Ulla Autenrieth ist Professorin und Forschungsleiterin am Institut für Multimedia Production an der Fachhochschule Graubünden. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Online-Kommunikation, Medienwandel, Mediennutzung und -entwicklung, insbesondere mit Fokus auf die Mediennutzung von Jugendlichen. Zuvor war sie an der Universität Basel tätig. Sie ist Mutter zweier Kinder im Alter von 8 und 12 Jahren.
Ulla Autenrieth, starten wir mal ganz konkret: Meine Kinder sind 7 und 9. Wie viel Bildschirmzeit ist ok?
Ich muss immer lachen bei dieser Frage, weil ich dann immer klar darauf antworte: Es kommt darauf an. Es kommt darauf an: wie das Wetter ist, ob ich als Mutter krank bin oder gesund, ob Freunde der Kinder Zeit haben abzumachen oder nicht, ob wir sonst etwas vorhaben oder nicht.
Was wäre denn die richtige Frage?
Ich plädiere dafür, sich eher zu überlegen: «Wie möchte ich mein Familienleben gestalten?» Es gibt dieses schöne Modell aus dem Zeitmanagement: Wir können uns unseren Alltag als Gefäss vorstellen, in dem grosse Steine, ein paar kleinere Kiesel und ganz viel Sand dazwischen Platz hat.
Und was ist die Bildschirmzeit in diesem Bild?
Social Media und Bildschirmzeit sollten meiner Meinung nach kein grosser Stein sein, sondern eher der Sand, der am Schluss die Lücken auffüllt zwischen Wichtigerem. Etwa auf einer Zugfahrt – ist doch in Ordnung. Wenn die Kinder aber nicht mehr mit ihren Freunden abmachen, ist es nicht ok.
Gibt es denn einen Zusammenhang zwischen Bildschirmzeit und dem Wohlbefinden von Kindern? Als Laiin stelle ich mir vor: je länger, desto schlechter.
Auch hier muss man sagen: Es kommt eben sehr darauf an. Was wird denn während der Bildschirmzeit gemacht? Fernsehen, in der App lernen, mit Freunden chatten: Was zählt da alles dazu? Je mehr soziale Interaktion, je mehr Kreativität in etwas steckt, desto positiver ist es letztlich. Wenn ich mir Tag und Nacht negative Dinge anschaue, hat es natürlich einen negativen Effekt.
«Je mehr soziale Interaktion, je mehr Kreativität in etwas steckt, desto positiver ist es letztlich.»
Der amerikanische Moralpsychologe Jonathan Haidt behauptet in seinem Bestseller «Generation Angst», Social Media mache junge Menschen psychisch krank. Haben Sie als Medienwissenschaftlerin sein Buch gelesen?
Oh ja. Von Anfang bis Ende.
Wie schätzen Sie als Expertin es ein?
Haidt greift Ängste auf, die viele Eltern teilen, und präsentiert diese in einer sehr zugespitzten Weise. Dabei muss man beachten, dass er Bücher schreibt, um Bestseller zu landen. Haidt lehrt an einer Business School. Das Konzept des Buches erinnert mich an die Bücher von Manfred Spitzer, der mit seinen Thesen ja auch immer sehr präsent ist. Diese Autoren greifen Ängste auf und setzen das Ganze sehr schlagwortartig und marktorientiert um. Die Thesen finden viel Anklang, weil sie Themen und Herausforderungen aufgreifen, die im Raum stehen.
«Diese Autoren greifen Ängste auf und setzen das Ganze sehr schlagwortartig und marktorientiert um.»
Und, sagen Sie es uns als Expertin: Macht Social Media tatsächlich krank?
Aus meiner Sicht ist das eine sehr unterkomplexe Darstellung. Es gibt unterschiedliche Phänomene, die den Druck auf Kinder und Jugendliche erhöhen. Man weiss zum Beispiel, dass der Schuldruck auf Kinder immer höher wird, dass sie unbedingt gute Leistungen zeigen müssen, einen Beruf wählen müssen, um auf dem globalen Markt mithalten zu können. Die Anforderungen steigen. Immer mehr Kinder wollen, können da nicht mehr mithalten. Das sind starke Kräfte, die da auf die Kinder einwirken. Dann gibt es grosse allgemeine Themen, die immer präsenter sind für die jungen Menschen heute: die Klimakrise, Kriege, ein allgemein hohes Bedrohungsszenario. Es sind unglaublich viele Facetten, die da mit rein spielen.
