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Kind, zieh dich nicht so warm an!

Mehr Kälte täte sowohl Kindern als auch Erwachsenen gut. Deshalb sollten wir unsere Kinder nicht mehr immer ermahnen, sich warm anzuziehen.
4 Dez 2020
Bilder — Petra Kübele

Winterliche Temperaturen, ein Spielplatz, ein Kind rennt herum, klettert, balanciert. Es gerät ins Schwitzen – und zieht seine Jacke aus. Bei den Eltern oder Betreuungspersonen setzt nun normalerweise sofort ein Reflex ein: «Zieh dich an, sonst wirst du krank!» Das ist eine Art winterliche Eltern-Kind-Standardsituation, die schon im Herbst einsetzt und sich bis im Frühling immer wiederholt. Mamas und Papas sind selten so konsequent, wie wenn es darum geht, ihre Kleinen in Kaltwettermumien zu verwandeln.

Mamas und Papas sind selten so konsequent, wie wenn es darum geht, ihre Kleinen in Kaltwettermumien zu verwandeln.

Wie viele Male haben wir selber diesen Satz gehört? Und selber schon gesagt? Den Glauben, dass Kälte krank macht, bekommen wir alle praktisch in die Wiege gelegt – und geben ihn ungeprüft weiter.  Dabei sollte es heissen: «Zieh dich nicht zu warm an mein Kind, dann bleibst du gesund!» Wir sind alle verkehrt herum erzogen worden, was Kälte betrifft. Das rührt daher, dass die wenigsten von uns wissen, was in unserem Körper vorgeht, wenn er der Kälte ausgesetzt ist.

Das macht Kälte mit dem kindlichen Körper

Wenn unsere Temperatursensoren Kälte fühlen, informieren sie umgehend den Hypothalamus – jene Hirnregion, die unsere Körpertemperatur reguliert. Daraufhin setzt dieser eine Reihe von Aktivitäten in Gang, die allesamt helfen, die Körpertemperatur aufrecht zu erhalten. Dabei wird auch umgehend sichergestellt, dass die vorhandene Wärme dort hingelangt, wo sie am meisten gebraucht wird. Die Blutgefässe verengen sich an den Extremitäten, um das Blut um die lebenswichtigen Organe warm zu halten. Daher sind unsere Hände und Füsse die Ersten, die sich kalt anfühlen und blass werden. Das ist eine äusserst schlaue Reaktion unseres Körpers, der im Notfall lieber eine kleine Zehe opfert, als einen Herzstillstand zu riskieren. Wenn unsere Kinder also kalte Hände oder Füsse haben, wenn sie an der Kälte sind, bedeutet das ganz einfach, dass ihr Körper funktioniert und sie gesund sind.

Wenn unsere Kinder kalte Hände oder Füsse haben, wenn sie an der Kälte sind, bedeutet das ganz einfach, dass ihr Körper funktioniert und sie gesund sind.

Gut zu wissen ist auch, dass unsere Temperatursensoren die Kälte zuerst an der Hautoberfläche wahrnehmen. Damit die körpereigene Heizung hochgefahren wird, muss dort Kälte herrschen. Bei üppiger Kleidung passiert gar nichts. Je wärmer wir uns anziehen, desto kälter nehmen wir die Temperatur wahr. Wenn wir Erwachsenen also warm gekleidet in der Kälte rumstehen, mit hochgezogenen Schultern plaudern und dabei frösteln, sind wir nicht in der Lage, auf den Zustand unserer Kinder zu schliessen. Deren körpereigene Heizung läuft auf Hochtouren, und ihre Muskeln sind auch vom Rumrennen warm. Wenn wir ihnen nicht präventiv schon zu viel Kleidung aufgebrummt haben, sind sie auch nicht schweissgebadet, und ihr Körper hat die besten Voraussetzungen, um mit den kühlen Temperaturen umzugehen.

Je öfter der kindliche Körper mit Kälte gefordert wird, desto besser lernt er damit umgehen. Diese Chance kriegen nicht allzu viele. In der Regel kommt das Kind ein erstes Mal frierend nach Hause, ist danach krank und spätestens ab diesem Tag wird es seine ganze Kindheit hindurch vorausschauend warm eingepackt. Aus medizinischer Sicht ist es allerdings nicht Kälte, sondern es sind Viren und Bakterien, die Husten und Schnupfen hervorrufen (das Wort «Erkältung» ist deshalb verheerend irreführend). In Studien konnte gar nachgewiesen werden, dass Kälteexposition mitunter zu erhöhten Werten an weissen Blutkörperchen führt. Sie sind ein wichtiger Teil unseres Immunsystems. Ihr Job ist es, Viren und Bakterien so rasch wie möglich unschädlich zu machen. Wenn sie es nicht rechtzeitig schaffen und die Angreifer sich im Körper verteilen und vermehren, wehrt dieser sich u.a., indem er seine Temperatur erhöht. Setzen wir uns dann der Kälte aus, können wir ihn überfordern und krank werden. Hier stimmt deshalb für einmal, was wir von unseren Eltern gelernt haben: Fiebrige Kinder gehören an die Wärme.

