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Hört doch auf mit diesem Feminismus!

«Gleichstellung ist in der Schweiz erreicht», lesen wir immerzu. Warum das nicht stimmt – und woran wir das in unserem Elternalltag merken.
31 Mai 2023
Bilder — Delia Giandeini (Unsplash)

Die Kommentarspalten unter Artikeln, die den Frauenstreik oder sonst ein Gleichstellungsthema behandeln, sind voll davon: der Behauptung, Gleichstellung sei längst erreicht. Hört mal auf mit diesem Feminismus, ihr habt ja alles, werdet sogar vielerorts bevorzugt, müsst ja nicht einmal ins Militär (Totschlagargument, das auch immer kommt). Seid ihr Frauen denn nie zufrieden?

Nun: Wir würden ja gern aufhören. Wir würden auch gern weniger dieser «Kampfbegriffe» benutzen, die vielen so sauer aufstossen, und uns weniger mit der strukturellen Benachteiligung von Frauen und weiblich gelesenen Personen befassen. Aber, und das ist der Unterschied zwischen uns und Jürg oder Marco aus der Kommentarspalte: Wir haben gar nicht die Wahl. «Das Kernprivileg der Männer ist die Illusion, nicht privilegiert zu sein», sagte Markus Theunert in diesem lesenswerten Interview (abopflichtig). «Ignorance is bliss», Nichtwissen macht selig, lautet ein berühmtes Zitat (eines Mannes) dazu.

Mit dem ersten Kind öffnet sich die Schere

Kürzlich erlebte ich einmal einen Hauch dieses Privilegs. Ich lebte zwei Tage so, wie wohl ein weisser Mittelschichtsmann in den 50er-Jahren lebte. Ich hatte mich bei Freund*innen einquartiert, um in Ruhe zu arbeiten. Sie bekochten mich, wuschen mein Geschirr ab, überliessen mir ein Zimmer. Ich musste nichts – ich war für niemanden verantwortlich und musste niemandes Gefühle regulieren. So musste sich das Leben einst wohl für viele Männer anfühlen, dachte ich für einen Moment. Und für einige gilt das wohl heute noch.

Hat ein Hetero-Paar Kinder, öffnet sich selbst bei sehr gleichberechtigt lebenden Paaren die Schere. Nicht nur im Beruf. Als Standardeinstellung ist die Frau hauptsächlich für alles, was das Kind betrifft, zuständig. Sie liest die Schwangerschaftsbücher, sie hat die Erziehungs-Accounts abonniert, sie sucht die Hebamme, sie richtet die Wohnung ein, sie geht ins MuKi-Singen, sie ist die Ansprechperson der Kita. Im besten Fall «hilft» der Mann, wo er kann. Aber die Verantwortung liegt erst einmal standardmässig bei der Frau, alles andere ist eine Abweichung vom Standard und deshalb zunächst noch anstrengender.

Im besten Fall «hilft» der Mann, wo er kann. Aber die Verantwortung liegt erst einmal standardmässig bei der Frau.

Nicht nur in der körperlichen Belastung und in den geleisteten Arbeitsstunden – in dieser Last der Verantwortung liegt ein entscheidender Unterschied zwischen Müttern und Vätern. Es ist teilweise unmöglich, teilweise einfach verdammt schwer, diese Last tatsächlich gleichmässig aufzuteilen, und fast immer liegt es an den Frauen, das einzufordern und die Männer auch noch über alles sorgsam aufzuklären, ohne ihre Gefühle zu verletzen. Das ist keine Kritik an einem einzelnen Mann. Das ist eine Folge des Patriarchats.

Was soll jetzt dieser Kampfbegriff? Ich sage es euch, weil ich es auch lange nicht wusste. Und weil es wichtig ist, Begriffe zu haben für die Verhältnisse, in denen wir leben, weil wir sonst unsere Erfahrungen nicht richtig benennen können. Wir sind Fische, die nicht wissen, dass sie im Wasser schwimmen.

Das Wasser, in dem wir leben

Unser Wasser ist das Patriarchat. Die Bezeichnung Patriarchat beschreibt ein gesellschaftliches System, in dem Männer die dominierende Rolle innehaben. Es ist ein System, das Macht- und Autoritätsverhältnisse auf der Grundlage von Geschlecht festigt und Frauen sowie marginalisierte Geschlechter unterdrückt. Doch das Patriarchat ist nicht nur ein theoretisches Konzept – es durchdringt alle Aspekte unserer Gesellschaft, angefangen von Familienstrukturen bis hin zu Bildungseinrichtungen und politischen Institutionen. Wer jetzt nach Beweisen ruft, schaue sich kurz die Statistiken zu Vergewaltigungen und Femiziden an (z.B. diesen Artikel).

Warum sollten wir uns alle mit diesem Kampfbegriff vertraut machen? Ganz einfach: Das Patriarchat beeinflusst uns alle. Es schränkt nicht nur Frauen und marginalisierte Geschlechter ein, sondern es schafft auch gesellschaftliche Normen, die uns alle betreffen. Indem wir uns bewusst mit dem Patriarchat auseinandersetzen, können wir beginnen, unsere eigenen Denkmuster zu hinterfragen, Stereotype zu erkennen und aktiv für eine gerechtere und inklusivere Gesellschaft einzustehen. Denn das Patriarchat sind nicht nur «die Männer», auch wir Frauen stützen es. Die Privilegierteren unter uns, weil sie selber davon profitieren – die meisten wohl aber, weil sie es wie der Fisch im Wasser bis heute gar nicht besser wussten.

Das Patriarchat sind nicht nur «die Männer», auch wir Frauen stützen es.

Auch die Gleichstellung unter Eltern kann erst dann gelingen, wenn wir erst einmal anerkennen, dass sie eben noch nicht erreicht ist. Wenn wir sehen, in welchen Verhältnissen wir selber aufgewachsen sind, und was diese für Folgen haben für unser individuelles Handeln. Auf die Familie bezogen heisst das: Frauen tragen standardmässig die Hauptverantwortung für Kinder, Haushalt und Gefühlsregulation der ganzen Familie. Wenn sie nun auch noch zunehmend erwerbstätig sind und mehr von der finanziellen Last schultern, sind sie deswegen noch längst nicht gleichgestellt.

Also: Nein, wir sind nie zufrieden. «Für sozialen Fortschritt sind wir von Menschen abhängig, die nie zufrieden sind», sagt die Politologin Emilia Roig.

Wir hören also nicht auf, lieber Marco, lieber Jürg aus der Kommentarspalte. Wir haben noch nicht einmal richtig angefangen.