Vorbemerkung: Die Links im Text verweisen auf entsprechende Artikel oder Podcasts von Janet Lansbury, diese sind nur auf Englisch verfügbar. Wer lieber auf Deutsch liest: Google Translate übersetzt Webseiten in recht guter Qualität.
WWJD? Als ich diese Abkürzung in verschiedenen Eltern-Facebookgruppen entdeckte, dauerte es eine Weile, bis ich verstand, wofür sie steht: «What would Janet Do? – Was würde Janet tun?» Dass sie ihre eigene Abkürzung hat, spricht für sich: Janet Lansbury ist Mutter von drei Kindern im Alter von 25, 21 und 16 Jahren und setzt sich seit über 20 Jahren für RIE ein. RIE ist die elegante Abkürzung des eher sperrig «Resources for Infant Educarers» genannten Erzieungsansatzes. Der Educaring-Ansatz wurde von der Kleinkinderzieherin Magda Gerber entwickelt, einer Schülerin von Emmi Pikler.
Janet Lansburys Fans nennen ihre umfangreiche Website liebevoll den «Janet Lansbury-Strudel», ihre Facebookseite hat über 300’000 Likes, und ihr Podcast «Unruffled» ist einer der am meisten heruntergeladenen Eltern-Podcasts der USA.
Ich mag Janets Arbeit wegen ihrer Klarheit, des grossen Themenspektrums und der Präzision, mit der sie Leserfragen beantwortet. Ihre Erkenntnisse haben mir bei ganz spezifischen Themen geholfen, wie zum Beispiel die Kinder in der Kita einzugewöhnen oder ihnen Medikamente zu verabreichen. Darüber hinaus unterstützt mich RIE aber auch darin, die Verhaltensweisen meiner Kinder in einem neuen Licht zu sehen und mein Verhalten ihnen gegenüber nachhaltig zu verändern.
Kürzlich führte ich mit Janet Lansbury ein Interview über die Grundsätze von RIE, über die häufigsten Elternfragen und über die Strategien, welche sie Eltern empfiehlt, die mit der Umsetzung der RIE-Grundsätze Schwierigkeiten bekunden.
Janet Lansbury, wie würden Sie «Educaring» jemandem erklären, der noch nie davon gehört hat?
Educaring betrachtet Neugeborene und Kinder als eigenständige Personen auf einer einzigartigen Reise. Das heisst, wir Eltern und Betreuungspersonen behandeln sie mit dem allergrössten Respekt. Wir sagen einem Baby beispielsweise: «Ich werde Dich jetzt aufheben», damit das Kind versteht, dass es an einer Interaktion teilnimmt. Dann beobachten wir, wie das Kind reagiert, und warten auf seine Bereitschaft. RIE hilft ab der Geburt, eine Beziehung zwischen zwei Menschen aufzubauen. Dieser Artikel fasst die Prinzipien von RIE zusammen und zeigt neun Wege, wie dieser Respekt in der Beziehung zum Kind umgesetzt werden kann.
Was sind typische Fragen oder Probleme, die Sie von Eltern hören?
Eltern von Neugeborenen sind vor allem mit den Themen Schlaf und Schreien beschäftigt. RIE betrachtet Schreien als Form der Kommunikation und ermutigt Eltern, auf das Schreien ihres Babys mit Neugierde statt mit Angst zu reagieren. Die grösste Herausforderung für Eltern ist es, Kindern zu erlauben, dass sie ihre Gefühle fühlen dürfen. Mein Ratschlag ist: Lasst den Kindern ihre Gefühle! Das ist ziemlich das Gegenteil davon, wie die meisten Menschen intuitiv reagieren. Aber: RIE befürwortet nicht, Babys schreien zu lassen – es geht darum, dass sie schreien dürfen, das sind zwei sehr unterschiedliche Dinge.
«Die grösste Herausforderung für Eltern ist es, Kindern zu erlauben, dass sie ihre Gefühle fühlen dürfen.»
Neuen Eltern empfehle ich, ab Geburt klare Tagesstrukturen zu schaffen. Das hilft dem Neugeborenen dabei, Sicherheit, Selbstwirksamkeit und Selbstvertrauen zu gewinnen – es ist ein Weg, das Kind zu befähigen. Wir respektieren Kinder gleichermassen wie Erwachsene und ermöglichen ihnen, aktive Teilnehmer in ihrem Leben zu sein. Aber auch wenn man mit RIE nicht ab Geburt begonnen hat, ist es möglich, diese Grundsätze einzusetzen. Es ist nie zu spät für respektvolle Erziehung.
