Anna Noss sagt von sich, sie finde Kinder toll. Die 34-Jährige lebt und arbeitet in Zürich, ist aber regelmässig in ihrer langjährigen Wahlheimat Berlin. Sie ist Pädagogin und hat gerade einen «Malort» für Kinder und Erwachsene in Zürich eröffnet. Ihr Blog Kinderwärts richtet sich an alle, die mit Kindern in Kontakt sind. Anna setzt sich mit Herzblut ein für einen wertschätzenden und gleichwürdigen Umgang mit Kindern – doch was ist das genau? Und wie sieht es an Kitas, Kindergärten und Schulen so aus mit der Wertschätzung? Für unsere Serie zum Thema respektvolle Erziehung (weitere Beiträge lest ihr hier) haben wir bei Anna nachgefragt.
Anna, welches war die letzte Situation, die du erlebt hast, in der Wertschätzung gegenüber einem Kind fehlte?
Das war eine Situation, in der das Kind gegen seinen Willen von einer Spielaktivität weggezerrt wurde. Die erwachsene Person musste Gewalt anwenden, und beide Parteien waren eigentlich total unglücklich.
Wie hätte die Situation anders aussehen können?
Das Kind hätte wahrscheinlich mehr Vorlauf gebraucht, das hilft uns Erwachsenen ja auch. Wenn sich beispielsweise auf einer Party unser Partner noch unterhält, und wir sagen: «Schatz, wir müssen jetzt sofort los!», würde das wahrscheinlich auch Probleme mit sich bringen … In der beschriebenen Situation, die sich in meinem Freundeskreis ereignete, brauchte das Kind kurz Raum für sich. Seine Grenze war schon so sehr übertreten worden, dass es nun nicht mehr vor und zurück wollte und auf dem Boden lag und strampelte. Nach einer kleinen Weile konnte es sich beruhigen und wollte nun einfach bestimmen, wo es lang gehen sollte. Das war natürlich nicht die Richtung, in die wir mussten. Aber nachdem wir dort lang gegangen sind, einmal die Treppe runter und wieder hoch, wir in Ruhe allen Spielsachen «Tschüss» gesagt haben, war alles ok und es konnte friedlich Richtung nach Hause gehen. Sein Bedürfnis nach Autonomie und Selbstbestimmung war damit genügend befriedigt.
«Wir haben alle die gleiche Würde und den gleichen Wert, niemand ist besser oder schlauer, nur weil er zufällig früher auf die Welt gekommen ist.»
Was bedeutet wertschätzende Arbeit mit Kindern für dich?
Es heisst für mich vor allem Gleichwürdigkeit. Wir haben alle die gleiche Würde und den gleichen Wert, niemand ist besser oder schlauer, nur weil er zufällig früher auf die Welt gekommen ist. Gleichwürdiges Zusammensein bedeutet, dass ich das Verhalten von Kindern und ihre Aussagen so ernst nehme, wie ich es eben bei Erwachsenen mache. Das klingt eigentlich ganz simpel, ist mir aber noch in wenigen Kitas und Schulen begegnet. Man ist vielleicht nett zu den Kindern, aber die Pädagoginnen sind ganz klar oben und die Kinder sind unten.
Welche Auswirkungen hat das auf das konkrete Verhalten im Umgang mit Kindern?
Warum sollen Kinder mich per se, in meiner Rolle respektieren? Das ist eine allgemeine Erwartung von den Erwachsenen, die wir in unserer Gesellschaft haben. Kinder sind Teamplayer und wollen sich mit uns verbinden und uns respektieren. Wenn sie merken, dass ich sie sehe, mich für sie interessiere, eine Beziehung zu ihnen aufbaue, für sie einstehe und ihnen im Kontakt deutlich mache, was mir wichtig ist, dann respektieren und wertschätzen sie mich. Sie müssen das nicht tun, weil ich älter und vermeintlich stärker bin oder in der Rolle einer Lehrerin bin.
