Unter dem Titel USArchive dokumentierte die Berner Fotografin Joëlle Lehmann ihre USA-Reise mit ihrer Familie. Wir publizieren in dieser Serie eine Auswahl der Bilder. Auf dem Trip entstand zudem die Arbeit «Welcome to Walmart». Joëlle Lehmann ist auch auf Instagram.
Dies ist die Bildergeschichte einer Reise, die fünf Monate dauerte, sich über 13’000 Meilen erstreckte und unser Leben veränderte. Juli war 6-, seine Schwester Louise knapp 4-jährig, als wir 2012 nach Los Angeles flogen, zunächst ohne Plan und Ziel.
Die USA-Reise war ein Spontanentscheid gewesen, nachdem unser ursprünglicher Plan – ein Studienjahr in Göteborg – kurzfristig gescheitert war. Weil wir alles schon in die Wege geleitet hatten, Kasper unbezahlten Urlaub genommen hatte und der Dollarkurs so günstig war, flogen wir kurzentschlossen, aber völlig unvorbereitet nach Amerika.
In L.A. mieteten wir einen kleinen Camper und fuhren damit in Etappen nach New York. Der Händler hatte uns ein riesiges Wohnmobil andrehen wollen: «In so einem kleinen Auto hast du nur Streit mit deiner Frau!», sagte er zu Kasper. Aber wir hatten eine Küche, zwei Betten; alles, was wir brauchten. Es klingt wie ein Klischee, aber gerade die Kinder brauchten nicht viel. Für sie war jeder Stein ein Schatz, der es Wert war, in die Hosentasche gesteckt zu werden.
Wir versuchten meistens, auf Walmart-Parkplätzen zu übernachten. Man kann sich dort anmelden, es ist gratis, der Sicherheitsdienst bewacht einen, die Leute sind extrem freundlich, und man kann das WC benutzen. Die Walmarts sind teilweise 24 Stunden geöffnet. Wenns mal geregnet hat, konnten wir den halben Tag im Laden verbringen, das war für alle spannend. Das Konsumbedürfnis, das dabei unweigerlich geweckt wird, deckten wir beim Wocheneinkauf. Auch mit Farbstiften waren wir nie geizig, die Kinder zeichneten viel und führten beide Tagebuch. Aber sonst kauften wir kaum etwas, wir hatten ja auch keinen Platz.
Das Salz im Death Valley war für Louise Schnee, und sie wollte sich ausziehen und reinlegen, weil sie den warmen Schnee interessant fand.
Es war nicht immer nur einfach. Am Anfang hatte ich eine Krise. Ich hatte mich auf Schweden gefreut und überhaupt nicht auf die USA eingestellt, hatte das Gefühl gehabt, dieses Land eh schon zu kennen vom Kino und Fernsehen, ich musste mich erst einmal darauf einlassen. Gleichzeitig mussten wir für die Kinder motiviert sein und manchmal auch ein wenig Theater spielen. Es funktionierte nicht immer. Als sie einmal genug vom Herumgereise hatte, sagte Louise wütend: «Jeder Tag ist eine Scheisswoche!» Auf dem Bild verstecken wir uns vor dem Wind am Strand von Santa Cruz.
Wir machten uns einen Sport daraus, günstig zu leben, schrieben jeden ausgegebenen Cent auf. Die gesamte Reise inklusive Flüge und Camper kostete uns 25’000 Dollar. In Las Vegas wohnten wir für 25 Dollar pro Nacht in einem Hotel. Das war Luxus, das Circus Circus war wie ein Paradies für die Kinder, so etwas Tolles hatten sie noch nie gesehen. Es gab ein Kindercasino, in dem ich den Jackpost knackte – naja: Eine vermeintlich kaputte Maschine spuckte plötzlich ganz viele aufgestaute Bons aus, als ich dran sass. Damit kaufte sich Louise diese Hello-Kitty-Puppe. Juli wählte ein Star-Wars-Laserschwert. Das Zeug schleppten wir dann durch ganz Amerika. In Las Vegas blieben wir auch deshalb so gern, weil wir einen Ort fanden, an dem man extrem günstig essen konnte. In einem Casino gab es für 7 Dollar ein Entrecôte mit Kartoffelstock, Bohnen und einem Bier. Dort assen wir dann jeden Tag.
Das Flundernbild ist eines meiner Lieblingsbilder. Ich nahm es am Strand von Miami auf.
Der Ballon schwebt über dem Colorado River. Die Pferde sahen wir in New Mexico. Wir hatten uns für eine südliche Route nach Florida entschieden. In New Mexico gefiel es uns wider Erwarten sehr. Wir hatten zuvor nichts erwartet. In der Gegend sahen wir aber auch viele Drogenabhängige. Und Kirchgemeinden, die sich ihrer annehmen, gratis Essen verteilen beispielsweise. Wir assen auch einmal an einem kirchlichen Mittagstisch.