Was sagt denn die Studienlage zum Zusammenhang von Social Media und psychischer Gesundheit?
Die Studienlage ist eindeutig nicht eindeutig. Diese Zusammenhänge, die Haidt wortreich und mit Grafiken aufzuzeigen versucht, lassen sich so einfach nicht nachweisen. Er individualisiert das Problem sehr stark. Dabei sieht er das Problem in erster Linie bei den Eltern und ihrer Fähigkeit, ihre Kinder zu kontrollieren und zu erziehen. Dabei übergeht er jedoch gesellschaftliche Faktoren wie soziale Ungleichheit. Das Thema ist vielschichtiger, und die Studienlage zu den Auswirkungen von Social Media ist keineswegs eindeutig. Es gibt durchaus Studien, die positive Effekte von Social Media zeigen, wie z.B. die Förderung von Kreativität und sozialer Interaktion. Aber diese Erkenntnisse erhalten in dem Buch keinerlei Gewicht.
«Haidt sieht das Problem in erster Linie bei den Eltern und ihrer Fähigkeit, ihre Kinder zu kontrollieren und zu erziehen. Dabei übergeht er jedoch gesellschaftliche Faktoren wie soziale Ungleichheit.»
Haidt betreibt also, was man in Wissenschaftskreisen als «Cherry Picking» bezeichnet: Er greift sich nur jene Studien heraus, die seine These bestätigen?
Ganz genau. Er sucht alles heraus, was in seine Theorie passt, was er schreiben möchte und was diesen Nerv trifft. Aber er lässt alles aus, was dem widerspricht.
Haidt fordert, dass Social Media erst ab 16 Jahren zugänglich sein sollte. Was halten Sie von dieser Empfehlung?
Die Idee klingt auf den ersten Blick vernünftig. Aber die Gefahr ist bei einem Verbot, dass wir das Wichtigste verlieren, was wir in Zusammenhang mit Social Media und Kindererziehung haben: das Vertrauen und das Zutrauen der Kinder.
Was meinen Sie damit?
Dass sie mit Fragen und Sorgen zu uns kommen können. Das versuche ich auch meinen Kindern immer zu vermitteln: Egal, was ihr seht, wenn euch etwas stresst oder irgendetwas komisch vorkommt, ihr könnt immer mit mir darüber sprechen. In dem Moment, wo ich wie eine Richterin darüber urteile, dass sie ein Medium gar nicht mehr nutzen dürfen, ist die Gefahr gross, dass sie es heimlich machen und nicht mehr mit ihren Fragen und Problemen zu mir kommen, sondern versuchen, eigene Lösungen zu finden. Viel wichtiger als Verbote ist deshalb, dass Eltern und Schulen einen offenen Dialog mit den Kindern führen und ihnen helfen, kompetent mit den Medien umzugehen. Aber dafür haben längst nicht alle Eltern und Schulen die Ressourcen. Einige können das leisten, andere nicht.
«Kinder aus sozial schwächeren Familien haben oft weniger Ressourcen und Unterstützung, um sich im digitalen Raum sicher zu bewegen.»
Können Sie das ausführen?
Je stärker man den Eltern auferlegt, hier Regeln zu beschliessen und die entsprechende Bildung zu vermitteln, desto stärker wird das auch individualisiert auf die entsprechenden Ressourcen der jeweiligen Eltern. Kinder aus sozial schwächeren Familien haben oft weniger Ressourcen und Unterstützung, um sich im digitalen Raum sicher zu bewegen. Eltern, die mehrere Jobs haben oder nicht über ausreichende Medienkompetenz verfügen, können ihre Kinder weniger gut begleiten. Das führt zu einer weiteren Verstärkung der sozialen Ungleichheit, weil Kinder aus wohlhabenderen Familien besser betreut und aufgeklärt werden können. Hier wäre es wichtig, dass Schulen und Politik mehr Unterstützung bieten.
Es gibt ja durchaus Risiken von Social Media: «Cyber grooming» oder auch das Abdriften in Extreme wie beispielsweise die sogenannte toxische «Manosphere». Wo haben wir denn Handlungsmöglichkeiten gegenüber dieser Risiken?
