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Versöhnung mit einer schwierigen Geburt

Geburtsgeschichten können noch lange nachhallen. Wie lernen Mütter damit zu leben, wenn die Geburt des Kindes nicht wie erhofft verlief?
24 Nov 2020
Bilder* — Julia Rosenberger

Der internationale Tag gegen Gewalt an Frauen am 25. November und die Kampagne «16 Tage gegen Gewalt an Frauen»  leisten einen Beitrag zur Thematisierung und Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt. Am 25. November findet ausserdem der Roses Revolution Day statt, an welchem Betroffene an den Orten, an denen sie Gewalt während der Geburt, in der Schwangerschaft oder im Wochenbett erlebten, einen Brief und eine Rose niederlegen, um ein Zeichen für würdevolle Geburtsbegleitung zu setzten.
Dieser Text ist erstmals im November 2018 erschienen und wurde im Oktober 2022 aktualisiert. 

Jede Geburt ist eine Grenzerfahrung, und jede Geburt brennt sich ins Gedächtnis einer Frau ein. Aber es gibt Frauen, die ihre Geburtsgeschichten kaum loslassen können. Die von Szenen und Bildern verfolgt werden. Die nächtelang Gedanken wälzen, was sie hätten anders machen können, warum es so gekommen ist, selbst wenn das Kind gesund zur Welt gekommen ist. Die zerrissen werden von widersprüchlichen Gefühlen: einerseits der Liebe zum Kind, den Erwartungen ihres Umfelds, glücklich zu sein; andererseits dem unguten Gefühl, dass es nicht so gelaufen ist, wie sie es sich vorgestellt hatten. Die Monate später immer noch unter Schmerzen leiden und denken, das sei wohl normal. Solche Geburtserfahrungen können zu Erschöpfungszuständen und psychischen Belastungssymptomen führen, zur Entfremdung vom Kind, zu Konflikten in der Beziehung.

Schwierige Geburten verarbeiten

Einige dieser Frauen finden den Weg zu einer Fachperson für Geburtsverarbeitung wie Christin Tlach. Die Hebamme und Geschäftsführerin von A&O Laden und Beratung in Bern begleitet Mütter auf dem Weg dazu, sich mit schwierigen Geburtserlebnissen auseinander zu setzen. Die meisten kommen dann zu ihr, wenn die Geburt etwa sechs Monate bis ein Jahr zurück liegt. So unterschiedlich die Geburtsgeschichten sind, so ähnlich ist der Kern ihrer Erzählungen. Eine typische Situation: Die Frau hat lange Wehen, der Geburtsverlauf ist schleppend, die Frau ist müde; die Geburt nimmt einen anderen Ausgang als erhofft, mit Vakuum oder Zange, vielleicht wird ein Kaiserschnitt gemacht. «Die Frauen haben alles gegeben und leiden unter dem Gefühl, sie hätten es nicht selber geschafft.» Sie fühlen sich, als hätte man ihnen etwas weggenommen. Christin Tlach beschreibt die Geburt als in sich geschlossenen natürlichen Prozess, als einen Kreislauf; sämtliche physiologischen und hormonellen Vorgänge sind aufeinander abgestimmt; fehlt ein Stück, vielleicht durch einen Notkaiserschnitt, ist die Geburt für manche Frauen «nicht fertig» (wie in einem der untenstehenden Erfahrungsberichte beschrieben).

«Die Frauen haben alles gegeben und leiden unter dem Gefühl, sie hätten es nicht selber geschafft.»

Eine weitere häufige Ursache für solche «späte Geburtsschmerzen» ist mangelnde Kommunikation: Die Frau ist nicht orientiert darüber, was passiert, und erfährt einen Kontrollverlust, eine Ohnmacht. Auch von gewaltsamen oder übergriffigen Handlungen (wie sie der Roses Revolution Day am 25. November anprangert) hört Christin Tlach. Ausserdem gibt es Situationen, die für Aussenstehende nicht dramatisch erscheinen, aber von der Frau in ihrer extremen Öffnung – körperlich wie psychisch – als erniedrigend erlebt werden. Wie der unpassende Spruch der Hebamme, der in einem der untenstehenden Erfahrungsberichte beschrieben wird.

Wie können diese Frauen sich mit ihrer Geburtsgeschichte versöhnen? Laut Christin Tlach  gibt es unterschiedliche Ansätze – je nach persönlicher Geschichte, aber auch je nach Zeitpunkt, zu dem die Frauen ihre Erfahrungen teilen. So gibt es Massnahmen gegen den körperlichen Schmerz, sei das Narbenpflege oder sanfte Heilmethoden. In Sachen psychische Nachwehen kann in einer frühen Phase auch schon das Wochenbett vieles wiedergutmachen, wie Christin Tlach sagt. Beim «Rebonding» beispielsweise wird der Moment nachgestellt, in dem das Kind der Mutter gleich nach der Geburt auf den nackten Bauch gelegt wird (in einem Erfahrungsbericht unten beschrieben). «Und wenn es mit Stillen klappt, hat die Stillerfahrung für viele Mütter einen heilsamen Effekt», sie vermöge den beschriebenen «offenen Kreis» zu schliessen.

