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Hört mir auf mit dem Bauchgefühl!

Nur weil wir uns fortpflanzen können, heisst das nicht, dass wir das Elternsein einfach so beherrschen. Ein Plädoyer für Erziehungsratgeber.
2 Mai 2018
Bild — Michael Peter

«Höre beim Erziehen doch einfach auf Dein Bauchgefühl, anstatt x Erziehungsratgeber zu lesen, das verunsichert Dich nur.» Diesem Ratschlag begegne ich immer wieder – und er macht mich grantig. Unter dem Deckmantel der Hilfestellung zu entspannterem Erziehen wird Eltern, die sich Hilfe suchen, mit solchen Worten zusätzlich ein schlechtes Gewissen gemacht. Wenn ich Rat suche, bin ich offensichtlich mit dem eigenen «Bauchgefühl» nicht zufrieden – oder weiss gar nicht, was es sagt. Mich verunsichern nämlich nicht die Ratgeber, sondern die eigene Zerrissenheit zwischen meiner instinktiven Reaktion auf Geschrei, Gezanke und Ungehorsam (viel zu häufig mit Schimpfen, Drohen und notfalls Anschreien) und dem, was ich rational als den richtigen Ansatz erkannt habe (die Gefühle der Kinder auszuhalten sowie Konflikte und Widerspruch als natürliche und gesunde kindliche Reaktionen anzusehen).

Mich persönlich verunsichern nicht die Ratgeber, sondern die eigene Zerrissenheit zwischen meiner instinktiven Reaktion auf Geschrei, Gezanke und Ungehorsam und dem, was ich rational als den richtigen Ansatz erkannt habe.

Wie viele andere meiner Generation bin ich nach «traditioneller» Art erzogen worden: oft liebevoll und nicht besonders streng, aber Schimpfen und Strafen gehörten dazu, und auf Weinen wurde meist mit Ablenkung oder Ablehnung reagiert. Diese Methoden haben mein Bauchgefühl und somit mein Basis-Erziehungsrepertoire geprägt. Für unsere eigenen Kinder möchte ich einen anderen Weg einschlagen: Einerseits waren die mir bekannten Ansätze bei unseren drei Kindern grösstenteils erfolglos und oft sogar kontraproduktiv. Andererseits stimmen sie nicht mit meiner Vorstellung von respektvoller Kommunikation überein. Aber welchen Weg? Die Rollenvorbilder fehlen grösstenteils, Mütter- und Erziehungsberatungsstellen sind zwar wertvoll, haben mich aber nicht überzeugt mit ihren eher antiquierten Erziehungsratschlägen (Belohnungskleber? Wie soll sich ein Kind nachhaltig von einem Kleber motivieren lassen, wenn dasselbe bei mir schon kein Jahresendbonus schafft?) und im Freundeskreis scheinen viele mit sehr ähnlichen Herausforderungen zu kämpfen.

Belohnungskleber? Wie soll sich ein Kind nachhaltig von einem Kleber motivieren lassen, wenn bei mir dasselbe schon kein Jahresendbonus schafft?

Darum die Suche nach Ratgebern. Ich habe mich lange durch x Erziehungsbücher und -artikel gelesen, bis ich mich endlich angekommen gefühlt habe und im Konzept der respektvollen Erziehung das Vokabular fand, nach dem ich suchte (deren wichtigste Prinzipien sind im Buch «Bedingungslose Liebe jenseits von Belohnung und Bestrafung» von Alfie Kohn sowie auf der Website von Janet Lansbury zu finden). Welche Erleichterung, zu realisieren, dass ich mit meinen Vorstellungen nicht alleine war!

Die nächste Herausforderung wartete aber bereits: Mein Mann hatte Mühe mit den Erziehungsansätzen, die ich an ihn herantrug. «Zu lasch, damit ziehen wir doch Tyrannen heran, es muss doch Konsequenzen geben, wenn …» und auch immer wieder: «Ich mach das doch einfach nach Bauchgefühl.» Durch viele Diskussionen grundlegender Erziehungsfragen haben wir uns in unserer Ehe noch einmal neu kennengelernt. Plötzlich sprachen wir über Werte, die in den vielen Jahren vor Kindern nie ein Thema waren. Und wir merkten, dass wir da oft nicht auf der gleichen Wellenlänge waren – die bisher grösste Bewährungsprobe für unsere Beziehung. Ich bin sehr dankbar, hat mein Mann sich dann doch darauf eingelassen, diesen Weg zu gehen, nachdem er erste Erfolgserlebnisse im Umgang mit unseren Kindern beobachtete. In unser Familienleben hat das viel Ruhe gebracht – auch wenn wir heute noch regelmässig hitzige Diskussionen führen und ich noch lange nicht mit der Gelassenheit erziehe, die ich mir und meinen Kindern wünsche.

Plötzlich sprachen wir über Wertehaltungen, die in den vielen Jahren vor Kindern nie ein Thema waren.

Also: Nur weil wir uns fortpflanzen können, heisst das noch lange nicht, dass wir das Elternsein einfach so beherrschen. In jedem anderen Lebensbereich wird Weiterbildung und Lernen gesellschaftlich hoch geschätzt – es wird höchste Zeit, dass dies auch im Bereich der Erziehung an Anerkennung gewinnt. Denn die Bindung zu unseren Kindern wird sie fürs Leben prägen und auch deren eigenen Beziehungen mitgestalten. Natürlich ist nicht alles mit dem «richtigen» Erziehungsansatz beeinflussbar – die Persönlichkeit des Kindes spielt ebenso eine Rolle wie die familiären Umstände und die vorhandenen Ressourcen (Gesundheitszustand, Trennung, finanzieller Druck etc.). Mir liegt es auch fern, auf eine Rückkehr zur Autoritätsgläubigkeit zu plädieren, wie sie noch vor nicht allzu langer Zeit gang und gäbe war: Wie viele unserer eigenen Mütter haben ein mit schlechtem Gewissen ein schreiendes Baby ausgehalten, nur weil der Ernährungsplan einen Schoppen lediglich alle 4 Stunden vorsah? Den zur eigenen Familie passenden Weg zwischen Intuition und Erkenntnissen von Fachleuten und aus der wissenschaftlichen Forschung zu finden, ist anstrengend. Umso mehr finde ich es grossartig, wenn Eltern sich mit Erziehungsfragen auseinandersetzen, recherchieren und sich anhand von Experten weiterentwickeln wollen.

Ich bin sehr dankbar, gibt es Erziehungsratgeber – auch wenn ich noch lange nicht mit der Gelassenheit erziehe, die ich mir und meinen Kindern wünschen würde.

Hier auf Kleinstadt wollen wir uns aus diesem Anlass in den nächsten Monaten in loser Folge dem Thema respektvolle Erziehung widmen. Wir werden Interviews mit Fachleuten führen und Bücher vorstellen (darunter das oben erwähnte von Alfie Kohn). Eure Themen interessieren uns dabei natürlich auch: Womit kämpft ihr am meisten in Sachen Erziehung? In welchen Situationen hilft euch euer Bauchgefühl? Und wann nicht? Wozu hättet ihr gerne Antworten? Diskutiert mit auf unserer Facebook oder Instagram-Page oder schickt uns eine Mail an hallo@kleinstadt.ch, wenn ihr es lieber vertraulicher mögt.