Unsere Kinder sollten die wichtigsten Regeln kennen, wie man sicher Velo fährt, dachte ich mir, bevor ich unsere Familie vor Kurzem an einen Velofahrkurs von Pro Velo angemeldet habe. Dass wir Erwachsenen dabei auch einiges lernen würden, damit hätte ich nicht gerechnet. Kurt Egli, Projektleiter Velokurse bei Pro Velo Schweiz, beantwortet die brennendsten Fragen von Eltern mit Kindern im Fahrradalter.
Herr Egli, ab welchem Alter kann ein Kind alleine mit dem Fahrrad im Strassenverkehr unterwegs sein?
Ab 12 Jahren sind die meisten Kinder reif genug, um alleine unterwegs zu sein. Diese Reife bedeutet, dass ein Kind komplexe Situationen richtig einschätzen und angemessen reagieren kann. Es sind verschiedene körperliche und geistige Voraussetzungen nötig, um auf typische Situationen im Strassenverkehr reagieren zu können: Was mache ich, wenn ein Lastwagen auf dem Fahrradstreifen parkiert ist? Oder wenn die Ampel nicht funktioniert? Zur «Veloverkehrsreife» braucht es auditive, intellektuelle, motorische, visuelle und emotionelle Kompetenzen, die jüngere Kinder noch nicht entwickelt haben.
«Ein siebenjähriges Kind hat erst 70 Prozent seines Blickfelds entwickelt.»
Können Sie ein paar Beispiele solcher Kompetenzen geben?
Ein siebenjähriges Kind hat beispielsweise erst 70 Prozent seines Blickfelds entwickelt, es hat links und rechts also einen blinden Bereich. Kinder unter 10 Jahren können Geschwindigkeiten von sich selber und anderen Verkehrsteilnehmern noch nicht richtig einschätzen. Zudem sind parallele Bewegungsabläufe (zum Beispiel Handzeichen geben und gleichzeitig pedalen) oft noch eine Herausforderung, und die Ablenkbarkeit ist erhöht.
Aber üben müssen sie ja schon, bevor sie 12 sind, oder?
Genau! Bis ein Kind dieses Niveau erreicht, gibt es einen graduellen Aufbau: Der Start im Strassenverkehr sollte mit einer erwachsenen Begleitperson erfolgen. Später sind erste einzelne Ausfahrten möglich. Meistens besprechen die Eltern dann mit dem Kind im voraus die Strecke und empfehlen ihm vielleicht, an gewissen anspruchsvollen Orten das Velo zu stossen. Das ist immer abhängig vom Kind, von seiner Erfahrung im Strassenverkehr und von der geplanten Strecke, und muss individuell beurteilt werden. Ein Kind, das schon oft mit einem Elternteil auf Waldwegen biken war, hat also nicht automatisch die nötige Kompetenz für den Stadtverkehr!
Aber gesetzlich wäre es erlaubt, dass bereits jüngere Kinder bereits alleine auf der Strasse fahren?
Das stimmt, ja. Kinder dürfen vom Gesetz her ab dem vollendeten sechsten Altersjahr ohne Aufsicht auf Hauptstrassen fahren. Diese Regelung hat unter anderem damit zu tun, dass in ländlichen Regionen die Kinder selbständig mit dem Velo zur Schule fahren müssen. Im städtischen Bereich raten wir aber ganz klar davor ab, Kinder in diesem Alter alleine auf eine Hauptstrasse zu lassen.
«Der Wichtigste Rat an Eltern: Kinder nicht überfordern und Stress vermeiden!»
Worauf sollte man besonders achten, wenn man mit Kindern erste Versuche im Strassenverkehr macht?
Der mit Abstand am wichtigste Punkt ist: Die Kinder nicht überfordern und Stress vermeiden! Wir Eltern neigen dazu, auf dem Fahrrad Dinge zu tun, die wir selber beherrschen, die für Kinder aber noch zu schwierig sind. Wenn sie also zeitlich beispielsweise schon knapp dran sind, gehen sie besser über den Fussgängerstreifen, anstatt rasch noch links abzubiegen und die Kurve zu schneiden. Wichtig ist insbesondere:
Und dann hilft es sehr, eine gewisse Routine zu schaffen. Eltern und Kinder sollten regelmässig gewisse Wege mit dem Velo fahren und im Alltag probieren, gemeinsam die Eigenheiten des Strassenverkehrs zu entdecken.
Gibt es noch andere, eher technische Tipps?
Ja, die gelten allerdings für alle Velofahrenden, aber die Erwachsenen können den Kids gleich vorzeigen, wie es richtig wäre: Im Kreisel in der Mitte der Fahrbahn fahren, beispielsweise. Oder immer mit sicherem Abstand vom Rand fahren – empfohlen sind 70 Zentimeter bis 1 Meter. Den toten Winkel kennen und beachten: Das heisst, nie neben ein grösseres Fahrzeug (Lastwagen, Bus oder ähnliche) fahren, da dieses abbiegen könnte. Solche und weitere Dinge werden in unseren Velofahrkursen geübt – da erleben auch viele Erwachsenen noch einige Aha-Momente!
