Die Auseinandersetzung mit Kinder- und Jugendliteratur im Zyklus 2 ist nicht nur vom Lehrplan 21 gefordert, sondern bringt auch zahlreiche Vorteile mit sich: Literatur kann trösten, Gefühle wecken, Hoffnung geben und zu Empathie anregen (Richter & Plath, 2016) und trägt damit zur Identitätsbildung bei. Literaturunterricht ermöglicht aber auch die Teilnahme an unserer medialen Gesellschaft und fördert neben der Leseflüssigkeit auch die Lesefreude. Doch wie wählen wir als Lehrpersonen gute Bücher aus, wenn wir uns nicht bloss auf die Rezeption der ewiggleichen Klassiker beschränken wollen? Und was passiert, wenn wir zwei KJL-Bücher, die wir auf den ersten Blick als für den Unterricht geeignet hielten, an konkreten Kriterien messen? Diese Herausforderungen haben uns zur Formulierung folgender Fragestellung bewogen:
Wie kann ein ausgewogener und überschaubarer Kriterienkatalog für die Überprüfung von KJL für den Zyklus 2 aussehen? Und halten zwei ausgewählte Werke den definierten Kriterien stand?
Im Seminar Deutsch 3 am IPS der PH Bern haben wir vier verschiedene Kriterienkataloge für «gute» Kinder- und Jugendliteratur kennengelernt. Diese Kriterien halten wir in einer Tabelle fest, vergleichen sie miteinander und legen uns auf sechs Kriterien fest, welche wir für unseren eigenen Katalog priorisieren. Anschliessend prüfen wir zwei uns aus der privaten Lektüre bekannte Kinderbücher mittels dieser Kriterien und leiten daraus Leseempfehlungen ab. Zum Schluss ziehen wir ein Fazit aus unseren Erkenntnissen und schauen zurück, ob sich der Katalog bewährt hat.
Um dem Anspruch, «gute» Kinder- und Jugendliteratur aussuchen zu können, gerecht zu werden, sollte man Literatur an festgelegten Kriterien messen können. Wir kennen zwei Ansätze: Erstens die Forschung von LiteraturwissenschaftlerInnen, welche KJL-Klassiker auf bestimmte Merkmale analysiert. Zweitens gibt es Institutionen, die Kinderbücher anhand konkreter Kriterien auszeichnen. Wir haben Kriterienkataloge beider Ansätze untersucht und daraus sechs Kriterien herauskristallisiert, die für uns ein möglichst breites Spektrum an Ansprüchen an KJL abdecken. Die Auswahl der Kriterienkataloge ist in Abbildung 1 (siehe Anhang) im Vergleich zu sehen. Farblich codiert sind diejenigen Kriterien, welche wir ausgewählt haben.
Innovation definiert sich dadurch, wie erfolgreich das Buch neue Ideen und Konzepte anwendet. Dieses Kriterium haben wir ausgewählt, weil wir nicht auf der Suche nach etablierten Klassikern der Kinderliteratur sind, sondern neue Bücher beurteilen wollen. Vielfältige Lebensformen und Diversität nimmt den Anspruch des LP21 nach Vielfalt und Gleichstellung im schulischen Umfeld als Kriterium in unser Raster auf. Sprache als zentrales Kriterium beinhaltet, wie mit der Sprache im Buch aus der Perspektive der Zielstufe umgegangen wird und beurteilt unter anderem die Abwechslung, Verständlichkeit und den Einsatz von stilistischen Mitteln. Zugänglichkeit und Lebensweltbezug sagt aus, ob Kinder der Zielstufe einen Zugang zum Buch finden, ob sie sich «einklinken» können – eine der zentralen Fragen bei der Auswahl von KJL. Illustrationen haben wir aufgenommen, weil wir bildliche Darstellungen auch für SuS des Zyklus 2 noch als wichtig in der Leseunterstützung und zur Vermittlung von Inhalten erachten und qualitativ hochwertige Zeichnungen viel zur Wertigkeit eines Buches beitragen. In den vier analysierten Kriterienkatalogen kaum vorhanden ist Intermedialität und Medienverbund, d.h. ob es neben dem Buch weitere dazugehörige Bücher, Theaterstücke, Hörbücher, Filme usw. gibt. Die Intermedialität erachten wir aber heutzutage im Zyklus 2 als zentral (siehe auch Kruse, 2010) und nehmen sie daher in unser Kriterienraster auf.
