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Die glückliche Mutter – das neue Tabu?

«Ich bin eine glückliche Mutter», sagt Patricia Bachmann von sich. Wie kommt es, dass eine solch positive Aussage heutzutage provoziert?
9 Nov 2018
Bild — Jenna Christina (Unsplash)

Regretting Motherhood, hohe gesellschaftliche Anforderungen an Mütter, Mamas mit Burnout: Das Unglück der Mütter ist in den Medien momentan sehr präsent. In einem Facebook-Kommentar auf diesen Artikel hat sich Patricia Bachmann hingegen als glückliche und ausgeglichene Mutter bezeichnet. Darüber bin ich gestolpert, mir ist aufgefallen, wie selten man dieser Aussage heutzutage begegnet – warum eigentlich? Ich habe bei Patricia nachgefragt. Sie ist Psychologin, 40 Jahre alt, Mutter einer 10-jährigen Tochter, in Bern aufgewachsen und lebt heute in Basel.

Patricia, du bezeichnest dich als glückliche, ausgeglichene Mutter – das hören wir in unserem Umfeld selten. Geht es dir auch so?
Ich glaube nicht, dass eine glückliche, ausgeglichene Mutter etwas Ausserordentliches ist – ich hoffe nicht! Als Reaktion auf den oben erwähnten Artikel habe ich mich auf der Facebook-Seite von «Any Working Mom» als glückliche Mutter geoutet und erwartet, dass sich noch mehr Frauen dazu bekennen. Als es nicht dazu kam, war ich schon etwas konsterniert.

Empfindest du dich in deinem Umfeld als Exotin?
Eigentlich nicht. Meine beiden engsten Freundinnen würde ich ebenfalls als glückliche Mütter bezeichnen. Sich zwischen Beruf, Haushaltspflichten und Kindererziehung zu bewegen ist eine Herausforderung, aber sie stellen sich dieser positiv und scheinen glückliche Menschen zu sein – das vergessen wir bei der ganzen Rollendiskussion zu oft: Wir sind ja alle in erster Linie Menschen!

Womit hängt das deiner Ansicht nach zusammen?
«Muttersein» hat viele Attribute bekommen in letzten Jahren. Früher hiess es einfach, dass man Kinder hat. In den vergangenen Jahren weiteten sich die «Mutterpflichten» aus zu Dingen wie Schwangerschaftsyoga, Geburtsvorbereitungskurs (zur Zeit meiner Eltern gab es das noch nicht), dass wir unsere Kinder gesund ernähren sollen und uns mit den sich wandelnden Vorstellungen in Sachen Erziehung auseinandersetzen und und und … Dazu kommt, dass die Mutter selber natürlich schlank, attraktiv, sportlich und erfolgreich sein sollte. Social-Media-Stars wie Courtney Adamo widerspiegeln das neue Mutterrollenbild: Die super stylische Mutter von fünf immer perfekt angezogenen Kindern ist erfolgreiche Unternehmerin und morgens um sechs geht sie mit ihren Freundinnen surfen. Das entspricht aber einfach nicht der Realität der meisten Eltern.
Ich glaube, hier liegt das Problem: Die Erwartungen an Mütter (und zunehmend auch an Väter) sind ausserordentlich geworden. Eltern zu sein reicht nicht mehr, man muss es leidenschaftlich tun. Dieser Druck macht sicherlich vielen zu schaffen.

«Ich glaube, hier liegt das Problem: Die Erwartungen an Mütter (und zunehmend auch an Väter) sind ausserordentlich geworden. Eltern zu sein reicht nicht mehr, man muss es leidenschaftlich tun.»

Bei unseren Müttern war es noch ein Tabu, zu klagen. Heute scheint es sich genau ins Gegenteil verkehrt zu haben: Man muss fast jammern, sonst gilt man als angeberisch oder heuchlerisch. Hast du auch diesen Eindruck?
Diesen Eindruck teile ich, wobei ich da kulturelle Unterschiede erwarten würde. In der Schweiz ist es grundsätzlich nicht üblich, kundzutun: «Ich bin glücklich!» Alles muss irgendwie mit Arbeit assoziiert werden – ich habe kürzlich gelesen, dass Mutter als Beruf anerkannt werden sollte, da hat es mir «den Nuggi usegjagt». Und wie bitte qualifiziert man sich für diesen «Beruf»? Zurück zur Kultur: Wenn du einen Amerikaner fragst, wie es ihm geht, dann antwortet er an einem durchschnittlichen Montagmorgen «I’m great!» Fragst Du dasselbe eine Schweizerin, wird sie entgegnen «Montag halt …» oder «Es muess, es muess …»

Geht es auch um (falsche) Solidarität, man will nicht, dass sich die anderen Mütter (noch) schlechter fühlen?
Das kann ich nur für mich beantworten: Nein, ich pflege keine falsche Solidarität.

