Evelyn Podubrin hat die erste Online-Schwimmschule Deutschlands gegründet. Dort begleitet sie jährlich Hunderte Kinder und ihre Eltern auf ihrem Weg zum sicheren Schwimmen. Die Erziehungswissenschafterin und leidenschaftliche Freitaucherin vertritt dabei einen völlig anderen Ansatz als klassische Schwimmschulen: Ihrer Meinung nach wissen die Kinder selber am besten, wie sie sich bewegen müssen. Was sie brauchen, ist in erster Linie ein sicheres Umfeld und eine gute Begleitung.
Evelyn Podubrin, mein 6-jähriger Sohn schwimmt schon ganz eifrig, allerdings einfach wie ein kleiner Hund. Muss er noch in einen Schwimmkurs, damit er die richtige Technik erlernt?
Da stellen Sie zwei Fragen in einer: Gibt es ein richtiges Schwimmen? Und gibt es ein richtiges Lernen? Beginnen wir mit der zweiten Frage: Gibt es überhaupt ein «richtiges» Lernen? Laut der neuesten Gehirn-, Motivations- und Lehr-Lernforschung lernen Kinder am erfolgreichsten, wenn sie sich erstens wohlfühlen, zweitens entwicklungsgemässe physische Bedingungen vorfinden, drittens eine gute Beziehung zu ihrem Begleiter, ihrer Begleiterin haben und diese Begleitung fühlt, welche emotionale und kognitive Unterstützung das Kind braucht.
Das ist ziemlich viel für einen Tag im Schwimmbad …
Genau (lacht). «Richtig» wird das Lernen, wenn ein Kind im freien Spiel aquatische Kompetenzen selbständig und in einem zufriedenen emotionalen Zustand entwickelt. Unsere Aufgaben als Eltern sind recht einfach: Erstens zu spüren, wie es meinem Kind geht. Fühlt es sich wohl? Zweitens: Spielt es frei? «Frei» heisst nicht «alleine», sondern: Hat es eigene Spielideen und kann es seine Ideen in der aktuellen Umgebung umsetzen? Wenn sich ein Kind emotional wohlfühlt und die Umgebung zu seinen Bedürfnissen passt, dann macht jedes Kind genau die Erfahrungen, die am und im Wasser zum Schwimmen, Springen und Tauchen führen. Jedes Kind wird seine individuellen Bewegungsmuster entwickeln.
«Viele Kinder wählen das Hundeln als Zwischenform, weil der Kopf im Verhältnis zum Körper sehr gross ist. Sie bewegen sich natürlicherweise sehr senkrecht – oder sehr viel mit dem Kopf unter Wasser.»
Kann man die Kinder also einfach spielen lassen, und sie lernen schon schwimmen?
Nein, das reicht nicht aus, um ein sicherer Schwimmer zu werden. Ungefähr ab dem späten Grundschulalter brauchen Kinder gezielte Angebote, um die Basiskompetenzen weiter- und weitere 13 Kompetenzen vollständig zu entwickeln. Ein gezieltes Angebot bedeutet immer noch nicht, das Kind zu unterrichten. Es ist ein Setting, das bestimmte Erfahrungen sehr wahrscheinlich macht.
Aber ich verstehe Sie richtig: Ich sollte meinem Kind das Hundeln nicht abgewöhnen – es ist vielleicht gerade genau richtig?
Schauen wir mal in die Forschung über das Schreibenlernen. Kinder, die in ihrer Schreibweise nicht korrigiert werden, nähern sich in vielen Zwischenschritten der Normschrift an. Auch beim Bewegen entwickeln Kinder Zwischenformen, verfeinern sie und legen Formen, die nicht mehr sinnvoll sind, ab. Das «Hundeln» ist solch eine Zwischenform, eine organisierte Vor-Form zum Kraulen, die jedoch wie «Pfert» mit «t» geschrieben wie ein Fehler behandelt wird. Lassen wir Kinder diese «Fehler» machen, lassen wir sie ihre eigene Bewegungsordnung finden, entwickeln sie stufenweise eine hervorragende Bewegungsökonomie im Wasser; beim Schreiben die Normschrift. Viele Kinder wählen das Hundeln als Zwischenform, weil der Kopf im Verhältnis zum Körper sehr gross ist. Sie bewegen sich natürlicherweise sehr senkrecht – oder sehr viel mit dem Kopf unter Wasser.
