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«Früher hatte ich ein schlechtes Bild von Tagesmüttern»

Domenica Lutz hat 2 Söhne und betreut bis zu 6 Tageskinder. Wie?! Wir haben sie alles gefragt, das wir über Tagesmütter wissen wollten.
6 Feb 2020
Bilder — Ulrike Meutzner

Kaum ist die Schwangerschaft bekannt, lautet eine der nächsten Fragen auch schon: «Habt ihr schon einen Kitaplatz?» Kitas sind jedoch nicht die einzige Möglichkeit, ein Kind extern betreuen zu lassen. Gerade Tagesfamilien – in den meisten Fällen Tagesmütter – bieten einen familiären, geschützten Rahmen, um ein Kind für die Arbeitszeit der Eltern in Obhut zu geben. Ausserdem erhalten Eltern in der Stadt Bern auch für Tageselternplätze Betreuungsgutscheine.

Wir haben Domenica Lutz, einer langjährigen Tagesmutter aus Bern, sämtliche Fragen gestellt, die uns zum Thema Tagesfamilie auf der Zunge brannten. Domenica Lutz ist ausgebildete Heilpädagogin, 45-jährig und Mutter zweier Buben (6- und 9-jährig).

Domenica Lutz, ich hatte schon mit einem Kind mehr als genug zu tun. Wie kamen Sie darauf, sich als Mutter eines Kleinkindes auch noch als Tagesmutter zu bewerben?
Als wir Eltern wurden, waren wir grad frisch vom Reisen heimgekehrt, und mein Partner war bei der Jobsuche einen Tick schneller gewesen. Einen Kitaplatz in der Stadt Bern zu finden, war damals nahezu unmöglich. Wir hatten auch keine Grosseltern, die regelmässig hätten hüten können. Also bin ich mit meinem Sohn daheim geblieben. Das hat für uns total gestimmt. Irgendwann merkte ich aber: Ich hätte noch Kapazität. Wenn ich schon daheim bin, könnte ich auch ein weiteres Kind betreuen. Zudem würde die Gesellschaft meinem Kind sicher guttun. Das war die Motivation.

Sie haben sich dann als Tagesmutter angemeldet, mussten einen Bewerbungsprozess durchlaufen.
Ja. 2012 kamen dann als erste Tageskinder ein Geschwisterpaar zu uns, jeweils zwei Tage pro Woche. Das fand ich total gut, empfand es als sehr bereichernd. Mein Sohn hatte zwar manchmal eher Stress, wenn die Kinder kamen, aber ich habe gemerkt, dass ihm die Auseinandersetzung mit anderen Kindern, denen er nicht ausweichen kann, durchaus gut tat.

Waren Sie immer überzeugt, dass dies Ihrem Sohn zumutbar ist?
Ja, es war ein positiver Stress: Er musste sich darauf einlassen und sich mit ihnen auseinandersetzen, und er hatte nicht immer meine volle Aufmerksamkeit. Aber wir achteten darauf, dass er stets noch Rückzugsmöglichkeiten hatte. Wir haben beispielsweise immer einzelne Spielsachen weggeräumt, die er nicht teilen wollte. Und er durfte immer eine gemeinsame Aktivität wünschen. So behielt er trotzdem ein wenig seinen besonderen Status.

Sind Sie da intuitiv vorgegangen, oder gibt es für Tageseltern besondere Empfehlungen, wie man damit umgeht, damit das Gefüge zwischen eigenen und «fremden» Kindern gelingt?
Im Basiskurs von leolea wird das besprochen, insbesondere im Hinblick darauf, dass die eigenen Kinder der Tageseltern nicht zu kurz kommen. Ich hatte da den Vorteil, dass ich früher mit Kindern mit geistiger Behinderung gearbeitet habe. Die Arbeit mit den Kindern, so speziell sie waren, hat mir immer sehr gefallen. Ihre unterschiedlichen Persönlichkeiten zu sehen und daraus ein Gruppengefüge zu schaffen – das fand ich spannend. Bei der Tagesfamilie geht es letztlich auch immer darum.

