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«Kinder haben schon einen Glauben»

Wie erklärt man einem Kind den Tod? Brauchen Kinder einen Glauben? Andrea Kindler, Pfarrerin an der Heiliggeistkirche, gibt Antworten.
29 Mrz 2018
Bild — Bruna Casagrande

Andrea Kindler*, gleich zu Beginn müssen wir ganz ehrlich gestehen: Wir fühlen uns dem Glauben nicht sehr verbunden. Trotzdem suchen wir gerade bei schwierigen Kinderfragen nach Leben, Tod, Ewigkeit Antworten in der Religion. Warum ist das so?
Dies sind die existenziellen Fragen der Menschheit: Anfang und Ende des Lebens; wo kommen wir her? Wo gehen wir hin? Was ist Leben? Wir können eine Blume zwar zeichnen, modellieren, basteln – aber sie wird nie lebendig werden. Das ganz Wesentliche vermögen wir Menschen also nicht zu erschaffen. Offenbar gibt es etwas Höheres, das dies schafft. Wir spüren das auch in perfekten Momenten, wenn einem so richtig das Herz aufgeht. Dieses höhere Etwas spüren Kinder ebenfalls. Und wir wissen letztlich nicht mehr darüber als die Kinder. Die Religionen hingegen beschäftigen sich mit allen essenziellen Themen im Leben, deshalb gibt es auch in jeder Religion eine Schöpfungsgeschichte, und zu allen Wendepunkten im Leben und zu den Jahreszeiten gibt es Feste: Taufe, Hochzeit, Beerdigung, Erntedankfest, Wiedererwachen des Lebens, also Ostern. Es ist deshalb naheliegend, dass man Antworten im Glauben sucht.

Plump gesagt: Die Religion liefert konkrete Antworten auf abstrakte Fragen.
Genau. Wie diese Antworten genau aussehen, lässt sich dann altersentsprechend anpassen. Kinder sehen Gott vielleicht noch als bärtigen alten Mann, der auf einer Wolke sitzt.

Mein Sohn hat mich kürzlich gefragt, was denn das sei, «gestorben». Wie erklärt man einem 3-Jährigen den Tod?
Ich würde einen Vergleich machen: Das Spielzeugauto wird auch einmal alt und kaputt sein und nicht mehr fahren. Seine Hülle ist kaputt. So geht auch der Körper einmal «kaputt», er stirbt, und dann fehlt der Seele das Haus. Aber das, was den Menschen ausmacht, seine Seele, stirbt nie.

Und wenn er mich fragt, wohin die denn geht?
Dann würde ich zurückfragen: Was glaubst denn du? Kinder haben die schönsten Vorstellungen, viel grandioser als wir. In ihrer Unverdorbenheit vermögen Kinder sogar Erwachsene zu trösten, weil sie so wunderbare Ideen haben, wo zum Beispiel die Seele des Urgrosis nun ist. Mein Sohn hat einmal mit mir geschimpft, weil ich mir ein falsches Bild der Engel gemacht hatte: «Nein, Mama! Engel sind riesengross und nicht so klein! Das sind richtige Männer und Frauen und keine pausbäckigen Babys! Und sie haben alle die Augen zu.» Als ich ihn fragte, wieso, sagte er: «Das sind ja die Gestorbenen, die können die Augen nicht mehr aufmachen.»

Schwierig wird es dann, wenn wir selber in Erklärungsnot geraten. Wenn jemand mitten im Leben steht und stirbt. Dieses Unfassbare zu erklären.
Es gibt einfach teilweise keine Antworten, und da darf man auch selber sagen: Das weiss ich nicht. Wichtig ist, dem Kind auch zu vermitteln, dass es nichts Schlimmes ist, diese Fragen zu haben und zu stellen. Und auch dann kann man versuchen, das Kind die Antwort selber geben zu lassen.

Wie erklärt man einem Kind: Was ist Gott?
Gott ist jene Kraft, die macht, dass die Blume lebt und wachsen kann. Das können wir nicht. Gott gibt das Leben, und am Ende geht es wieder zu ihm zurück.

Und was ist Beten?
Beten ist reden mit Gott. Mit etwas, das wir nicht kennen, noch nie gesehen haben, uns nie Antwort gibt – und trotzdem passiert beim Beten etwas. Es ist wie Tagebuch schreiben. Das hat auch eine Funktion. Aber beten ist besser: Da hört jemand zu!

