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«Lesen war beinahe verboten, das reizte mich»

Ruth Baeriswyl wuchs in einem fast bücherfreien Haushalt auf. Heute führt sie den Chinderbuechlade Bern.
3 Aug 2020
Bild — Raphael Moser (Berner Zeitung)*

Ruth Baeriswyl, kürzlich ergab eine Studie, dass Vorlesen gut für die Leseförderung, die soziale Integration und sogar den Gerechtigkeitssinn von Kindern sei. Wieso muss immer wieder ins Bewusstsein gerufen werden, dass Lesen und Vorlesen wichtig ist?
In gewissen Bildungsschichten gehört Lesen und Vorlesen zum Leben dazu. Aber nicht in allen. Es ist wichtig, auch leseaffine Kinder aus bildungsfernen Schichten abzuholen. Die Schulen sind seit den Pisa-Studien sehr aktiv in der Leseförderung. In den vergangenen zehn Jahren wird allgemein mehr zur Förderung unternommen.

Wieso ist Vorlesen in Ihren Augen so wichtig?

Für mich ist Vorlesen die absolute Zuwendung. Ich habe das als Mutter erlebt, der Moment, in dem man zusammen ein Bilderbuch anschaut oder vorliest, sich gemeinsam mit etwas beschäftigt. Was will ein Kind mehr?

«Für mich ist Vorlesen die absolute Zuwendung.»

Gibt es Tipps beim Vorlesen, damit es uns Erwachsenen nicht langweilig wird? Manchmal erwischen wir uns doch dabei, dass wir einen Satz überspringen, um schneller vorwärts zu kommen.
Nein, dafür habe ich kein Rezept! Eines meiner Kinder wollte das ganze Jahr über «Wach auf, Siebenschläfer, Sankt Nikolaus ist da» von Eleonore Schmid hören. Auch in den Sommerferien im Tessin. Dabei muss man die Geschichten ja auch immer genau gleich erzählen und nicht abweichen. Wenn man ein Buch eher wiederwillig vorliest, kommt das auch anders rüber, das Kind merkt das. Aber die Buchauswahl liegt ja meist bei den Eltern.

Und oft werden immer noch Klassiker von Astrid Lindgren oder Otfried Preussler ausgewählt. Wieso halten sich diese Bücher?

Klar spielt bei der Auswahl auch die Leseerfahrung der Eltern mit rein. Astrid Lindgren war einfach nahe beim Kind, und die Kinderseele hat sich nicht verändert die letzten 50 Jahre. Ausserdem schreibt sie in einer einfachen Sprache. Andere Klassiker wie «Emil und die Detektive» von Erich Kästner oder auch «Winnetou» von Karl May sind schlechter gealtert. Die Sprache ist fast zu anspruchsvoll. Eigentlich könnte man die Bücher einmal adaptieren. Sprache ist ja immer in Bewegung.

«Es gibt leider auch viel Schrott.»

Gibt es Bücher, bei denen Sie sich weigern, sie in den Laden zu nehmen? 

Ja, denn es gibt leider auch viel Schrott. Unsere Aufgabe ist es, die Spreu vom Weizen zu trennen und die herausragenden Titel an die Eltern und Kinder zu bringen. Ich weigere mich etwa, ein Buch ins Sortiment aufzunehmen, wenn darin Rollenklischees zementiert werden.

Sie haben also nicht den Anspruch, jedes erfolgreiche Buch im Sortiment zu haben?
Als kleine, unabhängige Buchhandlung ist uns Qualität wichtiger als Quantität. Deswegen kann es auch vorkommen, dass wir sogenannte Bestseller nicht an Lager haben. Wir wollen aber nicht missionieren mit hochstehender Literatur – vielmehr geht es darum, unsere Lust und Begeisterung für Aussergewöhnliches weiterzugeben.

Wie hat sich die Auswahl verändert in den vergangenen Jahren? 
Es gibt wahnsinnig viele tolle Sachbücher. Letztes Jahr habe ich gedacht, diese Auswahl, diese Umsetzungen sind nicht zu überbieten. Doch diesen Herbst sind wieder wunderbare Wissenschaftsbücher für Kinder und Jugendliche erschienen. «Wie laut war eigentlich der Urknall?» von Guillaume Duprat ist eines davon.

Und eher ärgerliche Tendenzen?

Diese ewigen Serien. Kaum ist ein Band erfolgreich, muss ein nächster her. Kinder mögen das, und es ist sicher auch für die Leseförderung sinnvoll. Ich bin nicht so ein grosser Fan davon. Aber die Kinder fühlen sich halt wohl in einer Geschichte. Es ist eine Welt, in die man immer wieder zurückkehren will, wie in ein gemachtes Nest. Wir Erwachsenen kennen das ja auch von Netflix-Serien.

«Manche Eltern muten ihren Kindern sehr wenig zu.»

Was kann man einem Kind eigentlich alles zumuten?
Ich staune oft, dass Kinder auch abstrakte Geschichten und experimentelle Illustrationen schätzen.
 Aber das ist auch von Kind zu Kind verschieden. Manche Eltern muten ihren Kindern aber schon sehr wenig zu. Etwa wenn es um Themen wie Tod oder ausgefallene Figuren geht. Langweilige Geschichten möchten wir lieber nicht an Lager haben.

