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Time-out! Wer wirklich eine Auszeit braucht

Die «Auszeit» oder «Stille Zeit» wird immer noch von vielen Ratgebern empfohlen. Dabei schadet sie sehr. Was wir stattdessen tun können.
2 Mai 2019
Bild — Caleb Woods (Unsplash)

«Schenken Sie Ihrem Kind während der stillen Zeit keinerlei Aufmerksamkeit. Während dieser Zeit sollen die Kinder ruhig sein, nicht reden und keine Beachtung einfordern. (…) Kinder ab  etwa 18 Monaten können die stille Zeit in einem Gitterbett oder Laufstall verbringen …» (Aus einer Broschüre des Instituts für Familienforschung und Familienberatung der Universität Freiburg.) – «Geh in dein Zimmer und beruhige dich! Komm erst wieder raus, wenn du wieder normal geworden bist!» Oder, etwas vermeintlich sanfter: «Jetzt reichts, du gehst auf den Stillen Stuhl, du weisst ja, wie das geht. Fünf Minuten sitzen, und dann kommst du dich entschuldigen, wenn du wieder weisst, wie du dich zu benehmen hast.»

«Die Super Nanny» auf RTL oder Erziehungskurse wie Triple P haben eine uralte Methode («Schäm-di-Egge») wieder populär gemacht. Aber auch unter neuen Namen wie «stiller Stuhl», «Time-out» oder «Auszeit» bleibt sie veraltet und funktioniert gemäss jüngsten Erkenntnissen nicht. Diese Methoden wurden oft als Notlösungen für Kinder aus total gestörten familiären Verhältnisse erfunden, also nicht als Universallösung für Alltagsprobleme. Sie mögen kurzfristig scheinbar wirken, weil das Kind gebrochen und zum Gehorsam gezwungen wird. Längerfristig aber sind sie kontraproduktiv: Wir brauchen Kinder, die selbstständige, kreative, soziale Erwachsene werden. Dafür braucht es aber einen gesunden Selbstwert, und der wächst am leichtesten mit Eltern, die liebevoll führende Vorbilder sind.

Diese Botschaften empfängt das Kind

Es ist nämlich egal, mit welch vermeintlich guten Absichten die Eltern eine solche Strafe aussprechen. Denn was zählt, ist nicht die ausgesendete Botschaft («ich meine es ja nur gut!») – sondern nur das, was beim Kind ankommt. Was passiert also bei den oben erwähnten Sätzen? Beim Kind kommen diese Botschaften so an:

  • Die Integrität des Kindes wird verletzt. So kann der Selbstwert nicht wachsen und sich nicht gesund entwickeln. Das Kind hört – oder vielmehr spürt: «Ich bin nicht okay, wie ich bin.» «Etwas stimmt mit mir nicht.» «Mich hat keiner lieb.»
  • Die Beziehung wird abgebrochen oder zumindest unterbrochen. Es besteht kein Kontakt mehr, das spürt das Kind: «Keiner will mich». «Ich werde nicht gebraucht.» «Mich kann man nicht brauchen.» «Ich werde nicht gesehen.» «Ich werde nicht mehr geliebt.»
  • Die Wut wird im Stillen bearbeitet. Aggression wird zum Tabu, darf nicht gezeigt werden. Die Wut richtet sich also oft gegen sich selbst, es kann zu Bauchschmerzen bis Selbstverletzungen kommen. Das spürt das Kind: «Ich hasse mich, ich bin so blöd.» «Ich spüre nichts.» «Keiner nimmt mich ernst und sieht mich.» «Ich darf nicht so sein, also fresse ich es in mich hinein.»
  • Strafen (und Belohnungen) nützen, wenn überhaupt, nur kurzfristig. Es gibt auch eine gewisse Abstumpfung, ich brauche also immer mehr (Belohnung) oder Schlimmeres (Strafen). Das kommt beim Kind an: «Ich mach das nicht mehr, weil ich sonst nicht geliebt werde» (Wohl die schrecklichste Erpressung für ein Kind). «Ich habe Angst vor der Strafe.»
  • Das Kind lernt keine Lösungsmöglichkeiten und keine Empathie durch den Abbruch der verfahrenen Situation. Vor allem kleinere Kinder brauchen viel Unterstützung, um sich selbst beruhigen oder regulieren zu können. Das passiert beim Kind: «Ich komm da nie wieder raus, es ist alles vorbei!» «Was soll ich jetzt?» «Was ist überhaupt los?» «Wer ist Mama/Papa und was wollen die?» «Ich muss mir selbst helfen, keiner ist für mich da.»
  • Es kann ein total falsches Verständnis von Strafe entstehen. Das denkt das Kind: «Ich kann alles machen und sitze nachher einfach brav auf den Stillen Stuhl, dann ist alles wieder gut.» «Wenn meine Eltern in Sicht sind, dann mache ich es nicht. Aber wehe, sie sind weg!»
  • Eltern demonstrieren so ihre Übermacht als Vorbilder und die Kinder werden versuchen, es nachzuahmen, also zum Beispiel Freunde auch ausschliessen/wegzuschicken vom Spiel, mit Strafen zu drohen, etc. Das passiert beim Kind: «Wenn ich gross bin, mache ich das auch so (ich bin ja zum Glück schon jetzt ein/e Grosse/r im Kindergarten).»

