Ungefähr mit eineinhalb Jahren hat Ennio seinen ersten Krampf. Der Arzt im Spital diagnostiziert einen Fieberkrampf, ein gar nicht so seltenes Phänomen bei Kleinkindern. Doch bei Ennio häufen sich die Krämpfe. Einmal bleibt sogar sein Arm eine halbe Stunde lang gelähmt. Deshalb pochen seine Eltern Désirée und Thomas auf weitere Abklärungen. Désirée ist besorgt: «Sassen wir am Tisch auf Augenhöhe mit Ennio, konnte ich sehen, wie sein Blick öfters ins Leere ging.» Die Neurologen im Spital winken ab. Während Thomas ruhig und zuversichtlich bleibt, verstärkt sich bei Désirée das Bauchgefühl, es könnte sich um Epilepsie handeln. Sie ist beunruhigt: «Ich begann zu zählen, bei jeder Absenz einen Strich.» Zehn bis fünfzehn Mal pro Tag ist ihr Kind für mehrere Sekunden einfach weg. Ohne ersichtlichen Grund.
Ein Jahr nach dem ersten Krampf bestätigt eine Hirnstrommessung Désirées Verdacht: kindliche Absenz-Epilepsie. Dabei handelt es sich um eine der häufigsten Anfallsformen bei Kindern mit Epilepsie. Die Ursache ist meist genetisch, manchmal erblich. Die Kinder sind kurz «weg», ohne zu stürzen oder zu zucken, dabei sind die Augen offen, der Blick wirkt «leer». Oft merken die Kinder gar nicht, dass sie einen Anfall hatten.
Zehn bis fünfzehn Mal pro Tag ist ihr Kind für mehrere Sekunden einfach weg. Ohne ersichtlichen Grund.
Für Désirée ist die Diagnose beinahe eine Erleichterung, ihr Bauchgefühl hat sie nicht getäuscht, und gleichzeitig steht sie vor einer grossen Ungewissheit: Was kommt nun auf sie zu?
Epilepsie ist ein riesiges Feld mit vielen verschiedenen Ausprägungen. Viele Menschen sind einmal im Leben von einem Anfall betroffen, oft unbemerkt. Epilepsie ist eine der häufigsten neurologischen Erkrankungen und betrifft in der Schweiz ungefähr 80’000 Erwachsene und 15’000 Kinder. Bei Absenz-Epilepsie sind die Prognosen in den meisten Fällen gut. Mit der richtigen Medikation verwachse sich diese Epilepsie in einigen paar Jahren, versichert eine Neurologin Thomas und Désirée.
Trotz dieser guten Aussichten kommen bei Désirée Gedanken zu Vergänglichkeit und Verlust auf. Es sind Ängste, wie sie Eltern niemals haben wollen. Wie lassen wir unseren 3-Jährigen, der strotzt vor Energie und Selbstbestimmung, aufwachsen? Darf er überhaupt noch auf einen Baum klettern? Müssen wir seinen Enthusiasmus fürs Fahrradfahren bremsen? Darf er alleine draussen im Garten spielen? Für Thomas ist klar: Er will sich nicht von seinen Ängsten dominieren lassen, sondern vertrauensvoll sein: «Er bleibt unser Kind und soll leben und seine Erfahrungen machen wie ein gesundes Kind auch.» Im Nachhinein sagt Thomas, er habe seinem Sohn manchmal vielleicht sogar zu viel zugemutet, nur um nicht in Gefahr zu laufen, ihn in Watte zu packen. Das wäre bei Ennio sowieso ein schier unmögliches Unterfangen: Er ist ein wildes Kerlchen, eigenwillig erkämpft er sich seinen Freiraum, fordert Selbstständigkeit ein, lotst die Grenzen aus, verwickelt sich in Konflikte, kennt keine Angst und Scheu, weicht nicht zurück, sondern ist immer mittendrin. Sein Mut, seine Neugierde und Offenheit, so sind seine Eltern überzeugt, unterstützen ihn in der Bewältigung seiner Krankheit. Denn wie sich herausstellt, ist der Weg zur Genesung länger als erwartet.
Die Eltern fragen sich: Wie lassen wir unseren 3-Jährigen, der strotzt vor Energie und Selbstbestimmung, aufwachsen? Darf er überhaupt noch auf einen Baum klettern?
Die richtige Medikation für Ennio zu finden, stellt sich als schwierig heraus. Die Liste der Nebenwirkungen der Medikamente ist lang, die Risiken sind vielfältig. Ennio ist schnell frustriert und reagiert aggressiv, dann wiederum ist er müde und antriebslos. Immer wieder folgen Spitalbesuche, Untersuchungen, Blutentnahmen. Ständig sind die Eltern am Beobachten und Reflektieren, damit sie den Ärzten möglichst genau Auskunft geben können. Bei einer der unzähligen Untersuchungen fragt der Neurologe Désirée, ob Ennio schon immer so gezittert habe. Sie bricht in Tränen aus: Sie wisse es nicht, sie wisse gar nicht mehr, wie ihr Kind sei ohne Medikamente.