Wie kann man einem Kind denn die Angst vor dem Tod nehmen? Unser 4-jähriger Sohn sagte mir jüngst mehrmals: Gell, Mama, du lebst noch ganz, ganz lange.
Diese Angst dürfen Sie ihm mit gutem Gewissen nehmen und ihm sagen: Ich lebe noch ganz, ganz lange, ganz viele Jahre, so weit kannst du noch nicht einmal zählen. Vielleicht kombiniert mit einem Beispiel: Ich habe nicht vor, auf die Strasse zu laufen und mich überfahren zu lassen. So wird klar: Es kann schon etwas passieren, aber ich schaue, dass mir nichts geschieht. Die allermeisten Menschen werden ja auch wieder gesund, wenn sie krank werden und sogar ins Spital müssen.

Brauchen Kinder einen Glauben?
Kinder haben schon einen Glauben. Sie suchen sich Antworten auf die Kernfragen, die sie haben.

Sind Ihre eigenen Kinder gläubig?
Nein, gar nicht.

Wie stark soll man es steuern, was ein Kind glaubt? Sollte man es ihm nicht am besten selber überlassen, woran es glauben möchte?
Es ist interessant, wie wir hier Berührungsängste haben, während wir in anderen Bereichen überhaupt nicht heikel sind, wie wir unser Kind prägen. Unsere Werte beispielsweise: Da kann das Kind ja auch nicht entscheiden, ob es diese will oder nicht. Oder die Manieren. Da sagen wir dem Kind auch, was wir für richtig halten. Unsere Ethik, der Humanismus, unsere Kultur basiert nun einmal auf christlichen Werten. Ich finde es schön, mit der Taufe ein Bekenntnis dazu abzulegen: Dies sind die Werte, nach denen ich meinem Kind erziehen möchte. Das ist letztlich nur ehrlich. Ob das Kind diese dann auch übernehmen will, kann es einmal selber entscheiden. Sie zwingen das Kind ja nicht, Christ zu sein!

Und wenn ein Paar, das sonst nie in die Kirche geht, sein Kind taufen lassen will? Ist das nicht eine Art Rosinenpicken?
Damit habe ich als Pfarrerin null Probleme. Ich stelle am Anfang die Frage, weshalb Eltern ihre Kinder taufen wollen, und ich erhalte immer die richtige Antwort. Die Leute sagen zum Beispiel, dass sie dieses Wunder feiern wollen; dass sie ihre Freude teilen wollen; dass sie Danke sagen wollen und nicht richtig wissen, wem; dass sie um Schutz bitten wollen. Deshalb taufe ich liebend gerne Kinder von Eltern, die nie in die Kirche gehen. Beim Heiraten ist das was anderes.

Wie meinen Sie das?
Manche Paare wollen die Kirche lediglich als schöne Kulisse, um das schöne weisse Hochzeitskleid vorzuführen. Das merke ich schnell im Vorgespräch, wenn sie bei der Trauung kein Wort über Gott hören wollen beispielsweise. Solche Paare weise ich ab.

Ich möchte meinem Kind zwar den Zugang zur Spiritualität und zum Glauben offen lassen. Wenn ich ihm aber Bibelgeschichten erzähle, fühle mich verlogen, weil ich selber nicht daran glaube. Verstehen Sie diese Ambivalenz?
Ob ich selber daran glaube, dass Jesus auferstanden ist, wenn ich beispielsweise die Ostergeschichte erzähle, spielt in meinen Augen keine Rolle. Es ist eine Geschichte, die Kinder werden den Sinn dahinter erspüren. Man muss nicht alles begründen. Wenn die Fragen dazu kommen, kann man immer noch sagen, dass man selber auch Mühe hat mit der Legende. Das ist meines Erachtens irrelevant. Die Geschichten haben meistens einen Übersinn, der zentraler ist, und der abgesehen von unserem Glauben auch oft unseren Werten entspricht.

Sollte man denn diesen Übersinn thematisieren?
Je nach Alter. Bei den Kleinen würde ich wohl noch nicht so interpretieren oder gar moralisieren, sondern einfach die Geschichte als solches wirken lassen. Als meine Kinder noch klein waren, gab es praktisch nur «pädagogisch wertvolle» Kinderbücher, da waren alle Protagonisten nett, lieb, korrekt – und totlangweilig. Ein Kinderbuch, in dem ein Kind nur Quatsch macht oder fies ist, das gab es damals gar nicht! Die biblischen Geschichten hatten dagegen richtig Pfeffer drin. Die Ostergeschichte zum Beispiel ist eine richtige Jungsgeschichte, da geht die Post ab! Mit dem Verrat, der Verhaftung und mit Petrus, der noch einem Soldaten ein Ohr abschneidet.