Sind die Geschwister noch immer bei Ihnen?
Nein. Die Familie ist weggezogen. Und ich wurde erneut schwanger. Bevor ich weitere Kinder betreute, wollte ich zuerst schauen, was da für ein neues Menschlein zu uns kommt.

Und, was ist es für eins?
Ganz anders als das erste, einer, der immer gern andere Kinder um sich herum hat. Es ergab sich dann, dass ein Nachbarskind, das mit meinem älteren Sohn in den Kindergarten kam, eine Betreuung benötigte. Gleichzeitig merkte ich, dass ich die Kapazität für ein kleines Tageskind hatte. 2015 kam deshalb ein neues Kind zu uns, es war sehr intensiv, das Kind war ein Frühchen gewesen und hatte eine besondere Persönlichkeit. Es blieb bei uns, bis es vergangenen Sommer in die Kita kam. Das Mädchen war wie eine kleine Schwester für meinen jüngeren Sohn, und er sagt noch jetzt manchmal, dass er sie vermisst. Es ist leider illusorisch zu meinen, man pflege dann weiterhin engen Kontakt, das geht im Alltag einfach unter. Aber es gibt so kleine Momente im Alltag, bei denen wir an das Mädchen denken und schmunzeln müssen.

Und wie viele Kinder betreuen Sie heute?
Unterdessen betreue ich sechs Kinder aus dem Quartier, vier Gspänli meines jüngeren Buben, zwei davon haben noch jüngere Geschwister. Jeweils ab Kindergartenschluss bis gegen Abend sowie an einem Vormittag. Maximal sind – inkl. unseren eigenen – fünf Kinder bei uns, vor allem zum Mittagessen.

Das stelle ich mir fast wie eine Kita vor!
Tatsächlich wurde ich schon gefragt, ob wir die seien «mit der Kita» (lacht). Wir wohnen in einem sehr lebendigen Quartier, in der Schlossmatte in Holligen. Ich habe schon zahlreiche Anfragen aus dem Quartier erhalten, ob ich nicht noch Kapazität hätte für weitere Kinder.

Wie läuft das, mit sechs Tageskindern und zwei eigenen?
Sie sind ja nie alle gleichzeitig da. Und sie kommen untereinander sehr gut aus, kennen sich aus dem Quartier und Kindergarten. Am Anfang hätte ich mir das nie vorstellen können, so viele auf einmal, das hältst du ja nicht aus! (lacht) Aber jetzt sind sie schon etwas älter, recht selbständig, und können sich gut selber «vertörlen».

Das klingt so ziemlich nach der Idealsituation. Aber es gibt sicher auch schwierige Momente, in welchen sie sich streiten …
(lacht) nein, das gibt es nie! Nun aber im Ernst: Natürlich gibt es räumliche Grenzen: Wir wohnen in einer 3,5-Zimmer-Wohnung. Andererseits beschäftigt mich manchmal die Lautstärke. Und letztlich sind Konflikte manchmal nicht einfach zu bewältigen. Das ist ein Unterschied von der Kita zur Tagesfamilie: Dort sind alle quasi «fremd», es ist neutraler Boden, die Wohnung, die Spielsachen gehören niemandem. In der Tagesfamilie ist es anders: Meine Söhne sind natürlich die «Chefs», sie haben einen Vorsprung, sie wohnen und leben ja da, es ist ihr Zuhause. Da kommt es auch auf die Persönlichkeit der Tageskinder an, wie gut das funktioniert. Momentan ist die grosse Herausforderung, dass zwei der Kindergartenkinder gerne die Anführer sind – welches setzt sich durch? Zudem sind die Kinder ja oft auswärts sehr angepasst, aber daheim lassen sie dann den Gefühlen freien Lauf. Deshalb ist es meistens mein Sohn, der als erster wütend wird. Das ist für mich manchmal nicht ganz einfach, weil er ja mein eigenes Kind ist. Ich will ihn nicht vor den anderen blossstellen, und doch liegt das nicht drin.