Obwohl Ennio regemässig Medikamente nimmt, hören die Absenzen nicht auf, im Gegenteil. In dieser Zeit seien sie sehr belastet gewesen und geplagt durch die Frage, wie ihr Sohn das Ganze verkrafte. Mehrmals täglich wird er in seinen Handlungen unterbrochen, mitten aus dem Spiel oder einem Gespräch gerissen. Zu Spitzenzeiten 30 bis 40 mal pro Tag für 5 bis 25 Sekunden «macht sein Kopf eine Pause». Längstens wäre er trocken, doch während der Anfälle kann er seine Blase nicht kontrollieren. Das ständige Kleiderwechseln ist anstrengend. Unter diesen Umständen zögern die Eltern die Einschulung des bald Vierjährigen heraus. Obwohl das Umfeld Bescheid weiss, kommunizieren Désirée und Thomas in dieser Zeit zurückhaltend. Zu gross sei die Befürchtung gewesen, ihr Sohn werde stigmatisiert. Als sie merken, dass er mit seinem Verhalten manchmal aneckt, ziehen sie sich zurück.
Als die Eltern merken, dass Ennio mit seinem Verhalten manchmal aneckt, ziehen sie sich zurück.
Als das dritte Medikament keine Besserung bringt, wächst bei Thomas eine neue, traurige Einsicht. Er, der Optimist sagt: «Ich musste mich mit dem Gedanken anfreunden, ein chronisch krankes Kind zu haben, das womöglich sein Leben lang von der Epilepsie begleitet wird.» Bis dahin sei er zuversichtlich gewesen, vielleicht sogar etwas naiv. Dieser neue Gedanke fühlt sich an wie «ein böses Erwachen».
Auch der Neurologe kommt nicht weiter und empfiehlt, in der EPI-Klinik in Zürich eine Zweitmeinung einzuholen. Dort verbringt Ennio im Sommer des letzten Jahres eine ganze Woche. Er wird umfassend untersucht, betreut und begleitet. Dieser Aufenthalt stellt sich als Meilenstein in der Krankheitsgeschichte von Ennio heraus: Die besten Erkenntnisse seien nicht primär medizinischer Art gewesen, sagt Désirée, sondern die Diagnose der Kinderpsychologin: Sie versichert den Eltern, Ennio sei seinem Alter entsprechend gut entwickelt und durch die Krankheit psychisch nicht belastet. Die Erleichterung und Bestätigung waren gross. «Offenbar haben wir etwas richtig und gut gemacht.» Denn oft haben sich die Eltern gefragt, wie stark ihr Kind unter der Belastung leide und ob es ihnen gelingen würde, nebst der Krankheit auch Normalität und Unbeschwertheit zu leben.
Seit einem halben Jahr hat Ennio keine Absenzen mehr.
Nach dem Aufenthalt in der EPI-Klinik beginnt Ennio eine neue Therapie, er bekommt eine neue Kombination von Medikamenten. Diese wirkt. Seit einem halben Jahr hat Ennio keine Absenzen mehr. Bleibt es so, kann man die Medikamente nach zwei Jahren kontinuierlich runterfahren und im besten Fall sogar ganz absetzen. Denn, wie die Eltern in Zürich erfahren, nimmt mit jedem Tag, an dem das Hirn keine neuen Anfälle produziert, das Risiko einer erneuten Absenz ab.
Seit August sei in der Familie etwas Ruhe eingekehrt, sagen Thomas und Désirée. Sofern das möglich sei mit mittlerweile zwei kleinen Kindern. Trotz Erleichterung und zunehmender Entspannung haben die vergangenen Jahre ihre Spuren hinterlassen und an den Kräften der Beiden gezehrt. Doch Désirée will nicht ruhen, sondern ihre Erfahrungen weitergeben. Wie sie weiss, brauchen Betroffene Austausch, Kontakte und Unterstützung, nicht nur medizinischer Art. Emotional und psychisch hätten sie sich von den Ärzten oft alleine gelassen gefühlt. Dieser Umstand spornt sie an, als EPI-Coach* Familien in ähnlichen Lebenssituationen zu begleiten.
Und Ennio? Neulich habe ich ihn getroffen, geschickt fährt er mit seinem Fahrrad um mich herum – ein schelmisches Lächeln auf dem Gesicht. Stolz erzählt er mir, wo der Kindergarten liegt, den er ab Sommer besuchen wird.
*«My Epi Coach» ist ein Projekt der Patientenorganisation epi-suisse.ch.
EPI Suisse ist die Patientenorganisation für Menschen mit Epilepsien und ihre Angehörigen.
Die Schweizerische Epilepsie-Liga forscht, hilft und informiert.