Sibylle Lüpold berät seit zehn Jahren Familien zum Thema Schlaf. In dieser Rubrik spricht sie in loser Folge typische Probleme und Irrtümer rund ums Thema Kinderschlaf an und liefert Lösungsansätze, die sich in der Praxis bewährt haben. Teil 1 handelte von den nächtlichen Notlösungen, die viele Familien praktizieren, statt die Schlafsituation grundsätzlich zu überdenken. In Teil 2 gings um das Ende des Mittagsschlafs.
Viele Eltern, die bereits ein Kind haben und das zweite erwarten, machen sich Sorgen, wie das Zubettbringen bei zwei Kindern laufen soll, wenn das erste Kind noch sehr viel Unterstützung benötigt. Oftmals ist das erste Kind noch im Kleinkindalter, wenn das Geschwisterchen kommt, und somit noch nicht in der Lage, abends alleine zu Bett zu gehen. Die vielleicht bereits teilweise erworbene Autonomie in diesem Bereich geht durch die Krise der «Entthrohnung» oftmals vorübergehend wieder verloren. Das ältere Kind reagiert verständlicherweise mit Eifersucht auf das Baby, das auf einmal die volle Aufmerksamkeit der Mutter und vielleicht auch des Vaters erhält. Das kleine Geschwister wird gestillt, getragen und darf sogar bei Mama schlafen – da mag das ältere Kind natürlich auch nicht mehr alleine (ein)schlafen. Die intensiven Bedürfnisse von zwei Kindern beim Zu-Bett-Gehen zu erfüllen (dann, wenn durch Müdigkeit und Dunkelheit das Bindungsbedürfnis zusätzlich aktiviert wird), mag für ein Elternpaar, das sich dabei aufteilen kann, gut möglich sein. Was aber, wenn nur ein Elternteil zu Hause ist und gleichzeitig beiden Kindern gerecht werden muss?
Das Dilemma ergibt sich oft daraus, dass beide Kinder in unterschiedlichen Zimmern (ein)schlafen und dass beide Kinder unterschiedliche Unterstützung benötigen. Zum Beispiel: Das ältere Kind soll in seinem Zimmer und Bett einschlafen und möchte gerne, dass Mama oder Papa noch bei ihm liegt und eine Geschichte vorliest. Nun ist aber genau zu der Zeit, in der das ältere Kind ins Bett sollte, das Baby sehr unglücklich, schreit viel und/oder möchte getragen werden. Der Elternteil braucht seien ganze Energie, um das Baby zu beruhigen und kann sich nicht gleichzeitig dem Geschwisterkind widmen, das ja genau jetzt intensive Zuwendung benötigt, um entspannt einschlafen zu können.
Da die Abende mit zwei (kleinen) Kindern ja meist nur dann entspannt ablaufen können, wenn das ältere Kind möglichst geduldig und kooperativ ist (vom Baby können wir das nicht erwarten), ist es von zentraler Bedeutung, die Bedürfnisse des älteren Kindes so gut es geht zu berücksichtigen und ihm zu helfen, mit seiner Eifersucht umzugehen.
Idealerweise versuchen Eltern, beiden Kindern möglichst dasselbe zu geben. Natürlich wird das ältere Kind nicht mehr wieder gestillt oder gewickelt, aber es darf auch wieder vermehrt bei den Eltern kuscheln und in ihrer Nähe schlafen. Das Alleineschlafen kann nach dieser schwierigen Anfangszeit entspannter (wieder) angegangen werden.
In den Abendstunden wollen die meisten Babys vermehrt gefüttert und getragen werden und weinen auch mehr. Da kann es schwierig sein, sich gleichzeitig intensiv dem Grossen zu widmen. Wenn die Eltern ihm aber tagsüber ganz viel Zuwendung ermöglichen (z.Bsp. während das Baby schläft oder getragen wird) und wenn es nachts auch bei einem Elternteil schlafen darf (z.Bsp. mit Papa in einem grossen Bett im Kinderzimmer), dann kann es besser damit umgehen, abends kurz warten zu müssen, bis sich das Baby beruhigt hat.
