Im August 2019 hat die Unico-Schule in Bern die ersten Kinder empfangen. Co-Gründerin Aurelia Haag* erzählt vom Ansatz des selbstbestimmten Lernens, wie man den Entwicklungsstand der Kinder ohne Noten einschätzt und warum die Schule viel Zeit in den Umgang mit Konflikten investiert.
Aurelia Haag, in Ihrer Schule unico lernen die Kinder selbstbestimmt. Heisst das, sie machen einfach die ganze Zeit, was sie wollen, nach dem Prinzip «Laisser faire»?
Das ist ein häufiges Missverständnis. Selbstbestimmtes Lernen ist kein Laisser-faire, die Kinder können in der Schule nicht einfach machen, was sie wollen. In langbestehenden demokratischen Schulen gibt es teilweise sehr viele Regeln zum sozialen Zusammenleben – aber keine fürs Lernen! Die Kinder brauchen Unterstützung der Erwachsenen, um solche Regeln etablieren zu können – vorallem in der Phase des Schulaufbaus und der Kulturentwicklung.
«Selbstbestimmtes Lernen ist kein Laisser-faire.»
Wie funktioniert denn selbstbestimmtes Lernen?
Das selbstbestimmte Lernen, wie wir es verstehen und fördern, passiert in der eigens gewählten und von innen heraus motivierten Aktivität des Kindes. Der Lehrplan 21 bietet uns einen Rahmen, der uns in unseren Lernangeboten und für das Einrichten der Lernumgebung inspiriert und als Leitplanke dient. Die Kinder entscheiden letztendlich aber selbst, mit welchen Elementen sie sich auseinandersetzen. Da sie durch ältere Kinder oder durch uns Erwachsene immer wieder in Kontakt mit neuen Themenfeldern kommen, erhalten sie eine Ahnung, mit was man sich noch beschäftigen könnte. Dann tauchen sie bewusst oder unbewusst ein in eine selbst gewählte Tätigkeit und verfeinern dabei ihre Fertigkeiten. Es geht dabei darum, sich die Welt immer besser zu erschliessen.
Wie können wir uns den Lernalltag in einer demokratischen Schule vorstellen?
Eine demokratische Schule sieht ein bisschen aus wie ein «Kindergarten für Grosse». Es gibt viele Nischen, wo es Material zur Beschäftigung mit unterschiedlichen Themenbereichen gibt. Gewisse Lernangebote sind einmalig, zum Beispiel eine Geschichte, bei der zuhören kann, wer will. Es gibt aber auch längerfristige Lernangebote für Kinder ab der dritten Klasse, wo sich die Kinder für mehrwöchige Themenblöcke anmelden, die dann verpflichtend sind.
Zudem experimentieren wir mit Quartalsthemen, welche die Lernbegleiter für ihre Lernangebote inspirieren. Grundsätzlich lernen die Kinder in altersdurchmischten Gruppen, aber es gibt Angebote, die eher ältere Kinder ansprechen und andere eher für die Jüngeren. Die ganz Kleinen beginnen ihre Schulzeit aber in einer kleinen Gruppe in beschränkten Räumlichkeiten, da sie mit dem ganzen Angebot sonst überfordert sind. Egal wie alt die Kinder sind, bei uns wird viel frei gespielt und diskutiert, aber es werden auch grosse Projekte umgesetzt, wie beispielsweise einen Restaurantbetrieb führen oder ein Theaterstück veranstalten.
Was sind denn die grössten Unterschiede zur Volksschule?
Wir haben keinen Fächerplan bei uns. Es gibt auch keine Hausaufgaben, keine Noten, und keine Vorstellung, wie Kinder etwas lernen sollen. Wir haben bei uns beispielsweise ein Kind, das Harry Potter liest, aber nur in Grossbuchstaben schreibt. Das ist für unser Konzept kein Problem, da das Kind nicht in ein bestimmtes Schema passen muss – wir sind überzeugt, dass dieses Kind seinen Weg bezüglich der Schrift in seinem Tempo machen wird. Und wichtig ist für uns: Lernen findet nicht nur in der Schule statt! Wir zeigen auf, was auch ausserhalb des Schulalltags alles gelernt werden kann. Einmal pro Woche machen wir einen Ausflug in den Wald oder in die Stadt, in ein Museum oder nutzen den ÖV und lernen dort auch Fähigkeiten für den Alltag, wie beispielsweise, den Fahrplan zu lesen oder Billette zu lösen.
