Es war ein kleiner Schock, als mir meine langjährige Freundin unter Tränen beichtete, sie wolle nicht mehr Gotte unserer einjährigen Tochter sein. Sie fühle sich der Verantwortung nicht gewachsen. Das Geständnis kam zwei Wochen vor der Taufe. Im ersten Moment war ich dankbar für ihre Ehrlichkeit. Dass dieser Rückzug sie viel Mut kostete, war offensichtlich. Gleichzeitig empfand ich etwas Enttäuschung. Auch was mich selbst anging. Sie, Mitte 30, kinderlos, seit Jahren eine treue Freundin, erschien mir die perfekte Gotte. Ihre Wahl war wohlüberlegt. Diese Wahl sollte sich nun als falsch entpuppen? Hatte ich mich von falschen, jedoch gutgemeinten Absichten verleiten lassen? Hatte mein sonst verlässliches Gefühl mich getäuscht? Hatte ich unbewusst zu hohe Erwartungen an sie? Ihr Geständnis warf viele Fragen auf, die mich dazu brachten, über das Gottisein nachzudenken und andere Eltern auf ihre Erlebnisse und Erkenntnisse in Zusammenhang mit dem Thema anzusprechen. Hier völlig unterschiedliche Erfahrungsberichte von Gotten und Göttis.
Das Geschäft kam dazwischen
«Ich hatte mir jahrelang eingebildet, dass es eine besondere Ehre und ein Freundschaftsbeweis sei, als Gotte angefragt zu werden. Als wir an jenem Frauenabend beim Znacht sassen – sie über einem halben Glas Wein und mit Kugelbauch, ich mit dem Rest der zwei Dezi – bat ich mir deshalb keine Bedenkzeit aus und sagte sofort und, wie ich heute weiss, etwas naiv ja.
«Ich bin perplex und enttäuscht, aber auch dankbar für die Funkstille, die sich erholsam anfühlt.»
War meine Gottentum zum Scheitern verurteilt, weil wir nicht nur Freundinnen, sondern auch Geschäftspartnerinnen waren? Jedenfalls haben wir keinen Kontakt mehr, seit ich mich aus dem Geschäft zurückgezogen habe. Zu Weihnachten werde ich einfach ein Päckli per Post schicken. Einerseits bin ich perplex und enttäuscht, dass wir meinem Gottenkind zuliebe nicht Berufliches von Privatem trennen können. Andererseits bin ich dankbar für die Funkstille, die sich erholsam anfühlt. Ich schliesse nicht aus, dass sich unsere Wege wieder kreuzen werden und ich dann mein Amt als Gotte wieder aktiver ausüben kann. Trotzdem werde ich ein paar Jahre verpasst haben.»
Der abenteuerliche Götti Roland
«Als ich ein Kind war, öffnete ich von Zeit zu Zeit eine kleine Holzschachtel in meinem Schrank. Ehrfürchtig betrachtete ich eine makellose, grüne 100-Dollar-Note, die mir mein Götti Roland zum Geburtstag geschickt hatte. Götti Roland war ein Freund meines Vaters und von diesem zum Paten seines Erstgeborenen erkoren worden. Er wohnte in Florida und hatte den Ruf eines Abenteurers. In meiner einzigen Erinnerung an ein Treffen mit ihm sitzt Götti Roland bei uns zuhause auf unserem braunen Sofa. An seiner Seite seine Frau, eine blonde Tessinerin namens Cristina, die kein Deutsch spricht. Einmal belauschte ich eine Unterhaltung meiner Eltern. Darin ging es um ein paar Kollegen, die versuchte Lieferung eines Panzers in den Iran, ein gesunkenes Schiff, angeblichen Versicherungsbetrug und um Götti Roland. Ein paar Jahre später erhielt ich einen Brief aus Costa Rica. Götti Roland schrieb, er wolle hier etwas mit Touristen und Pferden aufbauen. Die beigelegten Fotos zeigten ihn und seine kleinen Töchter mitten im Dschungel unter Wasserfällen. Ich war 12 Jahre alt. Seither habe ich nie mehr von Götti Roland gehört.