«Meine Mutter hat mir vorgelebt, dass Muttersein eine verantwortungsvolle und befriedigende Lebensaufgabe ist, in der man durchaus aufgehen kann.»

Wie war das denn bei deiner eigenen Mutter, war sie auch glücklich?
Sie kam 1978 aus den Philippinen in die Schweiz und hatte es nicht leicht im kleinen Bern – damals gab es hier erst wenige Menschen mit ausländischem Aussehen. Dieses Thema hat sie sicher lange begleitet. Aber nach ihrer Mutterrolle gefragt, bin ich überzeugt, dass sie diese glücklich gemacht hat. Sie war selbst nie erwerbstätig, hat dies aber auch nie vermisst. Sie hat mir vorgelebt, dass das Muttersein eine verantwortungsvolle und befriedigende Lebensaufgabe ist, in der man durchaus aufgehen kann.

Wie ist deine berufliche Situation? Wie ist die Betreuungssituation? Wie teilt ihr Eltern euch auf?
Ich arbeite 70% an der Universität Zürich, ich bin drei Tage in Zürich und einen halben Tag arbeite ich von zuhause. Mein Mann ist Arzt mit Leitungsfunktion in einem Spital in Basel und arbeitet seit jeher 80%. D.h. seit der Geburt unserer Tochter ist Freitag Papa-Tag und zwar nicht in dem Sinne, dass dieser Tag ein reiner Funday ist. Sondern freitags macht Papa die Znünibox, kocht Mittagessen, geht einkaufen etc. Natürlich hat eine gemeinsame Aktivität auch Platz. Seit einigen Jahren haben wir ja auch noch einen Hund, d.h. oft steht ein gemeinsamer Spaziergang auf dem Plan.

«Gleichberechtigung ist bei uns zentral. Wenn unsere Tochter krank ist, dann teilen wir uns die Betreuung, jeder fehlt zu gleichen Teilen bei der Arbeit.»

Unsere Tochter besucht zweimal wöchentlich den Mittagstisch, anschliessend geht sie selbständig ihren Hobbys nach. Für die Familienagenda und Terminkoordination bin grundsätzlich ich zuständig und mache das gerne (dieses Heft gäbe ich nur ungern aus der Hand!). Gleichberechtigung ist bei uns zentral. Da mussten wir auch nie darüber reden, verhandeln oder Regeln aufstellen. Wenn unsere Tochter krank ist, dann teilen wir uns die Betreuung, jeder fehlt zu gleichen Teilen bei der Arbeit. Arztbesuche mit der Tochter teilen wir auf. Elternabende und Schulaufführungen besuchen wir bestenfalls zusammen oder einer von uns.

Was trägt bei dir persönlich dazu bei, dass Du ein ausgeglichenes Leben führst?
Ich habe sicher Glück mit meinem Arbeitsplatz. Die Arbeitszeiten sind flexibel, mein Team ist toll (es sind ebenfalls Mütter mit Kindern), und mein Beruf erfüllt mich sehr. Wenn ich erzähle, dass ich drei Tage die Woche von Basel nach Zürich pendle, erhalte ich allerdings erstmal Mitleid. Aber hey, welche Mutter hat an einem Arbeitstag zweimal eine Stunde für sich? Ich trinke im Zug einen Kaffee, lese Zeitung oder arbeite. Und wenn ich um 18:30 Uhr zuhause zur Tür reinkomme und von Hund und Kind bestürmt werde, bin ich ganz ruhig, weil ich meine Pause schon hatte. Dann habe ich wieder Energie, um etwas zu kochen und wenn nicht, bestellen wir halt eine Pizza.
Und ebenso wichtig: Ich bin mit dem richtigen Mann zusammen! Ich denke, eine glückliche Partnerin ist auch eine glückliche Mutter. Mein Mann unterstützt mich in all meinen Projekten. Vor zwei Jahren war ich beispielsweise entschlossen, den Therapeutenberuf an den Nagel zu hängen, da stiess ich auf ein Nachstudiendiplom der Universität St. Gallen: 22 Präsenztage in verschiedenen Städten quer durch die Schweiz innerhalb von acht Monaten, meist an Wochentagen. Ich dachte, das schaffen wir nicht. Mein Mann sagt, klar geht das, melde dich an! Ich habe fristgereicht im August 2017 erfolgreich abgeschlossen.