Wir trainieren unser Gefässsystem optimal, wenn wir uns regelmässig der Kälte aussetzen.

Abgesehen von diesem Fall trainieren wir unser Gefässsystem optimal, wenn wir uns regelmässig der Kälte aussetzen. Wenn es kalt ist, verengen sich Blutgefässe, und an der Wärme weiten sie sich. Dank diesem Wechsel bleiben auch die äussersten feinen Äderchen dauerhaft gut durchblutet und können Abwehrzellen nah an die Körperoberfläche transportieren. Dort sind sie dann ein wichtiger Player, wenn es darum geht, Viren und Bakterien zu bekämpfen, bevor diese sich stark vermehren und unseren Körper einnehmen.

Das Coole an regelmässiger Kälteexposition ist auch, dass wir damit unsere braunen Fettzellen vermehren. Wir tragen neben «normalem» weissem Fett nämlich auch «braunes Fett» mit uns rum. Die Zellen im braunen Fett enthalten Mitochondrien, die ihnen eine beige Farbe verleihen. Diese Mitochondrien sind kleine Kraftwerke, in welchen weisses Fett verbrannt und in Wärme umgewandelt wird. Babys verfügen über einen sehr hohen Anteil an braunem Fett. Es hält ihren Körper warm, ohne dass sie sich bewegen müssen. Das braune Fett bleibt dem Körper erhalten, solange er regelmässig der Kälte ausgesetzt ist. Es nimmt in der warmen Jahreszeit ab und wieder zu, sobald es kälter wird.

Neben den vielen physiologischen gibt es aber auch wichtige psychologische Gründe, die dafür sprechen, unseren Kindern wieder mehr «Ankleideautonomie» zuzugestehen.

Indirekt vermitteln wir den Kindern mit unseren Anziehaufforderungen ständig, dass sie zu schwach sind, um mit Kälte umzugehen.

Kinder vertrauen uns. Wenn wir ihnen vermitteln, dass sie nicht auf ihre eigenen Empfindungen vertrauen können, verlieren sie ihre natürliche Fähigkeit, die Signale ihres Körpers zu deuten. Indirekt sagen wir ihnen zudem ständig, dass sie zu schwach sind, um mit Kälte umzugehen. Solch negative Überzeugungen wieder loszuwerden ist nicht so einfach. Insbesondere auch darum, weil ein auf die Dauer unterforderter Körper mit der Zeit tatsächlich nicht mehr mit Kälte umgehen kann.

Umgang mit Kälte bei Kindern

Die gute Nachricht ist: Es ist nie zu spät. Sowohl unser Immunsystem wie auch braunes Fett können relativ rasch reaktiviert werden. Am besten fangen wir klein an: Es geht darum, in der Kindererziehung eine neue, gesündere Balance zwischen warm und kalt und positivere Botschaften bezüglich Kälte zu vermitteln. Beispielsweise können wir unserem Kind eine Jacke mitgeben, mit der Bitte sie anzuziehen, falls es kalt hat. Auch Kinder frieren nicht gerne, und wenn sie selber entscheiden können, ziehen sie sich auch gerne mal was über.

Die gute Nachricht ist: Es ist nie zu spät. Sowohl unser Immunsystem wie auch braunes Fett können relativ rasch reaktiviert werden.

Und vielleicht fühlen wir selber, dass wir das Ganze zwar intellektuell nachvollziehen können, es uns aber doch enorm stresst, wenn wir unser Kind leichtbekleidet im kalten Wetter spielen sehen. Dann sollten wir bei uns selber anfangen. Beispielweise die Dusche kalt enden. Oder wir packen die letzte Kleiderschicht ein, anstatt sie von vornherein anzuziehen. Damit lernen wir zu spüren, wie unser Körper uns unterstützt und wir uns wärmer fühlen als erwartet.

Wir können mit der Kälte experimentieren und nimm dabei bewusst wahrnehmen, welche Überzeugungen uns dabei einschränken. Sie in Frage zu stellen, lohnt sich.

Helena Hefti Wenger

Die Gründerin von jala Coaching führt in Bern Wim-Hof-Kurse durch. Diese Methode besteht aus drei Elementen: Atemtechnik, Kälteexposition und Fokusübungen. Kälte stärkt das Herzkreislaufsystem und simuliert stressige Situationen, wie wir sie im Alltag antreffen. Damit erleben KursteilnehmerInnen ihre Reaktionen bewusst und lernen, sie zu steuern. Auch sehr hilfreich im fordernden Alltag mit Kleinkindern … Helena Hefti Wenger ist Mutter zweier Kinder.
Wim-Hof-Workshops mit jala coaching