Ich denke, der grösste Unterschied liegt in der Haltung von Begleitpersonen und Eltern: Wir halten uns an das Motto: «Ich muss nichts ins Kind hineinbringen, sondern unterstütze das, was reif ist und aus dem Kind herauskommt.»
«Wichtig ist für uns: Lernen findet nicht nur in der Schule statt!»
Das klingt jetzt sehr harmonisch. Gibt es an ihrer Schule auch Konflikte? Und wenn ja, wie gehen Sie damit um?
(lacht) Ja, Konflikte sind auch bei uns alltäglich! Der sorgfältige Umgang mit Konflikten ist für uns ein zentraler Punkt, dem wir eine hohe Bedeutung beimessen und in den wir viel Zeit investieren. Wir bemühen uns, gewaltfrei zu kommunizieren und versuchen gute Lösungen für alle zu finden. Nur wenn sich ein Kind an einem Ort geborgen fühlt und eine gute Bindung zu seinen Bezugspersonen aufbauen kann, kann es sich entwickeln und lernen. Wir orientieren uns dabei am Modell des «Liebevollen Alpha» des kanadischen Entwicklungspsychologen Dr. Gordon Neufeld («Unsere Kinder brauchen uns», 2004).
«Konflikte sind auch bei uns alltäglich! Der sorgfältige Umgang mit Konflikten ist für uns ein zentraler Punkt, in den wir viel Zeit investieren.»
Wie sieht das konkret aus?
Wir versuchen im Konfliktfall, in der Beziehung zu bleiben, vermeiden es, psychischen Stress beim Kind auszulösen und übernehmen trotzdem Führung. Das ist natürlich manchmal schwierig, und auch wir schaffen es nicht immer, unsere Gelassenheit zu behalten. Auch Rituale helfen uns sehr, Konflikten vorzubeugen. Oder wir versuchen – wenn wir beispielsweise aus Erfahrung wissen, dass an einem gewissen Zeitpunkt oft Streitereien auftauchen – die Kinder vor der Situationen daran zu erinnern und ihre guten Absichten zu wecken. Konflikte sind also auch bei uns «daily business», es gilt, immer präsent zu sein und immer wieder neu herauszufinden, was gut funktioniert.
Was ist mit all dem Stoff, den kaum ein Kind mit viel Begeisterung lernt, den man aber für gewisse Fächer später einfach als Grundlage braucht?
Wenn ein Kind die Bedeutung eines Faches oder Themengebietes für sich erkennt, kann es innerhalb kurzer Zeit ganz viel lernen. Wir probieren diesbezüglich, den Druck wegzunehmen. Und: Wenn Themen gut verpackt werden, lassen sich die meisten Kinder gut motivieren.
Wie funktioniert dann der Übergang ins Regelsystem? Also wenn ein Kind danach eine weiterführende Schule oder eine Lehre besucht – hat es dann den Stoff, oder muss es da vieles aufholen?
Wenn jemand zurück ins Volksschulsystem wechseln will, sagen wir den Eltern, dass es ein halbes Jahr Vorlaufzeit braucht. In dieser Zeit wird allfällig fehlender Stoff mit dem Kind nachgeholt. Wir selber haben mit dem Übertritt an weiterführende Schulen noch keine Erfahrungen, hören aber von anderen Schulen, dass Kinder, die bereit sind, es problemlos schaffen. Sie sind motiviert und klemmen sich dahinter. Die meisten Kinder haben im Alter, in welchem sie eine weiterführende Schule wechseln, eine gewisse Reife und können mit den damit einhergehenden Herausforderungen recht gut umgehen. Wie ich schon gesagt habe: Wenn man will, kann man auch in wenig Zeit sehr viel lernen.
«Wenn jemand zurück ins Volksschulsystem wechseln will, sagen wir den Eltern, dass es ein halbes Jahr Vorlaufzeit braucht.»
Haben Sie ein Beispiel dazu?
