutet für mich also eher, dem Kind mit Blicken, Freudeteilen und Anteilnahme das Gespür zu vermitteln, dass es gesehen wird. So wird die sichere Bindung und das Selbstvertrauen des Kindes gestärkt.
Welches sind Ihre wichtigsten Tipps an Eltern von Babys?
Wenn man ein Kind bisher beim Bewegen unterstützt hat: Ich empfehle den Eltern, nicht gleich alle Hilfe «wegzunehmen» und stattdessen die Hilfestellungen langsam zu reduzieren und das Kind bewusst zu begleiten. Schliesslich geht es darum, eine Rückverbindung zum eigenen Gefühl im Körper zu finden. Zu überlegen: «Was würde ich machen ich, wenn ich keine Tipps von aussen hätte?» Das Kind beobachten: Ist es angespannt, entspannt, möchte es Nähe? Und ebenso wichtig: sich selber zu beobachten: «Welche Bedürfnisse habe ich, bin ich angespannt, habe ich Ängste? Möchte ich, dass es schneller geht, bin ich ungeduldig?» Es geht um die Wahrnehmungsschulung bei sich selber und beim Kind. Und dann dem Kind Zeit lassen! Bébés sind langsam, sie brauchen sehr viel Zeit. Nicht drängen, nicht animieren, das ist wichtig.
«Einem Kind die Zuversicht mitgeben, dass es von sich aus kompetent ist, ist ein riesiges Geschenk!»
Zudem ist Babymassage sehr zu empfehlen, denn über die Haut können Babys ihren Körper und dessen Grenzen gut wahrnehmen lernen, und das Kind kann ein Körperbild von sich entwickeln. Wenn ein Kind seinen Körper spürt, wo er beginnt und aufhört, nimmt es das auch mit in die Bewegungsentwicklung. Zudem ist Babymassage auch gut für die Eltern, die sich dabei selber entspannen können und ihr Kind beobachten lernen.
Was hilft sonst noch?
Die Klassiker: Nähe, Tragen, Berührung, ungeteilte Aufmerksamkeit. Und überhaupt: mehr Beobachten, weniger Tun! Das Gras wächst nicht schneller, wenn man dran zieht – dieser Satz klingt zwar abgelutscht, aber er passt sehr gut zu diesem Thema. Dank Remo Largo ist es heute vielen Menschen klar, dass es beim Entwicklungstempo ein grosses Spektrum gibt – ein gesundes Kind braucht keine Unterstützung beim Laufenlernen, ja überhaupt in seiner Bewegungsentwicklung. Bei Kindern mit physischer oder geistiger Beeinträchtigung ist es anders, das muss man sicher mit einer Fachperson anschauen, aber auch da wäre ich vorsichtig mit ständigem mobilisieren und «fördern».
«Probieren Sie mal das Wickeln im Stehen aus!»
Und bei Kleinkindern?
Je grösser und mobiler Kinder werden, desto mehr Möglichkeiten haben sie. Dazu kann das Mobiliar angepasst werden. Etwas ganz Tolles ist das Konzept des «Entdeckungsraums». Das sind Räume, die speziell mit Pikler-Mobiliar und anderen «Forschungsobiekten» ausgestattet sind, dort gibt es geleitete Eltern-Kind Gruppen. Entdeckungsräume gibt es zum Beispiel in Bern und in Köniz, weitere Angebote in der Schweiz sind hier aufgelistet.
Ein weiterer sehr guter Ort für kleine Kinder ist der Wald. Der unebene Boden dort und die Klettermöglichkeiten helfen, den Gleichgewichtssinn zu trainieren.
Was ich Eltern von Kindern, die stehen können, auch ans Herz lege: Probieren Sie mal das Wickeln im Stehen aus! Viele Kinder bevorzugen diese Variante, weil sie aktiver mitmachen können und sich nicht so ausgeliefert fühlen. Es gibt hierfür spezielle Pikler-Wickelaufsätze, auf denen die Kinder sicher sind und wo sie sich festhalten können – man kann aber ebensogut am Boden wickeln, irgendwo, wo sich das Kind im Stehen festhalten kann. In einer Pikler-Kita hat der Wickeltisch eine kleine Treppe, so dass das Kind selber hochsteigen kann. Ich habe dort kaum Kinder erlebt, die sich beim Wickeln gewehrt haben.
Ist die freie Bewegungsentwicklung auch im Kindergarten- und Schulalter noch relevant? Worauf sollte man in diesem Alter achten?
Die Menge an Bewegung nimmt in der Schulzeit leider stark ab. Wenn eine Lehrperson nicht bewegungsaffin ist, haben die Kinder oft zu wenig Bewegung. Zu lange auf dem Stuhl zu sitzen ist problematisch – es bräuchte eigentlich fast überall in unserem Schulsystem mehr Bewegung! Denn bis ins Alter von mindestens 7 Jahren ist Bewegung für Kinder essenziell, darüber bilden sich nachher auch die Fähigkeiten zum Schreiben und Rechnen aus. Zu wenig Bewegung kann also später zu schulischen Problemen führen.
«Es bräuchte eigentlich fast überall in unserem Schulsystem mehr Bewegung.»
Für Eltern älterer Kinder gibt es sicher die Möglichkeit, dass sich ein Kind eine Sportart auswählen darf, die ihm gefällt oder zuhause eine Bewegungsecke einzurichten. Wichtig ist auch, selber ein Vorbild zu sein, zuhause beispielsweise Yoga zu machen oder zu tanzen. Meine Kinder zum Beispiel kommen dann von sich aus dazu und machen mit.
So ist es dann auch mit anderen Sportarten wie Schlittschuhlaufen oder Skifahren. Wenn die Eltern diese Sportarten lieben, werden sie die Kinder mit grosser Wahrscheinlichkeit auch gerne ausprobieren. Und wenn nicht, dann bitte nicht dazu überreden oder sogar zwingen. Denn das Wichtigste ist immer und überall die Freude an der Bewegung!
Sabrina Leo hat vier Kinder und lebt in Nidau bei Biel. Sie bietet unter anderem körperzentriertes Coaching und Massagen an. Website Sabrina Leo.