Die Alternative

Was könnten also Eltern anstelle von «stiller Stuhl» und «Auszeit» machen? Eltern dürfen davon ausgehen, dass ihr Kind ein wundervoller Mensch ist, der die Welt entdecken möchte und alles dafür tut, von seinen Eltern geliebt zu werden. Es braucht Zeit, eine Beziehung aufzubauen, gerade wenn ein Kind über Jahre mit «Methoden» grossgeworden ist, und es ist anstrengend, dranzubleiben, hartnäckig zu sein, aber keine Drohungen, Versprechungen und Abmachungen auszusprechen. Aber das ist es, was die Beziehung zwischen Erwachsenen und Kinder stärkt und die Familie lebenslang trägt. Kinder brauchen also keine «Methoden», sondern authentische Erwachsene. Eltern, die sich zeigen, und ihre Gefühle äussern.

Ganz praktisch übersetzt könnte das so klingen: «Mir ist es gerade zu laut und zu wild hier in der Küche. Bitte spiel in deinem Zimmer mit dem Xylophon.» – Kind hämmert noch lauter auf das Xylophon ein. «Okay, es scheint so, als könntest du gerade nicht stoppen. Mir ist es aber zu laut und ich ertrage es keine Sekunde mehr. Ich gehe jetzt raus und atme auf dem Balkon etwas frische Luft ein.»

Sobald Sie wieder etwas ruhiger sind und klarer denken können, folgt die Reflexionsarbeit: «Was war gerade drinnen los? Wie geht es mir? Was passierte gerade mit meinen Grenzen, Bedürfnissen etc.? Ah, ich bin müde und brauche Ruhe, mein Kopf schmerzt unerträglich. Ah, mein Kind war am morgen im Kindergarten und das Mittagessen hat ihr überhaupt nicht geschmeckt. Dann waren wir im Einkaufszentrum und sie bekam kein Eis. Dann ist sie alles zu Fuss neben mir nach Hause spaziert an der grossen Strasse entlang. Aha – Sie hat wohl einfach schon zu viel kooperiert und kann jetzt gerade nicht mehr. Okay.» Gehen Sie jetzt in die Küche und nehmen ihr Kind in den Arm und bedanken sich bei ihm (nicht jedes Kind mag Umarmungen, es reicht auch einfach auf Augenhöhe zu kommen). Dann wiederhole Sie nochmals, dass es Ihnen zu laut ist, etc.

Jedes Kind, jede Mutter, jeder Vater ist anders, ja jede Familie ist anders. Darum braucht es auch für jede Beziehung etwas anderes. Es gibt keine allgemeingültigen Ratschläge, aber für jedes menschliche Wesen helfen die Grundwerte von Jesper Juul: Gleichwürdigkeit, Integrität, Authentizität, Verantwortung.

Eine Auszeit für die Erwachsenen

Wenn Sie es als Erwachsene nicht mehr aushalten, spüren, dass sie gleich ihr Kind beschimpfen werden oder es gar schlagen: Dann brauche «ich» eine Auszeit – und Sie sollten sich die auf jeden Fall auch nehmen. Gehen Sie in einen anderen Raum, schliessen Sie die Türe ab und beruhigen Sie sich. Beruhigungsmöglichkeiten müssen erlernt werden. Wieso nicht gerade in ruhigen Momenten mit dem Kind zusammen? Z.B. die Füsse am Boden spüren, sich vorstellen, das Wurzeln raus wachsen, atmen, atmen, atmen, oder von 10 retour zählen, oder doch anders rum? Ja, dann schlagen Sie wie wild auf ein Kissen ein!

Es ist also wichtig, sich zu überlegen, was Sie eigentlich mit einer Bestrafung («Konsequenz», wie es heute so gerne genannt wird) erreichen wollen? Worum geht es Ihnen in Ihrer Familie? Was sind Ihre Werte? Was wünschen Sie sich für die Kinder, wenn sie erwachsen werden?

Wir haben die Möglichkeiten und Freiheiten jetzt, heute, hier einen «neuen» Weg mit unserer Familie einzuschlagen.

* Nina Trepp arbeitet seit 2013 in ihrer eigenen Beratungspraxis, spezialisiert auf familiäre Belastungssituationen sowie Erziehungsberatung. Sie bietet in Bern laufend Elternkurse zu Themen wie Grenzen setzen, Umgang mit Konflikten und elterlicher Führung an. Sie ist Mutter eines Sohnes.

Caleb Woods