Ich stelle mir das sehr schwierig vor. Als Mutter ist man ja Partei.
Nicht zwingend: Ich merke oft, dass ich bei meinen Kindern am Mittagstisch beispielsweise strenger bin.

Können Sie zwischendurch mal kurz eine Pause machen?
Selten lese ich mal zwei Seiten in einem Buch. Aber im Grunde bin ich immer präsent, ich beobachte das Geschehen, das Spielen der Kinder, während ich die Küche aufräume, etc. Ich lasse die Kinder gerne selbstständig spielen, habe aber immer eine Idee bereit, was wir gemeinsam machen könnten. Ich bringe mich dann ein, wenn ich merke, dass sie einen Streit nicht alleine lösen können, wenn sie nicht mehr wissen, was sie spielen sollen.

Gab es auch schon Notfälle?
Notfälle zum Glück nie, jüngst aber zweimal kleinere Blessuren. Einmal erhielt ich einen Anruf aus dem Kindergarten, eines meiner Tageskinder hatte sich verletzt und der Kindergärtnerin gleich gesagt: «Du musst die Domenica anrufen!» – Das war für mich ein Vertrauensbeweis, dass ein Kind in einer Notsituation sofort auf mich verwies, das ging mir sehr nahe. Wir gingen dann zusammen zum CityNotfall.

Erhalten die Eltern auch immer einen kleinen Tagesbericht, wie bei einer Kita?
Ja, die Kinder werden jeweils abgeholt, da gibt es immer kurz ein Gespräch. Wir kennen uns ja eh aus der Nachbarschaft. Ich biete zudem einmal im Jahr ein Elterngespräch an, da kann man ein wenig reflektieren, wie es allen geht mit dieser Situation.

Gab es schon einmal ein Problem, dass Sie ein Gespräch suchen mussten? Unterschiedliche Erziehungsvorstellungen vielleicht?
Das habe ich noch nie erlebt. Wenn es da viele Reibereien gäbe, wüsste ich nicht, ob ich noch so Spass hätte. Es «gyyget» einfach auf allen Ebenen gut, ich finde die Kinder ganz toll, und auch mit den Eltern funktioniert es super.

Sie sind da wohl auch eher eine Ausnahme: Die klassische Tagesmutter hat vermutlich keinen pädagogischen Hintergrund.
Da habe ich vermutlich einen Vorteil, ja. Aber für mich ist auch immer klar, dass ich mich an leolea wenden könnte, wenn ich irgendwo Unterstützung benötigen würde.

Wie viel verdienen Sie als Tagesmutter?
Ich erhalte 6.70 Franken brutto pro Kind und Stunde, die Mahlzeiten werden zusätzlich verrechnet. Es gibt da ein fixes Tarifraster. Bei möglichen 5 Kindern gleichzeitig ergäbe das immerhin einen Stundenlohn von 33.50 Franken plus Mahlzeitenvergütung.

Das ist nicht viel.
Klar, ich würde in meinem ursprünglichen Beruf als Heilpädagogin ein Vielfaches verdienen.(lacht) Aber für unser Familiensystem ist es momentan so einfach perfekt, weil ich immer da bin – das bringt sehr viel Ruhe in die Familie. Meiner Meinung nach sollte man nicht rein wirtschaftlich motiviert als Tagesmutter arbeiten, sondern man muss vor allem Freude haben an der Arbeit und dem Zusammensein mit den Kindern.

Was gibt es Ihnen denn?
Ich empfinde es als Privileg, als Geschenk, diese Kinder betreuen zu dürfen, mich immer wieder auf neue Persönlichkeiten einzulassen und ihre Entwicklung mitverfolgen zu dürfen.