Die meisten von uns sind mit dieser Fixierung auf ein Ziel gross geworden. Wie können wir uns von dieser Vorstellung lösen?
Erstens: Werden Sie sich bewusst, welche Vorstellung Sie vom Schwimmen haben. Zum Beispiel über das eigene Bewegungsmuster des Kindes: Kinder, die hundeln, werden häufig als Nichtschwimmer bezeichnet, weil bei uns das Brustschwimmen mit Schwimmen gleichgesetzt wird.
Im zweiten Schritt ist es wichtig, sich mit den Zwischenformen auseinanderzusetzen. Meine eigene Forschung über das Schwimmenlernen der Moken-Kinder – einem indigenen Seenomadenvolk – zeigte, welche Zwischenformen Kinder wählen, wenn sie sich emotional sicher fühlen und im stehtiefen Wasser selbständig spielen dürfen. Als Begleiter im Wasser sollte man eine Vorstellung über diese Zwischenschritte haben, um sie überhaupt zu erkennen als etwas, das mit dem Schwimmenlernen zu tun hat. Sonst werte ich das Tun des Kindes ab und sage: Es plantscht ja nur!
Drittens: Setzen Sie sich mit der Forschung über das Ertrinken auseinander. Laut einer internationalen Arbeitsgruppe, gegründet auf der «World Conference On Drowning Prevention» 2013, müssen Kinder 15 Kompetenzen entwickeln, um ab dem Jugendalter sichere Schwimmer zu sein. Jede voll entwickelte Kompetenz wird über unzählige Zwischenformen erreicht.
Und schliesslich sollte ich eine Vorstellung haben, wo mein Kind steht, wofür es sich interessiert, welche physische Umgebung gerade sinnvoll ist. Das muss nicht immer ein Schwimmbad sein!
Es ist sehr schwierig als Eltern, sich von diesen Erwartungen vom «richtigen» Schwimmen zu lösen. Wie kann man das angehen?
Wir erwarten von unseren Kindern, dass sie sich so und so verhalten, so und so spielen, sogar so und so fühlen. Wir haben einen Entwurf einer glücklichen Kindheit. Zum Beispiel im Schwimmbad: Wir gehen davon aus, dass Kinder Wasser mögen und fröhlich sein sollen. Da kann man doch nicht traurig irgendwo in der Ecke sitzen! Die erste Stufe ist es, sich der Erwartungen, die ich an das Verhalten und die Emotionen meines Kindes stelle, bewusst zu werden. Unseren Erwartungen liegen immer Sorge und Angst zugrunde. Wenn ich von meinem Kind erwarte, dass es im Schwimmbad fröhlich ist, dann habe ich die Sorge, dass ich komisch angeschaut werde, wenn es «nur» am Beckenrand sitzt. Und ich bin nur dann eine tolle Mutter oder ein toller Vater, wenn mein Kind fröhlich plantscht und spielt. Oft vergleichen wir uns mit anderen Eltern.
Der zweite Schritt also wäre, dass ich authentisch sagen kann: Ich bin so wie ich bin völlig in Ordnung.
Das ist der Grund, warum die Eltern meine Schwimmkurse als Persönlichkeitsentwicklung wahrnehmen. Natürlich lernen die Kinder dabei Schwimmen. Jedoch merken die Eltern durch den Kurs auch, wie sie sich selbst entwickeln. Und sie erleben eine positive Veränderung in der Beziehung zu ihren Kindern.
Neben solcher Vergleiche gibts ja aber auch ganz konkrete Erwartungen oder Sorgen: Ich will in erster Linie nicht, dass mein Kind in Gefahr gerät oder ertrinkt.
Die meisten Menschen gehen davon aus, dass der Grund für das Ertrinken darin liegt, dass sich jemand nicht über Wasser halten kann. Laut der aktuellen Forschung ist ein Mensch aber dann ein sicherer Schwimmer oder eine sichere Schwimmerin, wenn sie oder er diese 15 Kompetenzen erlangt hat. Dazu zählen zum Beispiel die Einstiegs- und die Ausstiegskompetenz. Studien über Ursachen für das Ertrinkens zeigen, dass Ertrinkungsopfer nicht in der Lage waren, das Wasser zu verlassen. In einer Studie mit jungen Erwachsenen hat die Hälfte der Teilnehmenden ein Becken mit einer Kante von 41 Zentimetern nicht verlassen können. Sie sind zuvor 5 Minuten mit einer Schwimmweste geschwommen.