Was braucht ein Buch denn, damit Sie es aufnehmen?
Ein Kriterium ist der Verlag. Von einigen Verlagen kann ich fast blind alles nehmen, von anderen kaum etwas. Einige Verlagsverteterinnen und Vertreter, die zu uns kommen, kennen unsere Buchhandlung und wissen, was passt. Wir könnten uns nicht alleine durch die 20’000 Titel durchackern. Bei Bilderbüchern ist für mich die Illustration fast das Wichtigste. Wenn es zu süss ist, mag ich es nicht. Die wirklich guten Sachen haben meist einen Witz, etwas zum Schmunzeln drin. Text und Illustration müssen gut miteinander korrespondieren, und ich lasse mich gerne überraschen.

«Wenn es zu süss ist, mag ich es nicht. Die wirklich guten Sachen haben meist einen Witz, etwas zum Schmunzeln drin.»

In Zeiten von Online-Buchbestellungen – wie kann man sich da als Buchhandlung über Wasser halten?

Das Unterrichtsmaterial, das wir anbieten, ist ein wichtiges Standbein. Es sind Arbeitsmappen, Kopiervorlagen und Zusatzmaterial für Kindergärtnerinnen oder Lehrerinnen, die man nur bei uns kriegt. Das ist sicher ein Alleinstellungsmerkmal. Und wir sind kein Laden, in den man eher zufällig beim Vorbeischlendern zum Schmökern kommt. Die meisten Leute, die zu uns kommen, kaufen auch etwas. Dabei vertrauen sie auf unser Angebot und unser Know-how.

Und in Zeiten von Social Media und Games: Sorgen Sie sich manchmal um die Lesegewohnheiten von Jugendlichen? 

Manchmal beunruhigt es mich schon. Aber gerade kürzlich wurde eine Studie veröffentlich, die besagt, dass Kinder zwischen 8 und 14 Jahren lieber analog lesen und viele davon täglich. Ich halte mich also ans Positive.

«Arbeit war das Wichtigste, Lesen war Zeitverschwendung.»

Sie stammen selber aus einem Haushalt fast ohne Bücher. Wann und wie nahm die Liebe zu Büchern ihren Anfang?

Ich komme aus einem Büezerhaushalt im Freiburger Hinterland. Arbeit war das Wichtigste, Lesen war Zeitverschwendung. Als meine Brüder «Die Rote» von Alfred Andersch lasen, hat mein Vater das Buch zerstört. Das war ein Triggerpunkt: Dass Lesen beinahe verboten war, reizte mich. Ich dachte, da muss etwas dahinterstecken. Als ich die Schnupperlehre in einer Buchhandlung machte und in diese Welt eingetaucht bin, fühlte ich mich wie im Paradies.

Welches Bilderbuch und Vorlesebuch gehört in jedes Kinderzimmer? 

Ich empfehle zwei Neuerscheinungen: Zum Vorlesen oder selber lesen unbedingt «Wir Rüben aus der grossen Stadt» von Verena Friederike Hasel. Für die urbane Bevölkerung ein Highlight. Es ist ein Buch über das Leben in der Stadt und handelt von einer Hausgemeinschaft, in der man sich das Kinderhüten aufteilt, wo es einen Mittagstisch gibt und Väter weniger arbeiten als die Mütter. Zudem ist es toll geschrieben. Bei den Bilderbüchern empfehle ich «Hier sind wir» von Oliver Jeffers. Ein allumfassendes Buch, in dem es um das Universum, um das Leben an sich, einfach um alles geht. Ein Buch, das auftut. Toll finde ich auch, dass die Hauptperson kein Geschlecht hat. Und es appelliert an die Toleranz. Ein schönes Geschenk zur Geburt.

Welche Bücher empfehlen Sie zur Weihnachtszeit?
«Das letzte Schaf» von Ulrich Hub, der auch «An der Arche um acht» geschrieben hat. Darin geht es um sieben Schafe, die so tun, als seien sie eine Herde. Eines hat eine Zahnspange, ein anderes ein gebrochenes Bein: Tolle Identifikationsfiguren für die Kinder. Den Stern von Bethlehem deuten die Schafe als UFO und als das Jesuskind sich als Junge herausstellt, sind sie enttäuscht: Sie haben ein Mädchen erwartet. Es ist ein witziges Buch, aber mit dem nötigen Tiefgang. Dabei wird die Weihnachtsgeschichte aus einer anderen Perspektive erzählt, ohne sie auf die Schippe zu nehmen.

Ruth Baeriswyl führt den Chinderbuechlade an der Gerechtigkeitsgasse 26 in der unteren Berner Altstadt seit mehr als 10 Jahren. Der Laden bietet ausgesuchte Kinder- und Jugendliteratur und besteht bereits seit 45 Jahren, 1973 von Marie-Louise von Gunten und Leslie Lehmann gegründet. Im Mai wurde der Chinderbuechlade zur «Buchhandlung des Jahres» gekürt. Seit Kurzem wählen die sechs Mitarbeiterinnen des Ladens ein Buch des Jahres aus. 2018 geht die Auszeichnung «Der goldene Rabe» an das Bilderbuch «Hier sind wir» von Oliver Jeffers.

* Das Bild verwenden wir mit freundlicher Genehmigung der «Berner Zeitung». Es zeigt Ruth Baeriswyl mit ihrer Tochter Nora. Das BZ-Interview mit Ruth Baeriswyl: «Kinder sind gnadenlose Kritiker»

Dieser Beitrag erschien erstmals im November 2018.