«Wenn ich erzähle, dass ich drei Tage die Woche von Basel nach Zürich pendle, erhalte ich erstmal Mitleid. Aber hey, welche Mutter hat an einem Arbeitstag zweimal eine Stunde für sich?»

Ihr habt beide stabile Jobs, ein gutes Umfeld. Inwiefern trägt diese soziale Sicherheit zu deinem Zustand bei?
Eine bedeutende! Ich weiss nicht, ob privilegierte Frauen die glücklicheren Mütter sind, aber aus der Forschung weiss man, dass sich Bildung, Wohlstand und soziale Zugehörigkeit positiv auf die Resilienz, sprich Widerstandsfähigkeit, auswirken. Diesem Privileg bin ich mir sehr bewusst – ich kenne aus meinem Arbeitsalltag auch die andere Seite.

Und wie siehts beim Vater deines Kindes aus? Ist er auch glücklich?
Mein Mann ist die Ausgeglichenheit in Person. Das heisst nicht, dass er emotional nicht mitschwingt! Aber er lässt sich grundsätzlich weder aus der Bahn werfen noch von seinem Weg abbringen. Er ist ein sehr glücklicher Vater.

Hattest du auch mal Krisen? Wann?
Klar hatte ich das! Die unmittelbare Zeit nach der Geburt empfand ich als besonders hart. Mein Mann hatte zwei Wochen Ferien genommen, danach war ich vier Tage die Woche alleine mit dem kleinen Wurm. In meinem Umfeld war ich die einzige Mutter. Die Tage schienen nicht zu vergehen, ausser mit dem Kinderwagen spazieren konnte ich mit dem Baby nur wenig unternehmen. Ich gehöre definitiv zu den Müttern, die erst später in der Mutterrolle aufgingen.

«Die unmittelbare Zeit nach der Geburt empfand ich als besonders hart. Ich gehöre definitiv zu den Müttern, die erst später in der Mutterrolle aufgingen.»

Man sagt, die ersten zwei Jahre seien am härtesten für die Eltern. War das bei euch auch so? Hattet ihr auch mit Schlafentzug etc. zu kämpfen? Oder warst du selbst dann happy?
Wie gesagt, in der ersten Phase war ich nicht so ausgeglichen und glücklich wie heute. Schlafentzug hatten wir wenig, die ersten Monate schlief unsere Tochter 10 Stunden durch! Auch später war mein Mann immer unterstützend da. Er stand nachts oft auf und holte das Baby aus dem Kinderzimmer und legte sie mir an. Wenn sie fertig war, legte er sie zurück. Und stand dann um sechs Uhr wieder auf für die Arbeit, während wir beide weiterschliefen. Der Schlafenzug war also nicht massgeblich. Aber die Abhängigkeit und ununterbrochene Zuständigkeit für dieses Wesen hat mich überrumpelt. Ich brauche viel Zeit für mich, ich bin gern allein und beschäftige mich mit meinen Sachen – darin war ich in einem unerwarteten Ausmass eingeschränkt worden. Vielleicht war ich in meinen Vorstellungen von Muttersein zu naiv. Es dauerte eine Weile, bis ich mich damit arrangiert hatte. Meine Eltern waren ebenfalls eine grosse Hilfe, obwohl sie in Bern und ich in Basel wohne, haben sie mir die Kleine oft abgenommen. Dafür bin Ihnen noch heute dankbar.

Vergisst man nicht einfach, wie hart es war?
Nein, ich werde diese Zeit nicht vergessen. Als Psychologin weiss ich, dass ich keine postpartale Depression hatte. Aber sicher deutliche Anlaufschwierigkeiten in der Mutterrolle.