«Ein paar Jahre später erhielt ich einen Brief aus Costa Rica. Ich war 12 Jahre alt. Seither habe ich nie mehr von Götti Roland gehört.»
Komischerweise habe ich nie an Götti Roland gedacht, als ich bei zwei sehr guten Freunden zugesagt habe, Götti ihrer Buben zu werden. Ich war ganz einfach geehrt, dass sie mir dieses Amt anvertrauten. Dass es nicht leicht ist, den (eigenen) Anforderungen als Götti gerecht zu werden, habe ich dann rasch erfahren. Dazu braucht es kein Abenteurerleben mit versuchten Panzerlieferungen in den Iran. Ein normales Leben reicht, damit die Aufgaben als Götti nicht immer den Raum erhalten, den sie verdienten. Allmählich habe ich jedoch das Gefühl, in die Rolle hineinzufinden, und es ist schön zu spüren, dass die Jungs mich als Götti wahrnehmen und gern haben. So soll es weiter gehen. Ich habe nicht vor, mein Glück in Costa Rica zu suchen. Den Götti meines jüngeren Bruders wählte übrigens dann meine Mutter aus. Götti Peter schickte nie eine 100-Dollar-Note oder Fotos von Wasserfällen. Dafür nahm er bis zu seinem viel zu frühen Tod Anteil am Leben seines Göttibuben.»
Von ganzem Herzen Ja!
«Ich selbst habe bis heute Kontakt zu meiner Gotte und meinem Götti. Denn meine Eltern haben ihre besten Freunde gewählt. Menschen, mit denen sie ihre Freizeit verbrachten, die sich zum Abendessen oder Brunch einluden oder sonntags mit ihnen spazieren oder samstags in den Ausgang gingen. Menschen, die sie regelmässig trafen – oft alleine, manchmal mit mir. Menschen, die ich nicht nur zu Geburtstagen oder Familienfeste sah und sonst inexistent waren, sondern, die durch die Verbindung zu meinen Eltern, zu unserem alltäglichen Leben gehörten und daran teilnahmen. Zu ihnen musste ich keine Beziehung aufbauen, die Beziehung war schon da. Seit 40 Jahren ist meine Mutter mit meiner Gotte befreundet. Über diese Verbindung nimmt meine Gotte noch immer an meinem Leben teil.
«Die Verbindung zwischen mir und meinen Patenkindern hat ein starkes Fundament: eine tiefe und langjährige Freundschaft.»
Während des Schreibens dieses Textes bin ich zum dritten Mal Gotte geworden. Zum dritten Mal konnte ich von ganzem Herzen «Ja» zu diesem «Amt» sagen. Wie bei meinen Eltern, war für mich die Beziehung zur Mutter meiner Patenkinder ausschlaggebend. Wie es meine Mutter und meine Gotte waren, bin ich schon sehr lange mit diesen Frauen befreundet. Ich weiss nicht, ob ich eine «gute» Gotte bin oder sein werde, aber die Verbindung zwischen mir und meinen Patenkindern hat ein starkes Fundament. Das Fundament einer tiefen und langjährigen Freundschaft. Darauf kann eine neue Beziehung entstehen.»
Ein Ehrenamt mit Tücken
«Irgendwie kann man am Götti- und Gottesein nur scheitern. Wohlgemerkt: Ich bin sehr gerne Gotte – doch mein schlechtes Gewissen ist oft grösser als mein Engagement. Ich drücke mich vor Kindergeburtstagen, vergesse Meilensteine, und die Pyjamapartys, die meine Patenkinder und das Göttimeitli meines Mannes so gerne bei uns feiern, finden nur einmal im Jahr statt. Dabei hatte ich als frisch gekrönte Gotte noch ganz grosse Pläne. Die Eltern entlasten wollte ich, eine Bezugsperson sein, präsent sein. Die Desillusionierung folgte zügig. Zwar war ich schockverliebt, als die Kleinen auf die Welt kamen, doch ich traute mich nur zaghaft an diese zerbrechlichen Choleriker heran; es blieb beim halbjährlichen Hüten. Kaum waren sie zum fragilsten Alter heraus, begann die Sache mit dem Fussball und den Geburtstagsfeiern. Den Knirps quer durch die halbe Schweiz zum Gottenbesuch zu fahren, ist für die Eltern wenig entlastend. Ich sei ein gutes Gotti, versichern sie mir trotzdem. Doch wetten, dass auch sie ihre Erwartungen im Laufe der Jahre nach unten korrigiert haben?