Du setzt dich ein für eine wertschätzendere Arbeit mit Kindern in Kita und Schule – wie bist du dazu gekommen?
Als ich mit Kindern zu arbeiten begann – auch schon während des Studiums, war ich auf der Suche: Auf der Suche nach Vorbildern und dem «richtigen» Umgang mit Kindern und Jugendlichen. Ich fand Kinder und Jugendliche sehr toll, aber sobald ich für sie verantwortlich war (und das ist man in unserem Job ja meistens gleich für mehrere) war das alles nicht so einfach, wie ich es in der Theorie gelernt hatte. Ich hatte mir die Orte und Menschen, die mit Kindern arbeiten, schön, warm, bunt, herzlich, liebevoll und einfach gut vorgestellt. Das war aber scheinbar eine utopische Vorstellung in meinem kleinen Kopf.
«Was ich häufig erlebte: streng, laut, autoritär, kein freundlicher Ton, keine Augenhöhe und kein adäquates Reagieren auf Entwicklungsphasen. Das wollte ich nicht übernehmen.»
Wie war es denn in Wirklichkeit?
Mir fiel auf, dass es wirklich wenig Orte und Menschen gab, bei denen ich echte Wertschätzung in den Begegnungen mit Kindern erlebte, und das Verhalten war oftmals weit entfernt von meiner Vorstellung vom «richtigen Umgang» mit Kindern. Was ich häufig erlebte: streng, laut, autoritär, kein freundlicher Ton, keine Augenhöhe und kein adäquates Reagieren auf Entwicklungsphasen. Das wollte ich nicht übernehmen. Oder aber ein komplett entgegengesetztes Verhalten: antiautoritär, zu wenig Neins, zu viel Nachgeben, keine Authentizität, zu viel Angst vor trotzigen Reaktionen, zu wenig Positionierung und zu wenig eigene Persönlichkeit. Mir erschien das alles extrem seltsam, und mein Bauchgefühl sagte mir immer wieder, dass es doch einen anderen Weg geben müsse.
Und wie hast du diesen Weg gefunden?
Für mich ging ein langer Prozess los, auf dem ich vor allem von den Kindern gelernt habe, wie wir gut miteinander umgehen, wie man eigentlich lernt, und dass Beziehung zueinander das Wichtigste ist! Und dann wiederum habe ich gemerkt, dass ich dieses Wissen nicht für mich behalten kann und es so viele da draussen gibt, die es auch anders machen möchten. So war auch mein Blog geboren.
Was ist denn deine grösste Kritik am Schulsystem?
Ich habe soviel dazu gelesen und weiss es auch aus meiner eigenen Biografie: Lernen funktioniert anders, als es in den meisten Schulen gehandhabt wird. Kinder wollen aus sich heraus lernen. Wir sind als Mensch evolutionär so geprägt und es gibt eine grosse eigene Motivation, sich alles anzueignen, was wir brauchen und was uns interessiert! Das Schulsystem basiert auf völlig anderen Grundlagen. Dort wird mit Macht und Druck gearbeitet und meistens überhaupt nicht danach, was die Kinder interessiert. Persönlichkeit und Individualität findet dort kaum Raum. Das finde ich völlig verrückt. Deswegen bin ich auch im Moment nicht mehr Teil dieses Systems, ich arbeite also zur Zeit nicht in einer Schule oder einem Kindergarten.
«Im Schulsystem wird mit Macht und Druck gearbeitet und meistens überhaupt nicht danach, was die Kinder interessiert. »
Und welche Rolle spielen die Eltern dabei?
Es besteht ein unglaublich grosser Druck und auch Angst bei vielen Eltern, dass aus ihren Kindern «nichts wird». Unsere Gesellschaft hetzt Kinder auf ein Ziel hin, dass völlig ungewiss ist. Denn wir wissen nicht, wie die Zukunft für uns und erst recht nicht für die nachfolgenden Generationen aussieht. Deswegen wollen alle die besten Ausbildungen und Möglichkeiten für ihren Nachwuchs. Und das mit der besten Absicht. Aber daraus entsteht ein Förderwahn, und wir rüsten die Kinder damit nicht für die Zukunft.
