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Spitzenkoch und Kindergärtner

Er hat zwei Traumjobs: Luis Schertenleib (30) ist Kindergärtner – und kocht in der Eisblume in Worb. Wir haben seine Geheimzutat entdeckt.
16 Jan 2019
Bilder — Nina Haberthür

Am Mittwoch rührt er in einem grossen Topf Milchreis, schaut, dass sich kein Kind beim Schneiden der Ofenkartoffeln wehtut, klaubt klebrige Reste von Brotteig von kleinen Händchen. Am Donnerstag konfiert er Winterrettich, braut Gemüsetee und platziert milimetergenau 14 Stunden bei 80 Grad geschmorte Kalbskinnbacken neben Wurzelgemüsepüree und Apfelstücklein.

Luis Schertenleib hat zwei Berufe: Er ist Koch in der Gault-Millau-ausgezeichneten Eisblume in Worb. Und er ist Kindergärtner.

Hier ist Präzision, Konzentration und Ausdauer gefragt. Da Einfühlungsvermögen, Führung und Sozialkompetenz. Hier sucht er Grenzen, da setzt er sie. Hier Kopf, da Herz. Aber beide Berufe liegen dem ruhigen 30-Jährigen in unterschiedlicher Hinsicht, und beide Faszinationen – fürs Kochen und für die Kinder – begannen schon früh. «Ich erinnere mich genau an den Moment, an dem ich das erste Mal dachte, dass ich kochen will: Ich stand neben unserem Nachbarn, der eine grosse Pfanne mit Crevetten in der Luft schwenkte.» Mit der Freude an Kindern steckte ihn nicht zuletzt seine Mutter an, die ebenfalls Kindergärtnerin ist. Nach der Schulzeit verbrachte er ein Haushaltjahr auf einem Bauernhof mit einer Familie mit Kindern. Danach machte er eine Kochlehre, bildete sich zum Diätkoch weiter und arbeitete auch dann weiter in Küchen, als er an der Pädagogischen Hochschule am Institut Vorschulstufe und Primarstufe studierte. In dieser Zeit traf er erstmals seinen späteren Chef. Und bekam das Angebot für seine Traumstelle.

Kochen ist für ihn Leistungssport, eine Grenzerfahrung. An heissen Sommertagen steckt er sich Eiswürfel in die Socken.

Kochen ist für ihn, der lange thaiboxte, auch Leistungssport, eine Grenzerfahrung. 16-Stunden-Tage sind in der Spitzengastronomie ganz normal. An heissen Sommertagen steckt er sich Eiswürfel in die Socken. Zu Festen, die an einem Samstag stattfinden, laden ihn seine Freunde schon lange nicht mehr ein. Und so kann er selten an Hochzeiten und Geburtstagspartys mit seiner Freundin, die als Hebamme die unregelmässigen Arbeitszeiten kennt.

Arbeitet er mit Dave Wälti und seinem Chef Simon Apothéloz in der winzigkleinen Eisblumen-Küche, ist das fast wie eine Choreografie, ein Uhrwerk, es wirkt alles eingespielt, wie durch ein Wunder stösst sich kaum jemand am anderen in dieser Enge. Eine Symbiose von drei, zeitweise vier Köchen, ruhig und mechanisch, die «kleine Wunderwerke» hervorbringt (aus dem Gastroführer «Gault Millau»). Luis Schertenleib arbeitet nun seit drei Jahren hier, Ende Januar ist Schluss, die Eisblume schliesst nach 15 Jahren. In der ehemaligen Gärtnerei wären aufwändige Bauarbeiten nötig, um die Betriebsbewilligung zu erneuern. Geschäftsführer Mario Caretti hatte das Restaurant ursprünglich als Pop-up-Betrieb gegründet, nun war es viel länger offen als geplant.

Bis zum Ende ist jeder einzelne Platz ausgebucht, alle wollen noch ein letztes Mal dieses kulinarische Gesamtkunstwerk erleben, diese unvergleichliche Atmosphäre in den alten Gewächshäusern, die von einer spür- und sichtbaren Liebe zum Detail durchdrungen sind. Alles ist schön und warm und fein hier.