«Meine Gottenkinder erweitern mein Herz und meinen Horizont.»
Denn auch als Eltern macht man sich doch Illusionen. Wer hatte nicht die vage Hoffnung, das sorgsam ausgesuchte Gotti würde mit Hut und Regenschirm ins Kinderzimmer schweben, und – supercalifragilisti! – die anstrengende Bébéphase etwas leichter machen? Wer malte sich nicht aus, gemeinsam mit dem rotbäckig strahlenden Kindlein am sonnenbeschienenen Küchentisch hübsche Geschenke für den Götti zu basteln? Stattdessen klebt man bis kurz vor Mitternacht mutterseelenallein die Reste der liegengelassenen Bastelarbeit zusammen. Wieso also die Patenschaft nicht abschaffen, wenn es auf allen Seiten vor allem Ernüchterung mit sich bringt? Die Kesb macht Götti und Gotte als Ersatzeltern überflüssig, und mit dem ursprünglichen Auftrag der christlichen Erziehung kann man auch nicht mehr unbedingt punkten. Trotzdem glaube ich, dass in dieser Tradition viel Potenzial steckt. In unserem Fall sind Freunde zu Familienmitgliedern geworden, Geschwister näher zusammengerückt. Vielleicht fiebert man schlicht ein bisschen stärker mit, wenn man Pate oder Patin ist statt einfach Onkel oder Freundin der Familie. Sicher ist: Meine Gottenkinder erweitern mein Herz und meinen Horizont. Sie haben mir Familiensinn beigebracht und mich davon überzeugt, dass kleine Kinder fast so süss sind wie kleine Katzen. Ich glaube allerdings, dass es zum guten Götti- und Gottesein zwei Dinge braucht: realistische Erwartungen und klare Ansagen. Die Eltern meiner Patenkinder haben oft explizit gemacht, was sie sich wünschten: einen konkreten Hütetermin, ein bestimmtes Geschenk. Das half. Ausserdem habe ich gelernt, die Messlatte tief zu hängen – denn Mary Poppins ist verflixt harte Konkurrenz.»
Ein Freund, kein Ersatzvater
Als ich 23 war und immer unterwegs und immer an Partys, sagte ich einer guten Bekannten, die auch immer unterwegs und immer an Partys war, dass ich unbedingt Götti sein wolle, falls sie je Mutter werden würde. Sie sagte: Ja, eh. Ein Jahr später war sie Mutter und ich Götti. Bald passte ich zum ersten Mal auf mein Göttimeitschi auf. Ich war 24 und Y. ein paar Monate alt. Sie schrie ununterbrochen. Ich trug sie herum, ich legte mich neben ihr winziges Bett, ich sang das einzige Kinderlied, das ich damals kannte, ich erzählte ihr vom EHC Biel und anderen Dingen, die mir etwas bedeuten. Auf die Idee, dass sie Hunger haben könnte, kam ich nicht. Ich wusste nicht, was tun. Aber ich wusste, dass ich bei ihr sein will. Ein paar Tage später richtete ich ihr ein Bankkonto ein, über das sie die Vollmacht erhalten wird, wenn sie 18 ist. Jeden Monat überweise ich seither ein paar Franken. Bald gehören ihr ein paar Tausender. Vielleicht braucht sie sie für die Autoprüfung oder um ihre erste Wohnung einzurichten. Oder einfach, um draussen zu sein und unterwegs und an Partys. Es ist mir egal. Als Götti, finde ich, geht es eben gerade nicht darum, eine Art Ersatzvater zu sein, sich selbst Pflichten aufzubürden oder sich ebendiese aufbürden zu lassen. Man soll einfach ein guter Freund sein. Einer, der hilft und zuhört, aber nicht urteilt oder reinredet oder, schlimmer, erzieht. Das ist wenig, aber eben auch ganz viel.