In San Francisco konnten wir es uns nicht leisten, in der Stadt zu wohnen. Wir wollten in Oakland auf dem Walmart-Parkplatz übernachten, aber die Leute rieten uns davon ab: Es gebe mehr Waffen als Sicherheitsleute in dieser Gegend. Deshalb nahmen wir ein Zimmer im Motel 6. Die Réception war panzerverglast. In der Nacht hörten wir, wie ein Mann eine Frau schlug, sie schrie, man hörte auch ein Kind schreien. Unsere Kinder schliefen und hörten nichts.
Am Grab von Elvis in Memphis liessen Kasper und ich uns von der deprimierenden Stimmung und der Bedeutungsschwere des Ortes anstecken. Aber wir nutzten die Atmosphäre auch, um bei Schlangen ungestraft diskret vorzudrängeln. Die Kinder waren traurig, weil der Pool geschlossen war.
Wir empfanden es als grosse Befreiung, so wenige Dinge zu haben. Das Chaos daheim ist einer unserer häufigsten Streitgründe. Als das wegfiel, hatten wir kaum je Krach. Im Camper hatte jedes Ding seinen Platz.
Als wir einmal wegen einer Sturmwarnung in ein Motel mussten, haben wir den ganzen Camper ausgeräumt und gereinigt. Da kam auch das Batman-Kostüm wieder zum Vorschein. Die Kinder hatten vor der Reise je 50 Franken von ihrer Grossmutter bekommen. Beide verbrauchten das Geld sofort nach der Ankunft. Juli kaufte sich am Hollywood Strip dieses Kostüm. Es war auch schön warm.
Wir übernachteten etwa einmal pro Woche in einem Hotel oder Motel, meistens in einem Motel 6, das hatte für uns das beste Preis-Leistungs-Verhältnis. Im Hotel konnten wir alle duschen oder baden, und die Kinder durften fernsehen, währenddem wir E-Mails lasen und beantworteten.
In Florida wollte ich unbedingt ins Disney Land. Kasper fand es zu teuer. Juli wollte nicht gehen, weil er glaubte, das sei nur etwas für Mädchen. Schliesslich konnte ich alle überreden. Damit wir es uns leisten konnten, haben wir eine Woche zuvor besonders sparsam gelebt. Für Louise zahlten wir keinen Eintritt, weil wir sagten, sie sei noch jünger. Das Essen brachten wir selber mit. Der Tag im Disney Land war dann fantastisch.
Ich studierte damals noch an der Hochschule der Künste in Zürich und sollte eigentlich auf dieser Reise eine künstlerische Arbeit verwirklichen. Die ganze Zeit suchte ich angestrengt nach einem Projekt. Irgendwann dachte ich, ich würde etwas mit Tieren machen. Ich merkte gar nicht, dass ich mit diesen Fotos die ganze Zeit über ein Werk schuf. Die Fotos sind analog aufgenommen, wir haben sie laufend unterwegs entwickeln lassen.
Auf der Reise haben wir uns entschieden, selbständig zu werden. Kasper hat danach seinen Job gekündigt. Er musste der Werbeagentur, für die er sich damals abgerackert hatte, 8000 Franken Konventionalstrafe zahlen. Die Entscheidung war rückblickend jeden Rappen wert.
Ob die Kinder Heimweh hatten? Ich glaube nicht. Sie meckerten natürlich, das normale Alltagsgemotze. Wir sind zum Beispiel oft gewandert, da reklamierten sie schon. Aber ich denke, es war für sie auch schön, hatten wir so viel Zeit zusammen. Wir haben ihnen jeden Tag Bücher vorgelesen. Wir hatten niemals Termine. Keinerlei Verpflichtungen. Wir liessen uns treiben.
Es war so interessant und intensiv, so viel Zeit mit der Familie zu verbringen. Kasper war vor der Reise selten daheim gewesen, er hat als Art Director in einer Werbeagentur amok gearbeitet. Ich empfand die Mutterrolle zeitweise als schwierig, und ich hatte oft Angst, etwas falsch zu machen. Ich war häufig genervt. Mit dieser Reise entspannte sich die Situation total. Plötzlich waren wir frei von äusserem Druck und Einflüssen. Keine Tipps, keine Fremdbestimmung, nur unsere eigenen Entscheide. Es war so schön, nur zu viert zu sein. Unser Leben ist viel besser, seit wir zurück sind.
Joëlle Lehmann und Kasper Kobel – www.kobelehmann.com