Wenn ja jemand bis zum Rand des Wassers kommt, kann er ja um Hilfe rufen.
Wir wissen schon seit langem, dass über die Hälfte von Ertrinkungsunfällen in der Nähe einer sicheren Ausstiegsstelle geschieht. Wir meinen, dass der Ertrunkene immer in der Lage sei, um Hilfe zu rufen, und dass immer Helfer in der Nähe sind. Der Klassiker ist das Bild eines Schwimmers, der beim Ertrinken mit den Händen wedelt und laut um Hilfe ruft. Die Unfallstatistiken und Unfallberichte zeigen dagegen sehr viele Gründe für das Ertrinken. Wir dürfen nicht vergessen, wie sehr Hollywoodfilme und Zeitungsartikel mit Unfallmeldungen unser Bild vom Ertrinken geprägt und gefährlich verkürzt haben. Auf der Grundlage dieses kollektiven Bildes und von Berichten über einzelne Unfälle beruhen jedoch die meisten Schwimmprogramme.
«Wir dürfen nicht vergessen, wie sehr Hollywoodfilme und Zeitungsartikel mit Unfallmeldungen unser Bild vom Ertrinken geprägt und gefährlich verkürzt haben.»
Sie sagen, Kinder müssten 15 Kompetenzen entwickeln, um ab dem Jugendalter sichere Schwimmer zu sein. Warum erst ab dem Jugendalter?
Kein einziges Kind ist ein sicherer Schwimmer. Dafür fehlen die affektive und die kognitive Entwicklung. Wenn Kinder im Spiel sind, dann spielen sie und folgen ihren Impulsen. Sie begeben sich dabei – ohne es zu wollen – in Gefahr, weil ihnen die Erfahrung und die Reife fehlen, um Risiken abschätzen zu können. Sie sind nicht in der Lage, ihren Spielimpuls zuverlässig zu regulieren und die gesamte Situation zu erfassen: Kann die Stelle gefährlich werden, bin ich den Risiken gewachsen, fühle ich mich kraftvoll genug, um mich und meine Begleiter gegebenenfalls selbst zu retten? Kinder können die besten SchwimmlehrerInnen gehabt haben, selbst wenn sie kraulen, tauchen und aus 3 Meter springen können: Sie sind niemals sichere Schwimmer. Die Reife kann frühestens im Jugendalter erlangt werden.
Dann gaukeln uns Schwimmabzeichen auch eine falsche Sicherheit vor?
Die Frage ist, auf welcher Grundlage die Zertifikate entstanden sind. Was steht in der Prüfungsordnung? Beruhen diese Zertifikate auf Meinungen oder auf Forschung?
Die Eltern in meiner Schwimmschule kennen die gesamte Bandbreite von Unfallursachen. Es geht sogar so weit, dass sie am Anfang mit grosser Sorge sehen, welchen Gefahren andere Kinder ausgesetzt werden oder sich selbst ohne Aufsicht aussetzen. Wenn z. B. ein Geschwisterkind auf ein jüngeres Geschwisterkind aufpassen muss. Wenn Kinder am Ufer spielen und ihre Eltern am Strand liegen oder gar schlafen. Sie sehen, wie oft Kinder im späten Grundschulalter auf einem Stand-up-Paddle unbeaufsichtigt und ohne eine Schwimmweste unterwegs sind. Es ist am Anfang sehr schwer auszuhalten, welchen Risiken Eltern ihre Kinder aussetzen.
Sie schärfen dieses Bewusstsein in Ihren Kursen. Machen Sie damit den Eltern nicht Angst?
Nein. Das breite Wissen, das auf Forschungsergebnissen und jährlichen Statistiken beruht, gibt uns Sicherheit. Es erinnert uns daran, dass wir unsere Aufsichtspflicht ernst nehmen müssen und damit den Kindern signalisieren, dass das Spiel am und im Wasser wundervoll ist, jedoch besondere Sicherheitsvorkehrungen braucht. Die Kurse schärfen das Bewusstsein für die Unabhängigkeit zwischen den aquatischen Kompetenzen der eigenen Kinder und der hundertprozentigen Aufsichtspflicht.