Diese sowohl in der Theorie wie auch in der Praxis verankerten sechs Kriterien helfen uns dabei, KJL für Zyklus 2-Lernende mit überschaubarem Aufwand zu analysieren und damit gute Entscheidungen bezüglich Klassenlektüren zu treffen.
Im Jugendbuch «Evie und die Macht der Tiere» des englischen Bestsellerautors Matt Haig ist die Protagonistin Evie mit einer besonderen Gabe ausgestattet: Sie kann Tiere verstehen und mit ihnen sprechen. Dieses «Dawa» hilft ihr dabei, dem Rätsel um ihre verstorbene Mutter auf die Spur zu kommen und deren Mörder zur Strecke zu bringen.
Innovation: Die Idee von mit Tieren kommunizierenden Menschen ist nicht neu (siehe z.B. die Serie «Dr. Dolittle» von Hugh Lofting aus den 1920-Jahren), wird in hier aber in einer aus unserer Sicht neuartigen Form angewendet. Insbesondere die Darstellung der unterschiedlichen Persönlichkeiten der Tiere und ihrer speziellen Kommunikationsmuster hat uns beim Lesen positiv überrascht.
Vielfältige Lebensformen und Diversität: Evie lebt als Halbwaise mit ihrem zweisprachigen Vater und ihrer Grossmutter in einer englischen Kleinstadt. Diesbezüglich weicht das Buch also vom klassischen Familienbild «Vater, Mutter, zwei Kinder» ab. Evies bester Freund Ramesh ist Hindu, hat lange Haare, ernährt sich vegan und hat eine Lese-Rechtschreib-Schwäche – sein Vater ist ebenfalls verstorben. Die weiteren Figuren sind eher skizzenhaft dargestellt, insgesamt findet die Handlung grösstenteils in einem mittelständischen Milieu statt und teilweise wirken die Bestrebungen, Diversität herzustellen, etwas bemüht (z.B. vereint die Figur von Ramesh sehr viele Differenzkategorien in sich).
Sprache: Sprachlich zeichnet sich das Buch durch viel direkte Rede und klare, kurze Sätze aus – was sich gut für szenische Umsetzungen eignen würde. Dennoch ist der Text nicht simpel, sondern immer wieder durch Fachvokabular aus der Tierwelt angereichert. Diesbezüglich erachten wir das Buch als geeignet für ein breites Spektrum an sprachlichen Niveaus.
Zugänglichkeit und Lebensweltbezug: Der Tod eines Elternteils nimmt im Buch eine wichtige Stellung ein. Hiermit wendet sich das Buch eher an ein älteres Publikum (5./6. Klasse) und auch da sollte sorgfältig überlegt werden, ob es SuS gibt, für welche diese Passagen problematisch sein könnten. Für andere SuS kann aber gerade auch die Behandlung solcher sehr ernster Themen Anlass sein, sich als LeserInnen ernstgenommen zu fühlen – wie wir wissen, gehören alle Themen in den Literaturunterricht! Ansonsten schätzen wir den Lebensweltbezug des Buchs als recht hoch ein, kommen doch Themen wie der Schulalltag, Freundschaften und die Beziehung zu den Eltern immer wieder vor. Zudem macht Matt Haig verschiedentlich Bezüge zu Themen wie Biodiversität, Artenschutz und Klimawandel, welchen den SuS sowohl im Alltag wie auch im Fach NMG begegnen.
Intermedialität und Leseverbund: «Evie und die Macht der Tiere» liegt als Hörbuch vor und es gibt einen zweiten Band mit Evie («Evie in the Jungle»), welcher aber (noch) nicht in deutscher Übersetzung vorliegt. Eine gewisse Intermedialität ist also gegeben, das Hörbuch könnte im Unterricht gut als Ergänzung oder teilweiser Ersatz zum Lesebuch verwendet werden.
Illustrationen: Die Illustrationen stammen aus Emily Gravett’s Feder und sind in schwarz/weiss gehalten, sind aber zugänglich, witzig und bringen die Figuren und Tiere auf unaufdringliche Art zum Leben.