Wichtig ist auch, dem Grossen (das nun zwangsläufig ab und zu zu kurz kommt) Raum zu bieten, seine Gefühle (Wut, Enttäuschung und Trauer) auszudrücken. Anstatt von ihm zu erwarten, dass es «sich zusammenreisst» oder sich sogar noch über den Familienzuwachs freut, darf es verbalisieren, wie es sich dabei fühlt. Wenn es sagt: «Mein Bruder ist doof!» oder «Können wir meine Schwester nicht einfach in den Müll werfen? Sie nervt!» ist die Antwort: «Wie kannst Du so etwas Böses sagen!» nicht sehr zielführend. Hilfreicher ist es, mit Verständnis zu reagieren und auch negative Gefühle anzunehmen: «Ja, das verstehe ich, dass Du Deinen Bruder doof findest, weil Mama und ich jetzt viel weniger Zeit für Dich haben! Das ist wirklich schwierig für Dich – wir haben Dich aber noch genauso lieb wie vorher und es wird auch wieder einfacher, Du wirst sehen!» Oder: «Ja, in den Müll werfen ist eine gute Idee! Hast Du sonst noch Ideen, was wir mit Deiner Schwester tun könnten?». Dadurch, dass das ältere Kind mit seiner belastenden Gefühlswelt (oder besser Gefühlschaos) angenommen wird, kann es besser damit umgehen und wird – entgegen der Erwartung mancher Eltern – die neue Situation schneller akzeptieren können.
Notlösung: Wenn gar nichts geht, dann braucht es Unterstützung durch eine zusätzliche Bindungsperson (Grosseltern, Nachbarn, Freunde oder zur Not eine bezahlte, geduldig eingeführte und liebevolle Betreuung), die entweder das Baby trägt oder das grosse Kind zu Bett bringt. Die Überwindung, jemanden zu organisieren, mag gross sein – aber meist braucht es diese zusätzliche Unterstützung nur für wenige Wochen. Wenn dadurch verhindert wird, dass ein Elternteil in die totale Erschöpfung fällt oder dass das Familiengefüge eskaliert, ergibt der Aufwand sehr viel Sinn.
Grundsätzlich geht es darum zu verstehen, dass alle Menschen nur dann gut einschlafen können, wenn sie entspannt sind. Anspannung und Aufregung vor dem Einschlafen wirken sich ungünstig aus. In vielen Familien entsteht ein Teufelskreis, der sich in allabendlichen Dramen wiederholt. Das Baby weint vermehrt und das ältere Kind dreht noch einmal richtig auf, weil sich der Stress der Eltern überträgt. Die ganze Familie fühlt sich dabei total ausgeliefert. Die Kinder sind zu klein, um hilfreiche Strategien zu entwickeln – Erwachsene hingehen können die Dynamik erkennen und bewusst durchbrechen. Dies kann durch eine völlig neue Schlafanordnung oder neue Einschlafrituale geschehen. Wichtig ist es, alles, was bereits mit negativen Gefühlen verknüpft wurde, durch neue, positive Elemente zu ersetzen. Da braucht es manchmal auch unkonventionelle Ideen wie ein kurzer Spaziergang (obwohl die Kinder doch jetzt ins Bett sollten!) – oder eine ausgelassene Tanzstunde im Wohnzimmer – der gemeinsam erlebte (entspanntere) Moment kann helfen, aus dem belastenden Teufelskreis auszusteigen.
Unser Interview mit Sibylle Lüpold, das zu unseren meistgelesenen Texten gehört und vom «Tages-Anzeiger» in gekürzter Form publiziert wurde, könnt ihr hier nachlesen: «Einem Baby bringt es nichts, wenn es früh durchschläft» Mehr Informationen und Beratungsadressen: www.1001kindernacht.ch