Da kommt mir die Geschichte einer Achtklässlerin aus einer anderen selbstbestimmten Schule in den Sinn: Sie hatte sich bisher immer geweigert, Französisch zu lernen. Dann wollte sie ins Gymnasium und hat in einem Intensivkurs innert vier Wochen genügend Französisch gelernt, um die Anforderungen zu erfüllen. Auch das Lesen lernen ist ein Paradebeispiel: Gewisse Kinder lesen ganz lange nicht, dann plötzlich geht der Knoten auf, und sie lernen plötzlich rasch lesen. Was es in diesen Situationen einfach braucht, ist ein förderndes Umfeld, in dem beispielsweise Bücher vorhanden sind.
In der Klasse eines unserer Kinder wurde am ersten Schultag ein Belohnungs-/ Bestrafungssystem eingeführt. Wie gehen Sie an der unico mit Regeln um?
Ich habe es bereits erwähnt: Es braucht in einer Schule Regeln zum Zusammenleben, die sind extrem wichtig. Aus unserer Perspektive untergraben aber Belohnungen und Bestrafungen durch die Begleitpersonen die Beziehung zum Kind. Wir versuchen als erstes, die Beziehung aufzubauen, und dann über diese Beziehung allfällige Probleme zu lösen. Dazu gibt es kein Patentrezept und es gibt ja auch viele Lehrpersonen, die das in der Volksschule so umsetzen. Aber ich kann es zu einem gewissen Grad nachvollziehen, wenn LehrerInnen zu solchen Methoden greifen: Lehrpersonen sind häufig unter grossem Druck, den Schulstoff durchzupauken, dahinter stehen teilweise auch enorme Anforderungen aus der Elternschaft. In meiner Wahrnehmung geht unsere Gesellschaft immer weiter auseinander in den Ansprüchen bezüglich der Schulbildung. Gewisse Eltern haben enorm hohe Erwartungen an die zu erbringende Leistung. Andere Eltern wünschen sich, dass sich ihre Kinder möglichst frei entfalten können. Die Lehrpersonen der Volksschule bewegen sich hier in einem grossen Spannungsfeld. Das ist allerdings nicht nur ein Thema der Schule, sondern ein gesellschaftliches Thema.
«Aus unserer Perspektive untergraben Belohnungen und Bestrafungen durch die Begleitpersonen die Beziehung zum Kind.»
Wie können Eltern, deren Kinder auf eine Regelschule gehen, das selbstbestimmte Lernen ihrer Kinder fördern?
Ich bin selber auch in dieser Situation, unsere eigenen Kinder besuch(t)en die Volksschule. Ich denke, auch hier ist die Haltung sehr wichtig. Was erwarte ich von meinen Kindern? Wie gehe ich um mit schlechten Noten? Kann ich in solchen Situationen wegkommen von meinen eigenen Erwartungshaltungen, von Schuldzuweisungen und das Kind fragen, was es braucht?
Wie könnte ein praktischer erster Schritt aussehen?
Zum Beispiel in der Freizeit den Druck wegnehmen: Kinder müssen nicht unbedingt durchorganisierte Hobbys haben! Es geht darum, wachsam zu sein, zu schauen, was das Kind interessiert, und immer wieder dranzubleiben, da sich die Interessen rasch ändern können. Anstatt das Kind in den Schwimmkurs zu schicken, könnte ich zum Beispiel mit ihm regelmässig ins Hallenbad gehen, so wird auch unsere Beziehung gestärkt. Ganz wichtig finde ich, Kinder nicht gegen ihren Willen irgendwo hinzuschicken, z.B. in die Skischule.
Wie unterscheiden sich die Kinder in demokratischen Schulen von anderen Kindern?
Gerade die kleineren Kids bei uns sind sich nicht gewöhnt, still zu sitzen. Das fällt dann in einem anderen Kontext allenfalls negativ auf, entspricht aber eher dem Naturell der Kinder. Aus anderen demokratischen Schulen hören wir, dass selbstbestimmt lernende Kinder eher eine intrinsische Motivation fürs Berufsleben entwickeln, weil sie immer von innen heraus lernen konnten.
Gibt es Kinder, die mit dem selbstbestimmten Lernen nicht gut klar kommen?