Sie haben Ihre Kinder immer selber betreut. Wäre für Sie eine Fremdbetreuung in einer Kita oder Tagesfamilie überhaupt infrage gekommen?
Wir wollten ja ursprünglich einen Kita-Platz. Aber eine Tagesmutter wäre für mich nie infrage gekommen! (lacht) Ich hatte damals ein schlechtes Bild von Tagesmüttern. Im Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, gab es eine Tagesmutter, das fand ich als Kind furchtbar. Das habe ich sehr unreflektiert mitgenommen ins Erwachsenenalter. Dieses Vorurteil sass ganz tief. Ich begegne ihm selber auch noch, wenn ich sage, «Ich arbeite als Tagesmutter».«Waaas, duuu?», fragen die Leute dann ganz erstaunt. Wenn man dann nachforscht, was denn die Vorstellung einer Tagesmutter ist, kommen ganz lustige Aussagen, das Klischee der Matrone zum Beispiel.

Was sind denn heute noch die Ängste, die Ihnen begegnen?
Vor dem familiären Rahmen haben einige Respekt. Man hat das Gefühl, in einer Kita sei alles viel stärker kontrolliert und reguliert. Viele Leute glauben auch, ein Kind werde nur in der Kita gefördert. Bei der Kita braucht man meiner Meinung nach mehr Vertrauen in eine Institution als in eine Person. In der Tagesfamilie schaut mir tatsächlich niemand zu: Ich rede manchmal den ganzen Tag nicht mit einem Erwachsenen. Man ist schon in gewisser Hinsicht allein. Das erfordert sehr viel Vertrauen von den Eltern. Man kann ja nichts Wertvolleres abgeben als das eigene Kind! Deshalb ist der umfassende Bewerbungsprozess bei Tageseltern so wichtig, das Abklären und Kennenlernen und der regelmässige Austausch mit meiner Koordinatorin. Ich bin überzeugt, dass Kinder auch in der Tagesfamilie alles mitbekommen, was sie brauchen.

Haben Sie je ein Tageskind abgelehnt, oder wurden Sie als Tagesmutter abgelehnt?
Nein, die Vorauswahl war da sehr sorgsam, die erfahrenen Koordinatorinnen machen das sehr gut.

Worauf sollen Eltern bei der Auswahl einer Tagesfamilie achten?
Natürlich müssen die Rahmenbedingungen organisatorisch und logistisch stimmen, man sollte ähnliche Vorstellungen haben, was das Essen, Rausgehen, TV-Schauen etc. betrifft. Aber am Ende ist es auch ein Bauchentscheid. Das Gefühl muss gut sein, man muss das Kind gerne dorthin bringen. Dann geht es auch selber gerne. Ich selber wäre sehr aufmerksam bei der Auswahl. (lacht)

Wie man eine Tagesfamilie findet

In Bern vermittelt leolea seit 2006 Tageseltern. Die Trägerschaft hat eine Leistungsvereinbarung mit der Stadt Bern. Die Koordinatorinnen von leolea organisieren bei Interesse einen ersten Kontakt, vermitteln die Betreuungspersonen und kümmern sich um deren Aus- sowie die regelmässige Weiterbildung, wie z.Bsp. die jährlichen Notfallkurse, aber natürlich auch pädagogische Themen. Zudem stellen sie mit Kursen, Gesprächen, Merkblättern und (unangekündigten) Hausbesuchen bei den Betreuungsfamilien sicher, dass die Qualitätsstandards von leolea erfüllt werden – von den Mahlzeiten bis zur kindersicheren Umgebung. Momentan sind fast 50 Betreuungspersonen in der Stadt Bern tätig, und knapp 30 im Thuner Westamt, die maximal 5 Kinder unter 12 Jahren betreuen (am Mittagstisch dürfen es mehr sein). Die Nachfrage nach dieser Betreuungsform steigt, auch dank der Möglichkeit, dafür Betreuungsgutscheine zu erhalten.
www.leolea.ch

Dieser Beitrag entstand in Zusammenarbeit mit leolea.