Ich habe damit etwas Mühe: Einerseits dieses Bewusstsein für diese grossen Gefahren zu haben – und andererseits dem Kind möglichst viele Freiheiten zu geben, damit es sich frei entwickeln kann im Wasser. Verstehen Sie das?
Ja, das ist am Anfang ganz normal. Nehmen wir ein Beispiel aus dem Alltag. Vielleicht fällt es da leichter: Wenn Sie für ein Kleinkind eine sichere Umgebung einrichten, in der es frei spielen kann, werden Sie die Steckdosen abdecken, weil Sie sich nicht darauf verlassen können, dass das Kleinkind dort nichts reinsteckt. Sie könnten z. B. für einen kurzen Zeitraum den Raum verlassen, ohne dass sich Ihr Kind schwer verletzt.
Am Wasser ist es sehr ähnlich. Die Eltern lernen bei mir, eine Umgebung so auszuwählen und vorzubereiten, dass die Kinder sicher sind. Der Rahmen ist so abgesteckt, dass sie ins freie Spiel kommen können und schwere Unfälle vermieden werden. Aber sobald sie merken, dass ein gefährlicher Unfall wahrscheinlich wird und/oder sie in Stress geraten, weil sie ihre Sicherheit nicht mehr gewährleisten können, sagen sie das ihren Kindern und verlassen das Wasser.
Was ist mit Schwimmhilfen? Die tragen doch auch zur Sicherheit bei?
Jegliche Schwimmhilfen blockieren die Auseinandersetzung mit dem Auftrieb, der Atmung, der Orientierung unter Wasser und der Entwicklung von Bewegungsmustern. Egal, ob es Schwimmhilfen sind, an denen sich Kinder festhalten können, oder Schwimmhilfen wie Schwimmflügel, die angezogen werden. Alle Auftriebshilfen sind ein Sicherheitsrisiko.
«Alle Auftriebshilfen sind ein Sicherheitsrisiko.»
Weshalb? Das klingt jetzt total kontraintuitiv.
Mit einer Schwimmhilfe überspringen die Kinder die Entwicklung der Auftriebskompetenz. Die meisten Menschen denken, dass Schwimmen das ist, was man mit Armen und Beinen macht. Wie ich auf allen Online-Elternabenden anhand von Studien zeige, sind jedoch Auftrieb und Atmung die zentralen Grundlagen für die Entwicklung von Bewegungsökonomie und damit der Wassersicherheit. Mit einer Schwimmhilfe können sich ausserdem Kinder in Gewässern bewegen, in denen sie nicht mehr stehen können. Sie gewöhnen sich daran, dass sie wie ein Sektkorken wieder an die Oberfläche hochploppen. Im Spieldrang kann es schnell passieren, dass sie plötzlich ohne eine Schwimmhilfe ins tiefe Wasser fallen.
Heisst das im Umkehrschluss, dass ich mit Kindern immer nur in Gewässer gehen sollte, wo sie selber stehen können?
Schwimmen lernen, tauchen lernen und springen lernen findet immer im für die Lernenden stehtiefen Wasser statt. Der Bodenkontakt ist das, was Kinder brauchen, um die verschiedenen Bewegungsmuster zu erlernen und sich sicher zu fühlen. Ohne Bodenkontakt und ohne Schwimmhilfe geraten auch erwachsene Nichtschwimmer in Panik.
Selbst die Kinder der Seenomaden Moken, der besten Freitaucher der Welt, entwickeln im stehtiefen Bereich ohne jegliche Schwimmhilfen aquatische Kompetenzen. Wie die Manus in Papua-Neuguinea erreichen sie mit dieser «Methode» 100 Prozent. Wir dagegen diskutieren seit mindestens fünf Jahrzehnten über die beste Methode für das Schwimmen. Jedoch sind sehr viele Kinder, Jugendliche und Erwachsene keine sicheren Schwimmer. Finde den Fehler! Das war der Grund für meine Forschungsreise zu den Moken im Andamansee.
Für Eltern heisst das: Man sitzt sehr lange nur am Planschbecken.
Bis Kinder ausreichend viele Erfahrungen mit dem Streckentauchen, der Vorwärtsbewegung dicht unter der Wasseroberfläche und dem Springen gesammelt haben, ist der Ort des Schwimmens ein für sie stehtiefer Bereich. Die Weiterentwicklung dieser Kompetenzen benötigt tiefere und vor allem natürliche Gewässer: Denn das Schwimmenlernen findet meistens in Pools statt, das Ertrinken in natürlichen Gewässern.