Du sagst, deine Tochter war als Baby pflegeleicht. Wie wäre das wohl mit einem «anspruchsvollen» Kind?
Meine Tochter ist anspruchsvoll! Als Kleinkind hatte sie Neurodermitis, das war auch vom zeitlichen Aufwand her sehr anspruchsvoll. Und auch charakterlich ist sie nicht die Pflegeleichteste: sie ist sehr clever; Entscheidungen, die ihr missfallen müssen fundiert begründet sein, sonst argumentiert sie dagegen bis zum bitteren Ende! Sie fordert mich täglich. Aber sicher ist es einfacher mit einem psychisch stabilen, willensstarken, gesunden Kind, das in der Schule mit wenig Aufwand gute Leistungen erbringt und sozial gut integriert ist, als mit einem kranken oder verhaltensauffälligem Kind. Aber ob die Mütter mit «einfacheren Kids» grundsätzlich ausgeglichener sind? Ich bezweifle das.

Was trägst du selber dazu bei, dass es bei dir rund läuft?
Hmmm, diese Frage habe ich mir selbst nie gestellt. Glücklich zu sein ist in meinen Augen nicht nur eine Frage der Umstände, sondern auch der Einstellung. Ich achte beispielsweise auf meine eigenen Bedürfnisse gleich wie jene meiner Liebsten: Ich sorge immer für genügend Schlaf – und ich brauche viel Schlaf! Und ich nehme Hilfe an, von meinem Mann oder eben von einer Putzhilfe oder einem Dogistter. Ich habe kein schlechtes Gewissen, meine Tochter auch mal in ihr Zimmer zu schicken und sich selbst beschäftigen zu lassen, weil ich in Ruhe Haare färben möchte. Ich komme regelmässig in die Stadt, wenn ich es möchte, und mache mit Freundinnen ab, nicht wöchentlich, aber auch nicht nur jährlich. Einmal die Woche gehe ich tanzen. Was will ich sagen? Ich nehme mich wichtig und setze die mir verfügbaren Ressourcen auch für mich ein. Wenn ich es nicht tue, wie soll es meine Umgebung, geschweige denn die Gesellschaft tun?

«Ich nehme mich wichtig und setze die mir verfügbaren Ressourcen auch für mich ein. Wenn ich es nicht tue, wie soll es meine Umgebung, geschweige denn die Gesellschaft tun?»

Apropos Gesellschaft: Wie empfindest Du die Unterstützung von Politik und Gesellschaft bezüglich Familien in der Schweiz? Was schätzt du? Fehlt dir etwas?
Die Schweiz ist ein wunderbares Land, das möchte ich einleitend sagen dürfen: Wir kennen keinen Krieg, keinen Hunger, keine grossen Wirtschaftskrisen, keine politische Instabilität. Wir haben Städte mit hoher Lebensqualität und die Natur ist oft keine zehn Minuten Fahrt entfernt. All das schätze ich.
Die Schweizer Gesellschaft empfinde ich hingegen schon ambivalenter. Ich stelle eine bestimmte Rigidität fest und das Motto «Das macht me doch nid» nervt mich. Es raubt uns Schweizern viel Lebensfreude und schränkt uns zu sehr ein. Und diese Mentalität trägt dazu bei, dass sich die Dinge hier nur langsam verändern: Mütter in ihren Karrierechancen und Männer in ihrer Emanzipation als beteiligte Väter unterstützen, sowie genügend zahlbare Tagestrukturen anbieten. Und dass älteren Menschen und Kinder derart ausgeschlossen werden im öffentlichen Raum, halte ich nur schlecht aus. Ich spreche von bösen Blicken, wenn das Kind im Tram schreit, und dass Kinder «funktionieren» müssen. Dasselbe gilt für Ältere: Die sollen an der Kasse nicht so langsam machen, etc. Wenn Mütter nach einem langen Arbeitstag unbekümmert mit einem müden Kind aus dem Tagi einkaufen könnten, wäre dies bestimmt auch eine Erleichterung. Das heisst, nicht nur die Politik ist gefordert, die Gesellschaft ebenso!

Die gebürtige Bernerin Patricia Bachmann (40) lebt mit Mann, Tochter (10) und Hund in Basel und arbeitet als Studiengangleiterin des Masterstudiengangs für Ärztliche Psychotherapie an der Universität Zürich. Das Pendeln ist für sie Erholungszeit zwischen Arbeits- und Familienalltag.