Soll man denn vor oder hinter dem Kind fahren im Strassenverkehr? Und wie macht man es, wenn mehrere Kinder dabei sind?
Zu Beginn sollte das Kind hinter der erwachsenen Person sein, dann kann man selber beispielsweise etwas weiter weg von den parkierten Autos am Strassenrand fahren. Die Voraussetzung dafür ist aber, dass sich das Kind an die Vorgaben des Elternteils halten kann! Wenn dann eine gewisse Routine und Kenntnis der Strecke vorhanden ist, fährt das Kind voraus. Das ist etwas anspruchsvoller, dafür hat man das Kind im Auge. Wer mit mehreren Kindern unterwegs ist, sollte das älteste Kind vorne fahren lassen, dann die erwachsene Person, und die Kleineren hintendran.
»Die Trottoir-Regel für Kinder unter 12 Jahren gilt nur, wenn kein Radstreifen vorhanden ist.»
Kinder bis 12 Jahre dürfen ja auf dem Trottoir fahren. Wie ist es denn mit der Begleitperson, darf die auch aufs Trottoir, wenn sie mit einem Kind unterwegs ist?
Nein, darf sie nicht. Und wussten Sie, dass die Trottoir-Regel nur gilt, wenn kein Radstreifen vorhanden ist? Sobald es einen solchen hat, müssen auch Kinder auf dem Radstreifen fahren.
Welche Fehler beobachten Sie oft, wenn Sie Velos auf der Strasse sehen?
Was ich allgemein beobachte bei Velofahrenden: Viele fahren zu nah am Strassenrand, und E-Bikes sind teilweise unangemessen schnell und aufdringlich unterwegs. Was mir aber auch auffällt: Wenn es in einer Stadt viele Velofahrende hat, bemerkt man eine Routine aller Verkehrsteilnehmenden im Umgang miteinander und das Zusammenleben klappt meist gut und rücksichtsvoll. Der vielzitierte «Verkehrskrieg» ist aus meiner Sicht beschränkt auf ein paar neuralgische Punkte und hat vor allem mit schlechter Velo-Infrastruktur an diesen Orten zu tun.
Im Wald herrscht öfters Fahrverbot, gilt das auch für Kinder?
Ja, die Verkehrsregeln gelten für alle. Es gibt allerdings eine kleine Ausnahme für Kinder: Kindervelos, die nicht strassentauglich ausgerüstet sind (zum Beispiel Like-a-bikes) gelten als «fahrzeugähnliche Geräte» wie Trottinettes oder Inlineskates und dürfen im Velofahrverbot benützt werden.
Was halten Sie von Ziehsystemen wie Follow-me und Tow-Whee?
Follow-me funktioniert wie ein Trailervelo, das ist im Strassenverkehr erlaubt und vom Fahrverhalten fast gleich wie ein normales Fahrrad. Mit einem solchen System kriegt ein Kind ein erstes Gespür für den Verkehr und es ist praktisch, weil man es auf einfacheren Streckenabschnitten abkoppeln kann. Tow-Whee ist eine Unterstützung für die Kondition, und vom Fahrverhalten für ein Kind eigentlich anspruchsvoller, als alleine zu fahren. Das System eignet sich höchstens für Off-Road und sicher nicht für die Strasse – gemäss Strassenverkehrsgesetz ist es Fahrrädern verboten, sich durch andere Fahrzeuge ziehen zu lassen.
Viele Kindervelos kosten 500 Franken und mehr – was ist der Vorteil dieser Modelle? Oder tut es auch ein No-name Velo von der Velobörse?
Die besten sind in meinen Augen diejenigen Velos, die mitwachsen können – wenn man sich das leisten kann, das ist aber natürlich kein Muss. Eine ebensogute Option ist die Velobörse (oder sonst eine Secondhand-Option), wo ein qualitativ gutes Velo zu einem guten Preis erhältlich ist. Von Billigmodellen vom Kaufhaus rate ich eher ab, die sind oft schwer, die Schaltung funktioniert schnell mal nicht mehr sauber und sie verfügen oftmals nicht über eine anständige Beleuchtung und Schutzbleche.
Der Programmleiter der Velofahrkurse von Pro Velo Schweiz ist Raumplaner ETH mit eigenem Umweltberatungsbüro in Winterthur. Als Verkehrsexperte leitet er verschiedene Projekte und hat das Velokursangebot von Pro Velo aufgebaut sowie das Handbuch für Velokurse mitgestaltet. Er ist verantwortlich für die Aus- und Weiterbildung der über 600 Kursleiter:innen und fungiert selbst als Velofahrkursleiter.