«Schwimmen lernen, tauchen lernen und springen lernen findet immer im für die Lernenden stehtiefen Wasser statt.»
Schwimmenlernen im stehtiefem Gewässer: Klingt logisch, die Regel. Es erstaunt mich, dass ich noch nie davon gehört habe.
Das liegt daran, dass die Fäden der Gehirn-, Motivations-, und Lehr-Lern-Forschung und die Diskussion über das Schwimmenlernen im deutschsprachigen Raum nicht zusammenkommen. Der zweite Grund liegt an der fehlenden Forschung jener Kulturen, die sämtliche aquatischen Kompetenzen erlernen.
Läuft es denn anderswo anders, besser als hier im deutschsprachigen Raum?
Es gibt Regionen, die in einigen Aspekten weiter sind als wir. In Australien habe ich viele Schwimmkurse besucht. Dort beginnen viele SchwimmlehrerInnen den Unterricht mit der Entwicklung der Atemkompetenz und schaffen damit die wichtigste Grundlage für Bewegungsökonomie. In vielen Schwimmschulen setzen die Lehrer grössere Plattformen ins Wasser, um den Kindern einen stehtiefen Bereich anzubieten. Dort fehlte aber das Wissen über die selbständige Entwicklung der Grundkompetenzen. Das habe ich wiederrum bei Eltern beobachtet, die direkt am Ozean leben. Sie selbst haben ohne Schwimmunterricht schwimmen, tauchen und springen gelernt. Das Wissen über die lokalen Gefahren wie z. B. Strömungen wurde ihnen in die Wiege gelegt. Die Möglichkeit einer freien Bewegungsentwicklung im Wasser und die kognitive Entwicklung im Bereich Wassersicherheit schenken sie ihren Kindern so ganz natürlich. Die Kenntnis der Forschungsergebnisse über den Zusammenhang zwischen dem Ertrinken und der Aufsichtspflicht zeigt sich – zumindest an der Ostküste, die ich bereist habe – an der gross angelegten Kampagne «Der Bademeister ist nicht dein Babysitter». Der Erfolg dieser Kampagne war für mich sofort sichtbar: Die Eltern haben ihre Kinder im Wasser in unmittelbarer Nähe begleitet.
«Mein Sohn ist zehn. Wenn er eine Spielidee hat, dann setzt er sie unmittelbar um. Ich würde niemals auf die Idee kommen, ihn trotz seiner aquatischer Fähigkeiten ohne Aufsicht auch nur in der Nähe eines Gewässers alleine oder mit Freunden spielen zu lassen.»
In der Schweiz können die Kinder mit ca. 10 Jahren einen «Wasser-Sicherheitscheck» absolvieren und dürfen damit vielerorts ohne Begleitung ins Schwimmbad. Was sagen Sie dazu?
Wenn Sie das Gefühl haben, dass Ihr Kind seinen Spielimpuls zuverlässig kontrollieren kann, selbstbewusst genug ist, um dem Gruppenzwang zu widerstehen und damit für sich selbst zu sorgen und es alle 15 Kompetenzen entwickelt hat, dann können Sie das Risiko eingehen. Mein Sohn ist auch zehn. Wenn er eine Spielidee hat, dann setzt er sie unmittelbar um. Ich würde niemals auf die Idee kommen, ihn trotz seiner aquatischer Fähigkeiten ohne Aufsicht auch nur in der Nähe eines Gewässers alleine oder mit Freunden spielen zu lassen.
Was sagen Eltern ihrem 10-Jährigen, dessen Freunde alle alleine ins Schwimmbad dürfen, nur er nicht?
Ich würde anbieten, die Kinder zu beaufsichtigen. Sollte das nicht möglich sein, würde ich meinem Kind erläutern, dass alle Eltern ihre eigenen Entscheidungen treffen und diese von ihrer Haltung und ihrem Kenntnisstand abhängt. Hier kann das Buch «Nein aus Liebe» von Jesper Juul helfen.
Wie lehren Sie denn beim «freien Schwimmen» das Schwimmen?