«Ein Götti soll einfach ein guter Freund sein. Einer, der hilft und zuhört, aber nicht urteilt oder reinredet oder, schlimmer, erzieht. Das ist wenig, aber eben auch ganz viel.»
Als mein Göttimeitschi in der 2. Klasse war, habe ich es ins alte, kaputte und verrauchte Eisstadion geschleppt. Biel gegen Ambri. Wir standen ganz oben auf der Stehrampe. Neben den Kiffern. Nach zehn Minuten sagte Y.: «Götti, hier hat es mir zu viele Hippies, können wir woanders stehen?» Wir wechselten den Platz. Biel gewann. Auf den nächsten Geburtstag hat mir Y. eine Zeichnung geschenkt. Sie hatte das Foto eines Spielers abgezeichnet und das EHC-Biel-Logo auch und «für Götti» dazu geschrieben. So etwas tun gute Freunde. Jetzt bin ich bald 40 und Y. bald erwachsen. Kürzlich verhandelten wir per Whatsapp über einen Besuch im Europa-Park. Als wir das letzte Mal zusammen dort waren, hab ich fast in die Hosen gemacht auf einer diesen schlimmen Bahnen. Y. schrieb: «Du kleiner Schisser. Spass. Du bist doch der beste Götti, auch wenn du manchmal Angst hat.»
Ein chronisch schlechtes Gewissen
«Als ich das erste Mal Gotte wurde, war ich gerade 21 und total naiv. Ich sagte einfach zu, weil ich dachte, das macht man halt so. Aber ich war noch in einer anderen Welt, und kam sogar zu spät zur Taufe, weil – ach, 21 halt. Nun ist mein Patenkind konfirmiert, und mir fiel an diesem Tag in der Kirche ein Stein vom Herzen. Das chronisch schlechte Gewissen, das mich nun 16 Jahre begleitete, weil man es doch so viel besser hätte machen können, ist endlich weg. Weil ich jetzt nur noch darf und nichts mehr muss. Obwohl die Mutter des Patenkindes es immer super gemacht hatte: Sie schickte mir ab und zu Updates und Geschenkwünsche, aber nie im Übermass, freute sich über alles, was kam, und schien das, was nicht kam, mit Gleichmut hinzunehmen. Das Ganze nahm ein Happy End an der Konfirmation, als wir die Kiste öffneten, die ich 2002 für mein Patenkind gefüllt hatte – mit einer Zeitung, einem Brief, einem alten Handy und anderen Zeitzeugnissen aus seinem Geburtsjahr.
«Nun sind wir beide schlechte Gotten, und beide zufrieden damit.»
Das zweite Mal fragte mich eine meiner besten Freundinnen als Gotte an. Im gleichen Atemzug machte sie schon 1000 Einschränkungen, dass sie nichts von mir erwarte und dass ich auch nein sagen könne. Ich sagte zu, weil ich wusste, dass das ehrlich war. Sie hatte keinerlei Erwartungen, und ich war glücklich, diese zu erfüllen. Trotzdem scheine ich für dieses Patenkind eine besondere Person zu sein – und umgekehrt. So fragte ich ebendiese Freundin auch als Patin für mein erstes Kind an, und sie sagte glücklich ja. Nun sind wir beides schlechte Gotten, und beide zufrieden damit. Das ist wohl meine wichtigste Lehre daraus: Vor dem Fragen oder Zusagen genau überlegen, ob die Erwartungen auf beiden Seiten ungefähr übereinstimmen. Die Kinder werden spüren, ob das Verhältnis zwischen Eltern und Patentante oder Patenonkel entspannt ist. Und das ist die wichtigste Voraussetzung, damits gut kommt.»
Welche Erfahrungen habt ihr gemacht? Wie seht ihr die Rolle von Gotten und Göttis? Wir freuen uns über eure Kommentare!