Eltern von Kleinkindern stellen mir eine ganze Palette von Erziehungsfragen. Wie soll ich damit umgehen, wenn mein Kind schlägt oder beisst? Warum widerspricht es mir? Was soll ich tun, wenn es übertriebene Reaktionen auf Kleinigkeiten hat? Und warum kooperiert es nicht mit mir? In diesem Alter haben viele Eltern das Gefühl, dass sie Hilfe in der Erziehung brauchen.
Für ältere Kinder macht RIE keine spezifischen Vorschläge, aber der Grundgedanke gilt nach wie vor. Educaring ist ein Weg, Kinder zu sehen, unsere Rolle als Eltern zu verstehen, und der Ansatz hilft uns, eine respektvolle Beziehung mit unseren Kindern zu entwickeln – das ist gültig bis an unser Lebensende! Eltern mit älteren Kindern stellen mir oft Fragen zu Verhaltensproblemen, Geschwisterkonflikten oder bei Fragen mit der Sozialentwicklung.
Welches sind die häufigsten Vorbehalte und Missverständnisse im Zusammenhang mit RIE?
Dass wir Babys einfach schreien lassen und sie vernachlässigen, indem wir sie selbständig spielen lassen. Wie ich oben schon erwähnt habe, entspricht dies überhaupt nicht den Tatsachen. Nicht alle Leute verstehen, dass RIE ein sehr ganzheitlicher und nuancierter Ansatz ist. Ein schreiendes Baby braucht keine sofortige Abhilfe. Wirklich respektvoll ist es, herauszufinden, was mit dem Kind los ist und sich mit dem Kind als Person auseinanderzusetzen. Gerade auf Kinder, die noch nicht sprechen, projizieren wir rasch unsere eigenen Ängste und Befürchtungen. Diese Kritik an RIE basiert also vorwiegend darauf, dass ein Kind nicht als bewusste und empfindende Person betrachtet wird, die mit ihren Eltern und Betreuungspersonen in eine mentale Interaktion eingehen kann.
«Gerade auf Kinder, die noch nicht sprechen, projizieren wir rasch unsere eigenen Ängste und Befürchtungen.»
Ein anderes Missverständnis des Educaring-Ansatzes ist, dass er sehr laissez-faire sei. Im Gegenteil: RIE ist ein ziemlich strikter Ansatz, was Grenzen angeht. Umgesetzt werden diese Grenzen aber auf eine sehr liebevolle und respektvollen Art. Um diese Feinheiten zu verstehen, braucht es eine Weile.
Wenn wir von Grenzen sprechen: Ich würde gerne eine Situation aus unserem Familienleben ansprechen, die mir Mühe bereitet. Einer unserer Söhne beklagt sich täglich über das Nachtessen. Wenn er hört, was wir essen werden, protestiert er, er verkündet, dass er nichts essen werde und verbreitet eine schlechte Stimmung vor dem Abendessen. Nach einer Weile am Tisch isst er dann sein Essen jedoch immer auf und mag es auch. Ich wünsche mir friedliche Mahlzeiten, und das ständige Motzen nervt mich. Was würde Janet tun?
In Magda Gerbers Welt war es so: Man bringt die Kinder ins Bett und geniesst ein schönes Nachtessen mit dem Partner. Haha! Nein, natürlich können Sie mit den Kindern essen, ich sehe hier zwei Themen: Erstens geht es nicht ums Essen, sondern das «Motzen» ist für Ihren Sohn ein Kanal, um seine Gefühle loszuwerden. Zweitens denke ich, dass die Erwartung eines gemütlichen Nachtessens mit einem von der Schule ermüdeten Kind problematisch ist.
«Es geht nicht ums Essen. Das ‹Motzen› ist für Ihren Sohn ein Kanal, um seine Gefühle loszuwerden.»
Betrachten Sie die Situation wie einen Wutanfall – sein Verhalten ist nicht in Ihrer Verantwortung, er braucht diesen Moment, um Dampf abzulassen. Die Tatsache, dass es Sie stört, stiftet ihn noch mehr an, sich zu beschweren. Ihre Grenze ist klar: Sie werden kein anderes Essen anbieten. Ansonsten sollten Sie sich nicht ärgern lassen. Vielleicht ist ein gemütliches Nachtessen am Wochenende möglich, wenn er weniger müde ist. Mein Ratschlag ist also einfach, aber nicht unbedingt einfach umzusetzen: Stehen Sie darüber!
«Mein Ratschlag ist einfach, aber nicht unbedingt einfach umzusetzen: Stehen Sie darüber!»
Wie Sie sagen, sind gewisse der Methoden von RIE nicht einfach umzusetzen. Mir kommt es so vor, als läge ein Grossteil der Veränderungsarbeit vor allem an uns Eltern. Was empfehlen Sie Eltern, die Mühe bekunden, respektvoll zu kommunizieren und dazu tendieren, in alte Muster mit Schimpfen und Bestrafungen zurückzufallen?