Mit «Edison: Das Rätsel des verschollenen Mauseschatzes» schuf der Autor Torben Kuhlmann ein Bilderbuch, das erstaunt, entzückt und beeindruckt. In diesem ca. 50 Seiten langen, grosszügig illustrierten Buch verfolgt der Leser oder die Leserin die Geschichte der Maus Pete und deren Professor bei ihrer Suche nach dem verlorenen Schatz eines Mäuse-Vorfahren. Dabei stellen sich die beiden Mäuse der Herausforderung, zu einem versunkenen Schiff im Atlantik zu tauchen und die in Vergessenheit geratene Geschichte der Maus Edison aufzuarbeiten. Das Buch ist Teil einer Reihe von Werken, die sich auf die Spuren von Pionieren und Entdeckern der Vergangenheit machen und als Reihe bereits mit verschiedenen Kinderbuchpreisen ausgezeichnet wurde.
Innovation: Tiergeschichten sind ein Eckpfeiler der Kinderliteratur und daher nichts Bahnbrechendes. «Edison» sticht hier aber aus der Menge heraus, kombiniert es doch eine sehr liebevoll illustrierte Tiergeschichte mit verschiedenen Aspekten aus Bezugsdisziplinen wie der Geschichtsforschung und den Naturwissenschaften. Dabei bleibt es ansprechend und gleichzeitig im Anspruch angepasst. Die Idee, eine historische Person aus der Perspektive einer Maus kennenzulernen, halten wir für bemerkenswert und innovativ.
Vielfältige Lebensformen und Diversität: Tiergeschichten können in dieser Kategorie nur schlecht oder gar nicht beurteilt werden. Ausnahmen wären etwa Geschichten mit Tieren, die für eine Gruppe von Menschen als Identität dienen, was hier nicht der Fall ist.
Sprache: Die Sprache ist mitunter das wichtigste Merkmal guter Kinderliteratur. Bei «Edison» sind etwa 3⁄4 der illustrierten Doppelseiten mit einer überschaubaren Menge an Text versehen. Trotzdem liest sich der Text, als wäre er mit besonderer Achtsamkeit auf seinen bildungsrelevanten Inhalt formuliert worden. Der Autor bemühte sich, einzelne Wörter des Fachwortschatzes der Geschichte, Technik oder Biologie einzubauen und genug Kontext dazu zu liefern, dass die Fachwörter entschlüsselt werden können. Dabei sind die Themenbereiche sehr vielfältig: Man kann unter anderem lernen, was Metallgiessen und Schweissen ist, was ein Professor an einer Universität tut und wovon sich Blauwale ernähren. Und dennoch erfüllt der Text die ästhetischen Ansprüche an ein Kinderbuch.
Zugänglichkeit und Lebensweltbezug: Das Buch greift die Lebenswelt von SuS, wenn überhaupt, nur schwach auf. Entdecker- und Abenteuergeschichten können, müssen aber nicht nachvollziehbar sein für Kinder. Das Buch ist gut darin, einem Kind neue Konzepte nahezulegen und ihm die Vergangenheit näher zu bringen, es fehlt dabei aber der Lebensweltbezug.
Intermedialität und Medienverbund: Als Teil einer Buchreihe von vier Werken, die aber nicht aufeinander aufbauen, sondern eigenständig stehen, liefert «Edison» genug Stoff für die Auswahl und Fortsetzung von Lesesequenzen. Die Bücher sind alle auch als Hörbücher verfügbar, womit die Intermedialität aber auch aufhört.
Illustrationen: Die Illustrationen sind das Aushängeschild des Buches und der ganzen Serie. Sie sind liebevoll, charismatisch und mit vielen Details ausgeführt und laden dazu ein, die Seiten lange anzuschauen und zu untersuchen, um die versteckten Gegenstände und Figuren zu entdecken. Neben der schönen Darstellung liefern sie auch viel Gesprächsstoff und beinhalten neben den ansprechenden Szenerien auch technische Zeichnungen der Erfindungen, die die zwei Mäuse zusammen bauen.
Bei der Auswahl von KJL mit einem Katalog von Kriterien zu arbeiten, erachten wir gerade zu Beginn der Unterrichtstätigkeit im Deutschunterricht als wertvoll. Nicht nur haben LP damit ein handliches Instrument zur Verfügung, welches sie nicht jedesmal neu erarbeiten müssen, sie können damit auch beispielsweise gegenüber Eltern argumentieren, warum sie sich für oder gegen ein bestimmtes Buch entschieden haben. Aus unserer Sicht spricht zudem für einen eigens erstellten Katalog, dass wir damit alle uns wichtigen Aspekte berücksichtigen – gerade Kriterien zur Diversität sind in älteren Katalogen beispielsweise noch nicht abgedeckt. Wir empfehlen Lehrpersonen deshalb, sich auf Basis der hier erarbeiteten Grundlagen die für sie relevanten Kriterien herauszupicken und diese dann nach Bedarf anzupassen.