Was Sie da ansprechen, sind nicht Risiken von Social Media: Das sind reale gesellschaftliche Phänomene. Die Retraditionalisierung und der antifeministische Backlash sind politische Bewegungen und gesellschaftliche Leitbilder unserer Zeit. «Cyber grooming» ist Ausdruck der Sexualisierung von Frauen und Mädchen. Social Media ist lediglich der Übertragungskanal, auf dem sich nun mal besonders viele Jugendliche bewegen und deshalb damit in Berührung kommen.
«Die Retraditionalisierung und der antifeministische Backlash sind politische Bewegungen und gesellschaftliche Leitbilder unserer Zeit. Social Media ist lediglich der Übertragungskanal.»
Ein weiterer Punkt, den Haidt anspricht, ist die Verbindung zwischen Social Media und Essstörungen bei jungen Mädchen. Teilen Sie seine Bedenken?
Das Thema Essstörungen ist ein ernstes Problem, das Haidt richtigerweise anspricht. Doch auch hier greift er zu kurz, indem er Social Media als den Hauptschuldigen darstellt. Gesellschaftliche Schönheitsideale und der Druck auf Mädchen und Frauen, einem bestimmten Bild zu entsprechen, existierten schon lange vor Social Media. Die Gesellschaft vermittelt auf unterschiedlichsten Kanälen: Du musst dünn und schlank sein. Plattformen wie Instagram und Tiktok können diesen Druck verstärken, aber sie sind nicht die Wurzel des Problems.
Woher kommt dann dieser Druck?
Die Unmengen an Frauenhass auf Social Media sind zurückzuführen auf eine politische Retraditionalisierung. Es sind ganz stark konservative Kräfte aktiv, die ein hohes Mass an Misogynie, also Frauenfeindlichkeit, befeuern. Und dass Mädchen das belastet, ist klar, aber das Problem ist nicht Social Media. Das blendet Haidt aus. Das Problem sind dann die Mädchen: Das Opfer muss handeln.
Aber wenn sie als Verstärker wirken, könnte es Mädchen ja trotzdem helfen, wenn sie weniger auf Social Media wären?
Das Ergebnis kann doch nicht sein, dass junge Menschen, gerade junge Mädchen, raus müssen aus Social Media! Wichtig ist es, dieses Phänomen zu adressieren und politisch anzugehen. Diese Phänomene sind nicht weg, nur weil man Social Media schliesst.
«Das Ergebnis kann doch nicht sein, dass junge Menschen, gerade junge Mädchen, raus müssen aus Social Media!»
Haidt betreibt «Victim blaming»?
In gewisser Hinsicht schon: Die Mädchen erfahren auf Social Media Frauenhass und werden mit zutiefst schädlichen Frauenbildern konfrontiert. Deshalb sollen sie nicht mehr auf Social Media, sie sollen – polemisch gesagt – bitteschön zuhause bleiben und sich ordentlich anziehen, um sich keiner Gefahr auszuliefern. Damit werden die Mädchen ja aber auch zum Schweigen gebracht. Sich auf Social Media Sichtbarkeit und Gehör verschaffen, eigene Standpunkte kommunizieren können: Das ist natürlich auch eine politische Kraft.
Was bedeutet das für mich als Mutter?
Ich kann mir vielleicht einmal überlegen: Möchte ich meine Tochter zum Schweigen bringen? Möchte ich, dass sich Mädchen aus öffentlichen Diskursen zurückziehen, aus Angst, dass es sich negativ auf sie auswirkt oder dass sie dort negative Begegnungen haben? Das kann man ja durchaus reflektieren. Oder ist es nicht sinnvoller, meine Tochter, Mädchen, junge Frauen zu stärken, respektive auch junge Männer aufzuklären und mit in die Verantwortung zu nehmen? Mit Verboten werden Jugendliche lediglich zum Schweigen gebracht.
Wie meinen Sie das?
Die ganzen «Fridays for Future» hätten nicht stattgefunden, wenn es ein Social-Media-Verbot für Jugendliche gäbe. Man nimmt den Kindern und Jugendlichen damit eine ganz wichtige politische Stimme. Es geht da ganz stark auch um Sichtbarkeit, Gehörtwerden und Präsentsein. Das hat eine starke politische Komponente.
«Die ganzen «Fridays for Future» hätten nicht stattgefunden, wenn es ein Social-Media-Verbot für Jugendliche gäbe.»
Schon in den 80er-Jahren fürchtete man, die Kinder würden verdummen, weil sie zu viel fernsehen. Ist Social Media nun tatsächlich eine komplett neue Dimension, wie Jonathan Haidt behauptet, oder wiederholt sich einfach die Geschichte?