Das ist sehr brutal!
Ja, aber die Kinder können damit oft besser umgehen, als wir es uns vorstellen. Sie nehmen Geschichten ganz anders auf. Eine der Lieblingsgeschichten meiner Kinder war jene des blinden Bartimäus, der in unserem Büchlein am Strassenrand sass und nach Hilfe rief, bis er einen roten Kopf hatte. Prompt setzten sich meine Kinder auf die Quartierstrasse, wickelten sich ein Tuch um den Kopf und schrien um Hilfe, bis sie rote Köpfe hatten. Das war natürlich schön peinlich, die Pfarrerskinder! (lacht) Aber zurück zum Sinn von Bibelgeschichten: Sie bilden auch die Basis vieler unserer Feste und Rituale im Alltag. Ich finde ich es wichtig, dass wir den Kindern diese mitgeben. Ich habe Kinder in der kirchlichen Unterweisung, die nicht mehr wissen, was an Weihnachten geschehen ist! Das gab mir zu denken.

Man könnte nun auch sehr provokativ sagen: Es ist doch nicht schlimm, wenn die Kinder die Weihnachtsgeschichte nicht kennen.
Nein, schlimm ist es nicht. Aber es ist ein Kulturverlust. Es hängt damit zusammen, dass die Schule aus Rücksicht vor den andersgläubigen Kindern die Bibelgeschichten nicht mehr thematisiert.

Ist das in Ihren Augen falsche Rücksichtnahme?
Meiner Meinung nach schon. Man muss ja nicht missionieren! Die Kinder lernen ja auch die römischen und griechischen Götter kennen, ohne dass jemand meint, man verlange von ihnen, daran zu glauben.

Bald ist Ostern, wir färben Eier und verstecken ein Osternest. Weshalb brauchen wir solche Rituale?
Sie geben Heimat. Als meine Kinder klein waren, haben wir in der Adventszeit jeden Morgen einen Scherenschnitt-Stern gemacht. Das liebten sie. Oder dem Osterhasen eine Karotte rauslegen, damit er die Nestchen nicht hungrig verstecken muss. Sie befeuern die Vorstellungskraft. Und sie schaffen in ihrer Repetitivität Verlässlichkeit: Der Osterhase vergisst mich nicht, er kommt jedes Jahr. Zudem helfen uns Rituale, gewisse Vorgänge sichtbar zu machen und zu begreifen. Ostern ist ein Frühlingsfest; es ist eine Geschichte von neuem Leben, vom Sieg des Lebens über den Tod. Dieses Thema wird uns im Leben immer wieder beschäftigen. Mit den Osterbräuchen werden wir uns dessen bewusst.

Als Pfarrerin sind sie nicht nur mit schönen Ereignissen wie Taufen konfrontiert, sondern betreuen auch beispielsweise Eltern, die ein Kind verloren haben. Wie gehen Sie mit diesem Schmerz um?
Das klingt jetzt blöd, aber: Das sind für mich als Pfarrerin die dankbarsten Aufgaben. Menschen in einer solchen Situation sind extrem froh, wenn jemand kommt, bei dem sie sich ausweinen können, der ihnen hilft, zu trauern und ein Abschiedsritual für ihr Kind zu gestalten. Glücklicherweise dürfen wir heute auch früh totgeborene Kinder beerdigen, das durften wir lange nicht, es gab eine gesetzliche Grenze. Welches Leid hätten wir den Menschen ersparen können, wenn wir totgeborene Kinder früher hätten beisetzen dürfen! Dieser Abschied ist enorm wichtig. Und für mich als Pfarrerin eine sehr schöne Aufgabe, so traurig das Ereignis ist, und so viel ich auch weine, wenn ich diese Geschichten höre. Ich bin als Pfarrerin die einzige, die etwas tun kann in dieser Situation.

* Die Pfarrerin Andrea Kindler arbeitet seit 1995 in der Berner Heiliggeistkirche (für alle Nicht-Berner: Das ist die direkt am Bahnhof). Sie hat drei erwachsene Kinder und einen Hund, liest und gärtnert gern und wohnt im Beaumontquartier.