Eigentlich nicht, nein! Es braucht aber ein gutes Setting, damit sich alle wohlfühlen können. Gewisse Kinder sind anfänglich überfordert mit den sozialen Herausforderungen oder mit den vielen verfügbaren Lernmaterialien, dem erhöhten Lärmpegel, und der vielen Bewegung bei uns. Da stellt sich dann die Frage: «Kann ich genügend bei mir sein, um herauszufinden, was ich lernen will, oder lasse ich mich beeinflussen von dem, was die anderen gerade machen?» Unsere Umgebung soll das aber unterstützen, dann versuchen wir zu begleiten, sie an neue Themen heranzuführen, und zu spüren, was das Kind gerade faszinieren könnte.
Wie wissen Sie, wo die Kinder stehen ohne Noten?
Wir dokumentieren mit einer speziellen Software unsere Beobachtungen, dort sind alle Elemente und Kompetenzen auch mit dem Lehrplan verknüpft. Das fördert das Vertrauen der Eltern in den Lernprozess ihrer Kinder. Ältere Kinder können ihren Lernfortschritt sogar selber dokumentieren. Unser System ermöglicht es, sich an sich selber zu messen und dokumentiert den eigenen Entwicklungsprozess.
Wie sorgen Sie dafür, dass Themen, welche die Kinder vielleicht nicht von sich aus einbringen, aber auch wichtig sind (z.B. Rassismus, Sexualunterricht), Platz finden?
Solche Themen bringen wir als Angebot in den Schulalltag ein, damit Kinder in Kontakt kommen damit und sich damit beschäftigen können, wenn sie möchten. Bei ganz wichtigen Themen überlegen wir uns, dass wir es möglichst interessant verpacken können oder lassen es immer wieder einfliessen, machen einen Ausflug dazu oder ähnliches.
Inwiefern stehen alternative Schulen wie die Unico nur Kindern aus privilegierten Familien offen?
Wir wären gerne ein Abbild der Gesellschaft und würden gerne alle Kinder aufnehmen – leider ist das im heutigen System nicht möglich! Wir möchten keine elitäre Schule sein, aber wir müssen ohne externe Unterstützung finanziell über die Runden kommen. Nur dank der vielen Freiwilligenarbeit, die von Eltern und Angestellten geleistet wird, sind unsere Schulbeiträge nicht doppelt so hoch … Ich hoffe aber, dass Initiativen wie die Unico etwas mit der Bildungslandschaft machen und damit auch die Volksschule in Bewegung gebracht wird. Solche privaten Projekte können diesen Prozess befruchten, mit dem Ziel, dass damit ein Gewinn für das ganze System herausschaut.
«Wir möchten keine elitäre Schule sein, aber wir müssen ohne externe Unterstützung finanziell über die Runden kommen.»
Wird denn mit solchen Schulangeboten nicht die Volksschule als «Schule für alle» unterwandert?
Das glaube ich nicht. Würde man nun aber feststellen, dass es immer mehr Eltern gibt, die ein solches Schulmodell für ihre Kinder als Bildungsort wählen, müsste sich die öffentliche Schule schon hinterfragen, woran dies liegen könnte. Ich wünsche mir, dass Chancengleichheit herrscht und alle ein gutes Schulangebot haben, unabhängig von ihrem Einkommen.
Wo sehen Sie persönlich die grössten Vorteile des selbstbestimmten Lernens?
Bei uns steht das soziales Wohlbefinden an erster Stelle, da investieren wir auch viel Zeit, denn nur dann können Kinder überhaupt lernen. Mir ist noch wichtig zu sagen, dass wir nicht die universelle Lösung für die Beschulung haben, auch bei uns haben Kinder Schwierigkeiten. Aber wir sind mit den Kindern und Eltern immer im Dialog und können das System manchmal auch verlassen, wenn das nötig ist.
Die Co-Leiterin und Mitgründerin der Unico-Schule in Bern, die sich nun im 4. Betriebsjahr befindet, ist Mutter von zwei schulpflichtigen Kindern und ausgebildete Sozialpädagogin mit Flair für Zahlen, Ordnung und Organisation.
Sie sammelte ihre Berufserfahrung fast ausschliesslich im schulischen Umfeld (externe Kinderbetreuung, Schulheime, Schulsozialarbeit) und bildete sich weiter in Erlebnispädagogik, Bewegungslernen, Lösungs- und Ressourcenorientierung, Soziokratie und selbstbestimmtem Lernen.