Ich zeige den Eltern, wie sie die besten Begleiterinnen und Begleiter für ihre Kinder sein können – das ist das Gegenteil von Eltern als Ersatzlehrer. Am Anfang stehen die Familien vor sehr vielen Herausforderungen. Allermeistens ist es die Auseinandersetzung mit sich selbst und mit dem Umfeld. Es ist z. B. der eigene Druck, den ich auf das Kind mehr oder minder implizit ausübe, der aufgrund von falschen Erwartungen entsteht. Diese Erwartungen erwachsen wiederum aus Angst und Sorge. Mit ihnen setzen sich die Familien auseinander. Sie kommen oft von aussen – meistens sind das Schwiegereltern und/oder Grosseltern, die eine andere Meinung über das Lernen haben. Dann gibt es Auseinandersetzungen mit Freunden oder Bekannten. Der Weg führt von Sorgen und Ängsten ins Vertrauen. Diese Prozesse dürfen alle Eltern erleben, die sich für meinen begleiteten Online-Kurs entscheiden.
Aber ist dieser Weg für viele Familien nicht total unrealistisch?
Es ist nicht immer realistisch, jede Woche schwimmen zu gehen. Es ist nicht realistisch, dies auch jahrelang zu tun. Wir sind Familien, wir haben schon sehr, sehr viele Aufgaben. Daher ist es wichtig, für sich einen realistischen Weg herauszuarbeiten: Was passt für uns gerade, für uns als Familie? Da spielt natürlich auch eine Rolle, wo wir die nächsten Ferien verbringen. Wichtig ist, das Kind beziehungsorientiert zu begleiten. Das gilt nicht nur beim Schwimmen lernen, sondern auch beim Fahrradfahren, beim Schreiben der ersten Buchstaben, wenn das Kind anfängt, sein Essen selber zu schneiden usw. Die Frage lautet: Was hält mich davon ab, zur liebevollen und kompetenten Begleiterin im Wasser zu werden? Was brauche ich dafür?
Ich hatte unseren Sohn schon für einen Schwimmkurs angemeldet, weil man das halt so macht in der Schweiz. Er weigerte sich zu gehen. Ich war dann am Ende auch erleichtert, weil ich keine Lust hatte, jede Woche zu einer fixen Zeit ins Hallenbad zu stressen und dafür sehr viel Geld zu zahlen.
Sie haben richtig gehandelt: Ihr Sohn fühlte sich unwohl und signalisierte in Form einer Weigerung, dass diese Umgebung für ihn ungünstig ist. Sie haben seine Entscheidung respektiert. Aus der Sicht der Gehirnforschung würde er in diesen emotionalen Zustand gar nicht oder nur schwer schwimmen lernen. In jedem Fall würde er das Wasser mit unangenehmen Gefühlen verknüpfen, so wie z. B. viele das Aufsagen eines Gedichtes mit Stress abspeichern und selbst im Erwachsenenalter schon bei der Vorstellung vor einer Gruppe etwas vorzutragen unangenehme Gefühle abrufen. Viele Eltern motivieren ihre Kinder trotzdem, Kurse fortzusetzen.
Und, so scheint es zumindest, oft mit Erfolg: Das brauchts halt manchmal …
Weigert sich ein Kind, an einem pädagogischen Angebot teilzunehmen, fühlt es sich unwohl. Der Grund für das Unwohlsein ist am häufigsten die Überforderung, die zu Stress führt. Die Überforderung entsteht z. B. durch angeleitete Übungen, für die das Kind emotional und/oder motorisch noch nicht reif ist. Es kann auch sein, dass ein Kind bei dem Vertrautwerden mit dem Wasser eine unmittelbare Nähe einer Bezugsperson braucht. Es will selbständig entscheiden, wann und inwieweit es sich von seinen Eltern löst. Wird die Trennung jedoch erwartet, fühlt es sich emotional unsicher. Unter diesen Bedingungen ist die Ablehnung eines Angebotes für ein Kind die logische Konsequenz.
Vielleicht sind die Gründe, weshalb ein Kind nicht in den Schwimmkurs will, ja völlig profan.