Gut auf sich selber zu achten ist ein sehr wichtiges Element, das insbesondere viele Mütter von kleinen Kindern vernachlässigen. Und idealerweise gehört regelmässige Selbstreflektion zum Elternsein. Ich mache ein Beispiel: Sie haben Ihr Kind angeschrien. Die erste Reaktion ist oft, sich selber dafür zu kritisieren. Das hilft aber niemandem. Erst wenn Sie es schaffen, sich selber zu lieben, können Sie Fortschritte machen. Dann können Sie sich ein paar Fragen stellen: Was ist da für mich passiert? Was habe ich in meinem Kind gesehen? Hatte ich das Gefühl, dass das ein schreckliches Kind ist, das ausser Kontrolle ist? Und habe ich mich selber als schreckliche Mutter oder Vater gefühlt? Hatte ich den Eindruck, dass mein Kind gemein zu mir ist? Diese Fragen gilt es zuerst zu verstehen und anzuerkennen, dass wir unsere eigenen Gründe haben für eine solche Reaktion.
Und dann? Gibt es noch mehr Möglichkeiten als Selbstreflexion?
Es ist ein lebenslanger Prozess, weil Beziehungen lebenslange Prozesse sind. Und für viele von uns fühlt sich die Elternrolle als so wichtig und selbstdefinierend an. Aber niemand ist perfekt darin. Der erste wichtige Schritt ist also, sich selber gnädig zu sein. Häufig werden solch starken Gefühle und Reaktionen von Erlebnissen in der eigenen Kindheit ausgelöst, weil wir beispielsweise selber nicht mit dem ganzen Spektrum unserer Emotionen aktzeptiert wurden. In einem zweiten Schritt nehmen wir dann bildlich gesprochen dieses kleine Mädchen oder den kleinen Jungen in uns an der Hand, übergiessen sie mit bedingungsloser Liebe und versorgen sie mental an einem sicheren Ort.
«Für viele von uns fühlt sich die Elternrolle als so wichtig und selbstdefinierend an. Aber niemand ist perfekt darin.»
Dann hilft es beispielsweise, Podcasts zu hören, wo gewisse Verhaltensweisen aufgezeigt werden, das ist oft hilfreicher, als nur darüber zu lesen. In einem nächsten Schritt üben Sie, das eigene Kind mit anderen Augen zu sehen, beispielsweise dass sie nach einem Schul- oder Kitatag nicht ihr bestes Verhalten zeigen werden. Bereiten Sie sich mental darauf vor, wie Sie seinen Verhaltensweisen und möglichen Emotionen begegnen werden. Und zum Schluss überlegen Sie sich, was Sie tun können, wenn Sie in Ihre alten Verhaltensweisen zurückfallen. Wenn Sie es vermasselt haben, entschuldigen Sie sich bei Ihrem Kind und analysieren die Situation. Wichtig ist, alle Ängste und die Scham aus solchen Erlebnissen herauszunehmen. Seien Sie geduldig mit sich selber. Und denken Sie daran, dass Kinder sich sofort Ihrem neuen Verhalten ihnen gegenüber anpassen werden.
Sie arbeiten seit mehr als 20 Jahren als RIE-Kursleiterin und -Beraterin. Was hat sich in dieser Zeit aus Ihrer Sicht verändert?
RIE ist populär geworden. Als ich mit meiner Website begonnen habe, war ich glücklich mit 50 Besucherinnen auf meiner Website pro Tag. Heute sind es fast 15’000 täglich. Zu Beginn meiner Arbeit hat sich alles um Attachment Parenting gedreht, RIE war nur eine kleine zusätzliche Stimme, und ich habe nie erwartet, dass dieser Ansatz so verbreitet wird. Ich war sehr überrascht zu sehen, wie viele Eltern sich davon angesprochen fühlen. Einige meiner Artikel, beispielsweise der oben erwähnte zum Thema Schreien oder über das freie Spielen, wurden zu Beginn sehr kontrovers diskutiert. Heute kommt diesen Texten viel mehr Akzeptanz entgegen. Ich sehe also eine grosse Veränderung im Verständnis von Eltern und Betreuungspersonen, wozu Kinder fähig sind und wie man mit ihnen respektvoll kommunizieren kann. Das freut mich sehr!
Habt ihr Erfahrungen mit RIE? Was hat Euch geholfen? Wo seht ihr Schwierigkeiten an diesem Ansatz? Welche anderen Erziehungsansätze findet ihr hilfreich? Oder erzieht ihr ohne Ratgeber?