Was empfiehlst du Eltern denn stattdessen?
Ich finde Freiheit und Freiraum für Kinder eminent wichtig. Diese überbehütete Kindheit ist wirklich ein Problem. Kinder müssen unbeaufsichtigt spielen und sich ausprobieren können. Das ist essentiell für ihre Entwicklung. In der Erziehung und auch in den Bildungsplänen wird dies nicht berücksichtig. Jedesmal, wenn ich Kinder sehe, die allein unterwegs sind, oder die auf Bäume klettern und vielleicht auch Unfug anstellen, hüpft mein Herz! Hier habe ich mit dem deutschen Kinderarzt und Autor Herbert-Renz-Polster übers Baumklettern und das Bildungssystem unterhalten.
«Jedesmal, wenn ich Kinder sehe, die allein unterwegs sind, oder die auf Bäume klettern und vielleicht auch Unfug anstellen, hüpft mein Herz!»
In der Hitze des Gefechts ist es manchmal so schwierig, wertschätzend zu bleiben. Welche Reaktion empfiehlst du Eltern, die von ihrem Kind gerade beschimpft oder gehauen wurden?
Es ist immer gut, wenn wir es in so einer Situation schaffen, zu sehen und zu übersetzen, warum das Kind gerade so reagiert. Hinter Verhalten gibt es immer eine Ursache. Grenzt sich das Kind gerade durch das Hauen ab, was es eventuell verbal noch nicht kann? Oder ist es überfordert, erschöpft, sind wir vielleicht gerade eine Art Blitzableiter für angestaute Energie, oder oder oder …? Wenn wir das dann sehen, können wir uns nicht so sehr auf das Hauen, sondern auf das dahinterliegende Bedürfnis konzentrieren. An sich dürfen und sollen wir in so einer Situation aber auch klar und authentisch positionieren: «Ich will nicht, dass du mich haust!»
Woran liegt es deiner Meinung nach, dass sich der wertschätzende Ansatz im Schulsystem noch nicht weiter verbreitet hat?
Naja, Wertschätzung muss im Idealfall immer in alle Richtungen gehen. Wenn mein Beruf von der Gesellschaft nicht wertgeschätzt wird und auch meine Chefin und meine Kollegen mich nicht wertschätzen, ist es schwierig meinem Gegenüber, in dem Fall den Kindern, wertschätzend zu begegnen.
Welche Rolle spielen deiner Meinung nach die eigenen Kindheitserlebnisse?
Bei Eltern, aber auch Pädagog*innen hallt natürlich auch die eigene Erziehung nach. Und das war zu 99 Prozent eine machtbasierende, autoritäre Haltung. Sicherlich gibt und gab es sehr viele liebevolle Eltern. Aber man arbeitete mit Strafen, Sanktionen, Wenn-dann-Sätzen und der Meinung, ich weiss es besser als du. Das hat uns geprägt. Und für mich ist der gleichwürdige Umgang mit Kindern und eine echte, authentische Beziehung zu ihnen das Allerwichtigste. Das war für mich aber ein langer Weg, auf welchem ich viel reflektieren musste, alte Verhaltensmuster ablegen und eine neue Sprache erlernen durfte.
Gibt es noch weitere Faktoren?
Ja – schliesslich muss man für einen solchen Prozess bereit sein und in der Arbeit mit Kindern dafür Zeit und Unterstützung bekommen. Und das sieht das System leider nicht vor. Es gibt aber wirklich immer mehr Menschen, die umdenken, die spüren, ich möchte es anders machen. Auch wenn das Umfeld das nicht so vorsieht, möchte ich wertschätzend mit Menschen umgehen. Es gibt immer mehr Pädagog*innen und Eltern, die so denken, und ich unterstütze sie sehr gerne dabei. Das ist mit der schönste Teil von Kinderwärts!