Die Arbeit in der winzigkleinen Eisblumen-Küche ist wie eine Choreografie. Wie durch ein Wunder stösst sich kaum jemand am anderen in dieser Enge.

Der Kindergarten ist dagegen eine völlig andere Welt, bunt und sonnig und laut, ein Sammelsurium von Sachen. «Herr Lertenscheib, Herr Lertenscheib!», klingt es da schon einmal fröhlich. Und als er auf dem Weg zum Marzili-Kindergarten, wo seine Mutter unterrichtet und er bald wieder eine Stellvertretung übernehmen wird, der kleinen Henrietta begegnet, sieht man schnell, warum er auch für diesen Beruf ein Talent hat. Er scheint sofort einen Draht zu dem Kind haben, stolz zeigt ihm das Mädchen seine Bastelei, und Luis Schertenleib bewundert das Werk ganz ohne Anbiederung.

Mit ansteckender Faszination erzählt er davon, weshalb er ausgerechnet Kindergärtner werden wollte: Seine Mutter als Vorbild spielte da eine Rolle, aber vor allem ist er begeistert von Kindern in dem Alter, die noch «ungeschliffen» seien und halb in einer Fantasiewelt leben, aber auch äusserst wissbegierig und aufnahmefähig. «Sie lernen mit einer enormen intrinsischen Motivation.» Gleichzeitig sei es «eine Monsteraufgabe», mehr als 20 dieser Individuen richtig zu betreuen, und weit mehr als «ein wenig spielen». Er habe sich selber noch nie richtig beweisen müssen, weil er bisher lediglich Stellvertretungen gab, aber nach der Eisblume will er sich vermehrt dem Kindergarten widmen. Da spielt auch die Familienplanung eine Rolle: «Wenn ich mal Kinder habe, will ich Zeit für sie haben», und die haben Köche im Normalfall kaum. Trotzdem will er der Spitzengastronomie auch nach der Eisblume verbunden bleiben. Wie, ist noch unklar. Erst einmal wird er mit seiner Freundin auf Reisen gehen.

Er lässt die Kinder auch schwierigere oder gefährlichere Arbeiten erledigen, zum Beispiel Kartoffeln schneiden, und zwar mit scharfen Messern.

Im Kindergarten kann Luis Schertenleib seine beiden Faszinationen ein wenig verbinden: wenn er mit den Kindern ein Znüni kocht. Eine Mutter hat mir erzählt, dass es für ihre Tochter immer ein Highlight sei, wenn «Herr Schertenleib» da sei. Das dürfte an seiner Art liegen, der liebevollen Hinwendung, mit der er Dinge tut – sei es, ein Interview zu geben oder eben zu kochen. Aber die Kinder dürfen mit ihm auch Dinge machen, die vom normalen Chindsch-Alltag abweichen: Ohne richtige Küche, auf zwei Elektroplatten und mit einem alten Öfeli, bereitet «Herr Schertenleib» mit den Kindern dann einfache Gerichte zu. Und ist selber erstaunt, mit welchem Appetit die Kinder davon essen: «Unglaublich, wie so kleine Kinder einen so grossen Topf leeressen können.» Nie schmecke es  so fein, wie wenn sie es selbst gekocht hätten. Er erklärt den Kindern auch, woher die Nahrungsmittel kommen, dass Kartoffeln nicht auf Bäumen wachsen. Und er lässt sie selbst schwierigere oder gefährlichere Arbeiten erledigen, zum Beispiel Gemüse schneiden, und zwar mit scharfen Messern – «mit stumpfen Messern gleiten sie eher ab und es gibt schlimmere Verletzungen».

Luis Schertenleib traut den Kindern also etwas zu. Und das ist wohl die Geheimzutat, die den Milchreis, die Backofenkartoffeln und das Brot ganz besonders fein schmecken lässt.