Selbst dann sollte die Ablehnung eines Kurses ernst genommen werden. Motivieren wir das Kind, den Kurs trotzdem fortzusetzen, lernt es, seine Alarmsignale zu vernachlässigen. Demnach haben nicht Sie oder ihr Kind etwas falsch gemacht, sondern die Schwimmschule. Ich rate in solchen Situationen allen Eltern, sich nicht nur mit dem Kind auseinanderzusetzen, sondern das pädagogische Angebot zu hinterfragen. Schliesslich geht es um die wichtigste Voraussetzung für das Lernen, das Wohlbefinden – und nicht um den Erwerb bestimmter Fähigkeiten zu einem bestimmten Zeitpunkt. Wenn die Voraussetzung des Wohlbefindens nicht gegeben ist, hat das Kind dort nichts verloren. Allgemein halte ich das Überspringen unzähliger Schritte in der motorischen und der emotionalen Entwicklung für zentrale Probleme in der gängigen pädagogischen Praxis.
Ganz viele andere Eltern würden mir nun sagen: Bei uns hat das super geklappt mit dem Schwimmkurs! Unser Kind ist da total gern hingegangen! Da gibt es ja nichts dagegen einzuwenden, oder?
Die Frage lautet: Was genau hat das Kind gelernt und warum ist es dort gerne hingegangen? Kinder werden mit dem Bedürfnis nach bedingungsloser Liebe geboren. Meistens erleben sie jedoch bedingungsvolle Liebe. Sie spüren, dass sich ihre Eltern freuen, dass sie stolz sind, wenn es bald schwimmen wird. Sie glauben ihren Eltern, dass sie diese Fähigkeit nur in einem Schwimmkurs entwickeln werden – Kinder glauben ihren Eltern erstmal alles. Im Kurs selbst und zu Hause bekommen sie für ihre Leistungen sehr viel Anerkennung, wie auch die anderen Kinder. So fühlen sie sich zu der Gesellschaft dazu gehörig – auch das ist ein angeborenes Bedürfnis. Mit anderen Worten: Unsere Kinder leben so gut es geht unsere Werte, um Liebe in Form von Anerkennung zu bekommen. Auch wir Eltern bekommen über ihre Ausbildung bestimmter Fähigkeiten zu einem bestimmten normierten Zeitpunkt Anerkennung von Aussen. Das kann jeder bei sich überprüfen: Wie fühlt man sich, wenn sich das eigene Kind mit sieben Jahren noch nicht frei geschwommen hat? Wenn alle anderen Kinder Fahrrad fahren, nur meins nicht? Auch wir wollen, dass sich unser Kind wenigstens im Durchschnitt entwickelt – es sei denn, dass ich als Elternteil so viel Selbstbewusstsein habe, dass ich mich selbst und mein Kind nicht mit anderen vergleiche. Ich empfehle Eltern, sich mit den eigenen Gefühlen (Stolz) und Gedanken (meins schwimmt, zwei aus dem Kurs nicht) auseinanderzusetzen.
«Menschen, die keine sicheren Schwimmer sind, haben in offenen Gewässern mit Strömungen nichts verloren. Das hat nichts speziell mit Kindern zu tun.»
Bei uns in der Schweiz ist das Flussschwimmen ein grosses Thema. Wenn ich Ihren Argumenten folge, geht das erst im Jugendalter?
Alle Menschen, die keine sicheren Schwimmer sind, die also nicht alle oben erwähnten 15 Kompetenzen entwickelt haben, haben in offenen Gewässern mit Strömungen nichts verloren. Das hat nichts speziell mit Kindern zu tun.
Was würden Sie jemandem in der Schweiz empfehlen, der sich mit dem Thema freies Schwimmen auseinandersetzen möchte?
Mir sind in der Schweiz keine Angebote bekannt, die kompetenzbasiert sind und damit auf der aktuellen Forschung basieren. Wenn ich mich täusche: Bitte bei mir melden! Eltern, die bereit sind für das freie Schwimmen und sich mit dem Begleiten des Kindes auseinandersetzen wollen, sind in meinem Kurs herzlich willkommen. In diesem entspannten Format begleite ich Eltern aus der ganzen Welt, auch viele aus der Schweiz.
«Tauchen ist für mich wie fliegen», sagt Schwimmcoach Evelyn Podubrin. Die Mutter eines zehnjährigen Sohnes ist leidenschaftliche Freitaucherin und befasst sich seit Jahren mit der freien, natürlichen, selbstmotivierten und selbstgesteuerten Entwicklung von Kindern. Die Erziehungswissenschafterin hat 2017 die erste Online-Schwimmschule Deutschlands gegründet und führt regelmässig Online-Elternabende für interessierte Familien durch. Der nächste begleitete Kurs startet am 17. Mai.