Letzteres. Das sieht man bei allen Neuerungen von Technologien. Insbesondere, wenn sie Kinder und Jugendliche oder junge Frauen betreffen. Es gibt einen grossartigen Text dazu, «Standardsituationen der Technologiekritik» von Kathrin Passig. Sie zeigt wunderbar auf, dass es solche Diskussionen sogar schon bei der Verbreitung von Büchern gab: Die galten als sehr, sehr gefährlich. Weil sie ja gerade junge Mädchen und Frauen auf dumme Ideen bringen könnten. Man fürchtete, sie würden zu Aufmüpfigkeit führen.
«Büchern galten als sehr, sehr gefährlich. Weil sie ja gerade junge Mädchen und Frauen auf dumme Ideen bringen könnten.»
Warum ist die Unsicherheit beim Thema Social Media so gross?
Weil diese Technologien noch vergleichsweise neu sind und wir nicht auf eigene Erfahrungen aus der Kindheit zurückgreifen können. Nehmen wir als Vergleich den Umgang mit Zucker: Da erinnern wir uns daran, dass unsere Eltern uns das vielleicht als Dessert erlaubt haben, aber nicht wollten, dass wir den ganzen Tag nur Zucker essen. An einem Kindergeburtstag durften wir aber auch mal nur Kuchen essen und Eistee trinken. Unsere Eltern agierten situationsgemäss. Und sie schauten nicht auf den einzelnen Tag, sondern: Was ist so der Schnitt im Monat? Das kann an einem Tag mal besonders viel sein, an einem anderen Tag dann vielleicht weniger oder mal gar nichts. Das müssen wir im Kontext mit Bildschirmmedien noch lernen.
Schulen stehen oft vor der Herausforderung, den Umgang mit digitalen Medien zu regeln. Wie sollten sie Ihrer Meinung nach vorgehen?
Schulen befinden sich hier in einem Lernprozess. Es ist wichtig, dass sie sowohl den Schülerinnen und Schülern als auch den Eltern klare Richtlinien an die Hand geben und gleichzeitig genügend Raum für Reflexion und Anpassung lassen. Ein pauschales Handyverbot mag in der Unterstufe sinnvoll sein, das unterstütze ich. Aber es muss gleichzeitig auch medienpädagogische Arbeit geleistet werden, damit die Kinder lernen, wie sie verantwortungsbewusst mit den neuen Technologien umgehen.
«Ein pauschales Handyverbot mag in der Grundschule sinnvoll sein.»
In jüngster Zeit gab es immer wieder Berichte über Skandinavien, das früh auf die Digitalisierung der Schulen gesetzt hat, jetzt aber wieder zurückrudert. Was hat es damit auf sich?
Ja, in Skandinavien ging man zunächst sehr schnell und radikal in Richtung Digitalisierung, insbesondere in den Schulen. Man stellte jedoch fest, dass die grundlegenden Kulturtechniken, wie das Schreiben mit der Hand, darunter leiden. Inzwischen findet eine Rückbesinnung auf traditionelle Lehrmethoden statt. Es zeigt sich, dass ein ausgewogenes Verhältnis zwischen digitalen und analogen Methoden notwendig ist. Der Schweiz kommt es hier nun sicher entgegen, dass sie in dieser Entwicklung nicht ganz vorne mit dabei war.
Was raten Sie der Schweiz in der aktuell aufgeladenen Social-Media-Debatte? Würde es sich auch hier lohnen, nicht zuvorderst dabei zu sein?
Wir sollten uns vor Augen führen, dass diese Warnungen aus den USA kommen, wo ganz andere Zustände herrschen. Hierzulande ist ganz vieles «normal», was Haidt in den USA als grosse Revolution oder eher als Rückkehr zu den «guten alten Werten» beschreibt. Die meisten Schweizer Kinder können ohne elterliche Begleitung zu Fuss zur Schule gehen, Jugendliche treffen sich draussen im Park, ohne Angst haben zu müssen, und wir haben Abenteuerspielplätze, auf denen unsere Kinder frei herumturnen. Diese Freiräume müssen wir hochhalten.
Sehr empfehlenswert zum Thema Medienkompetenz: Die Broschüre der Plattform Jugend + Medien von 2024. Kann als PDF heruntergeladen oder beim Bund gratis bestellt werden.