«Wir Lehrpersonen verbringen oft fast so viel Zeit mit den Kindern wie die Eltern. Es ergibt daher doch total Sinn, sich gegenseitig anzuerkennen, sich als Erziehungspartner zu verstehen!»
Wie hast du im Schulalltag die Zusammenarbeit mit den Eltern erlebt? Was würdest Du dir vermehrt von Eltern wünschen?
Ich habe die Zusammenarbeit oft als Kampf erlebt. Aber ich habe auch oft gesehen: Wenn ich den Eltern wertschätzend und auf Augenhöhe begegnet bin und auch mit ihnen in Beziehung war, ist eine ganz wunderbare Zusammenarbeit entstanden. Wir Lehrpersonen verbringen oft fast so viel Zeit mit den Kindern wie die Eltern. Es ergibt daher doch total Sinn, sich gegenseitig anzuerkennen, sich als Erziehungspartner zu verstehen! Ich wünsche mir Austausch und dass ich auch kritisch mit Eltern sprechen darf. Und sie sollen es ebenso dürfen. Ich wünsche mir auch, dass Eltern sehen, was wir da jeden Tag leisten und dass sie aufhören, ihre Kinder in Watte zu packen und uns zutrauen einzuschätzen, was ihre Kinder brauchen. Am Ende sind sie natürlich die Personen, die ihre Kinder am Besten kennen. Vertrauen in beide Richtungen und auch wieder Wertschätzung sowie Gelassenheit und Humor sind, glaube ich, der Schlüssel für eine gelungene Zusammenarbeit.
Wie können Eltern dazu beitragen, dass in ihrer Kita/Schule eine Auseinandersetzung mit solchen Ansätzen geschieht?
Indem sie es leben und vorleben. Ehrliche Gespräche mit LehrerInnen etc. können sich sicherlich auch eine Möglichkeit sein. Gute Blogs, Bücher oder Veranstaltungen weiterzuempfehlen ist vielleicht manchmal etwas mühsam, aber irgendwie und irgendwo fällt der Same doch immer wieder auf fruchtbaren Boden.
Und was empfiehlst du Eltern, die selber mehr Wertschätzung in die Erziehung ihrer Kinder bringen wollen?
Als erstes würde ich immer sagen, höre auf dein Herz und dein Bauchgefühl! Egal, was dein Umfeld sagt oder denkt. Wenn du merkst, dass dieses Gefühl tief vergraben ist, buddel es aus. Am besten können dir Kinder dabei helfen, da sie dieses Gefühl wieder bei uns aktivieren, weil es bei ihnen noch völlig frei liegt und sie so ursprünglich sind. Ausserdem gibt es unglaublich viele gute Autoren, Blogs und Bücher, die viele hilfreiche Antworten aufgeschrieben haben. Es gibt Gesprächskreise und ElternberaterInnen, und die darf man auch in Anspruch nehmen. Manchmal reicht schon ein einziges Gespräch, um einen anderen Blickwinkel zu bekommen. Manchmal tut es gut, über eine längere Zeit eine Begleitung zu haben. Ich biete das übrigens auch an, in Zürich wie auch online. Austausch mit Eltern, die dieselbe Haltung haben, ist auch unglaublich wichtig und wohltuend. Denn so stärkt man sich gegenseitig.
Seit vergangenem Sommer widmet sich Anna Noss mit viel Herz ihrem neuen Projekt, einem Malort in Zürich für Kinder und Erwachsene. Dort ist jede und jeder willkommen, einmal wöchentlich zu malen. Das Besondere ist, dass niemand das Gemalte bewertet. Ihr Lieblingszitat von Rumi beschreibt diesen wunderbaren Ort: «Jenseits von richtig und falsch liegt ein Ort, dort treffen wir uns!» Mehr über den Malort findet ihr auf der Seite www.meinmalort.ch