Für die zwei beurteilten Werke hat sich unser Kriterienkatalog diesbezüglich bewährt, als dass uns beim Buch «Evie und die Macht der Tiere» nach der erstmaligen Lektüre nicht ganz klar war, ob es sich als Klassenlektüre eignen würde. Nach der Beurteilung mittels der sechs Kriterien hat sich dann gezeigt, dass das Buch überall passabel abschneidet, aber bezüglich keinem der Kriterien wirklich heraussticht. Diese Erkenntnis hat dazu geführt, dass wir dieses Buch eher nicht als Klassenlektüre empfehlen würden, wir können uns das Buch aber gut als Pultbuch für SuS des 5./6. Schuljahres vorstellen.
«Edison» halten wir für ein Buch, das wunderbar mit anderen Fachbereichen als Deutsch kombiniert werden kann. Es glänzt damit, Fachinhalte aus den Bezugsdisziplinen Geschichte und Technik zu vermitteln. Gleichzeitig bietet es wenig tatsächliches Lesematerial und wenig Abwechslung für Kinder, die sich nicht für diese konkreten Bereiche interessieren. Wir würden es wohl nicht als Klassenlektüre in der Mittelstufe, sehr wohl aber als unterrichtsbegleitendes Buch zum NMG-Unterricht oder als Buch für Kinder, die technik- oder geschichtsinteressiert sind und noch nicht so schnell lesen können, empfehlen.
Als weiteren Schritt, worauf wir in unserem Artikel nicht eingegangen sind, empfehlen wir die Abklärung, welche hauptsächliche Zielsetzung mit dem Literaturunterricht verfolgt wird. Je nachdem, ob eher die Lesemotivation, die Lesedidaktik oder die Lesesozialisation im Vordergrund steht, könnten die Kriterien unterschiedlich gewichtet werden. So wären z.B. bei einem Fokus auf literarisches Lernen die Kriterien Sprache und Innovativität eher höher zu gewichten, bei einem Fokus auf Lesemotivation eher der Lebensweltbezug.
Arbeitskreis für Jugendliteratur e.V. (o.J.). Deutscher Jugendliteraturpreis 2023/2024. Kriterien der Kritiker*innenjury. Abgerufen von https://www.jugendliteratur.org/_uploads_media/files/djlp_2023_2024_kriterien_der_kritikerjury_121058.pdf [2. Mai 2024].
Baobab Books (o.J.). Kolibri – Der Fragenkatalog. Abgerufen von https://www.baobabbooks.ch/de/kolibri/fragenkatalog [2. Mai 2024]
Kruse, Iris (2010). Figuren, Handlungen und Räume in Text, Ton und Bild. Literarisches und medienästhetisches Lernen in intermedialer Lektüre. In Klaus Maiwald & Petra Josting (Hrsg.), Verfilmte Kinderliteratur. Gattungen, Produktionen, Distribution, Rezeption und Modelle für den Deutschunterricht (S. 177-185). München: kopaed.
Kümmerling-Meibauer, Bettina (1999). Kinderklassiker – eine forschungsorientierte Einleitung. In dies. (Hrsg.), Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur. Ein internationales Lexikon. Band 1 A-K (S. IX-XVI). Stuttgart, Weimar: Metzler.
Richter, Karin & Plath, Monika (2016). „Literarische Sozialisation in der mediatisierten Kindheit. Ergebnisse neuer empirischer Untersuchungen“. In Günter Lange (Hrsg.), Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart. Ein Handbuch (S. 485-507). Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.
Schilcher, Anita & Knott, Christina (2018). “Geeignete Texte auswählen”. In Johannes Wild (Hrsg.), Schritt für Schritt zum guten Deutschunterricht. Seelze: Klett & Kallmeyer.
Eva Hefti und Merlin Kropf sind im 4. Semesters ihres Studiums am IPS der PH Bern, Fokus Zyklus 2.
Die beiden haben in ihrer Kinder- und Jugendzeit begeistert gelesen, Merlin’s Lieblingsreihe war «Das magische Baumhaus», Eva hat sich unter anderem für «TKKG» und das Ballettdrama «Anna» begeistert.