Zu einem späteren Zeitpunkt hilft es vielen Frauen, das Erlebte einmal extra vollkommen subjektiv in einem Geburtsbericht schriftlich festzuhalten. In Zusammenarbeit mit einer Fachperson kann diese Erfahrung dann mit den Berichten aus dem Spital oder Geburtshaus verglichen werden und manches Missverständnis ausgeräumt oder Vorgänge erklärt werden. Allerdings sind manche Institutionen eher zurückhaltend, die vorhandenen Unterlagen herauszugeben – obschon die Frauen ein Anrecht darauf hätten. Christin Tlach hat deshalb eine Briefvorlage erstellt, die Mütter helfen kann, ihre vollständigen Unterlagen zu erhalten (Briefvorlage hier zum Download). Wichtig zu wissen ist: Die Frauen können sich auch Monate oder selbst Jahre später noch an die Hebamme oder Gynäkologin wenden, die ihre Geburt begleiteten, sofern sie diesen Wunsch verspüren und Vertrauen in diese Personen haben.

Das Paar dürfe nicht davor zurückschrecken, sich beim Personal unbeliebt zu machen. «Die Geburt ist kein Beliebheitswettbewerb!»

Und dann gibt es überraschende Möglichkeiten wie das «Nachholen» des Wochenbetts, mindestens eine Woche Ressourcen tanken, Ferien mit Vater und Kind(ern), die vorwiegend im kleinen Kreis und daheim verbracht werden, wenn diese wichtige Zeit der Familie zu fehlen scheint.

Lässt sich eine traumatische Geburt verhindern?

Besser wäre aber natürlich, das wäre alles gar nicht nötig und alle Mütter gingen, wie es Christin Tlach formuliert, «gestärkt aus der Geburtserfahrung heraus». Das müsse das Ziel sein. Wie lässt sich das steuern, wie lassen sich traumatische Erlebnisse verhindern? Eine Notfallsituation ist immer schwierig und immer einschneidend. Aber andere Dinge können die Gebärenden steuern: «Für eine gute Geburt braucht es Sicherheit, Ruhe, Intimität und Vertrauen», sagt Christin Tlach. Nur wenn diese Voraussetzungen gegeben sind, könnten die Frauen sich auf die Geburt einlassen und sich vollkommen öffnen. Die Eltern sollten sich deshalb im Vorfeld überlegen, welches Umfeld ihnen das am besten ermöglicht. Sie sollten den Geburtsort auf jeden Fall schon kennen und besucht haben. Und sich auch fragen: Welche Leute wollen wir dabeihaben, um uns sicher zu fühlen? Unter der Geburt sei es wichtig, Verantwortung als Eltern zu übernehmen, aus einer rein passiven Rolle herauszukommen und sogar sich zu wagen, «unbequem» zu sein. Manche Frauen oder ihre Partner trauten sich nicht, eigene Bedürfnisse oder Störendes zu formulieren, weil sie sich von den umstehenden Fachpersonen eingeschüchtert fühlten. Dabei sei die Mutter die Hauptperson bei der Geburt. Ihre Wahrnehmung und ihre Kompetenz als Gebärende sind wichtig. Das Paar dürfe nicht davor zurückschrecken, sich beim Personal zu melden und echten Kontakt einzufordern, auch wenn die Möglichkeit besteht, sich unbeliebt zu machen. «Die Geburt ist kein Beliebheitswettbewerb!»

Christin Tlach (christin.tlach@ah-oh.ch) berät in ihrer Praxis an der Gutenbergstrasse 31 in Bern Eltern rund um die Geburt – insbesondere bei Themen wie Risikoschwangerschaft, Geburtsverarbeitung und Kaiserschnitt, sie hilft bei Stillschwierigkeiten, im Umgang mit Schreibabys und bei Schlafproblemen. Sie ist Inhaberin und Geschäftsführerin von A&O Laden und Beratung in Bern. Seit 1991 ist sie als freipraktizierende Hebamme tätig (MSc in Midwifery APH), hat unter anderem eine Ausbildung in bindungsbasierter Beratung und Therapie und beendet gerade die Fortbildung zur Schlafberaterin. Ihre eigene Tochter kam «nach langen Wehen mit Kaiserschnitt zur Welt und war ein Baby mit grossen Bedürfnissen».

Erfahrungsberichte verschiedener Geburten

 

«Dann kam die Ärztin – und stellte alles auf den Kopf»

M., (36), ein Kind (3), schwanger mit dem Zweiten
«Unser Sohn war ein Sterngucker. Mithilfe aller Tricks, die unsere Beleghebamme kannte, versuchten wir unter der Geburt, ihn dazu zu bringen, sich zu drehen. Das ging sehr langsam, aber in meiner subjektiven Wahrnehmung gut voran. Auch meine Hebamme schien Vertrauen zu haben, sie sagte einfach, der Kleine brauche noch Zeit. Die Herztöne meines Sohnes sanken immer wieder ab, aber ich bin mir nicht sicher, ob das nicht auch daran lag, dass sich das CTG auf meinem Bauch immer wieder verschob. Jedenfalls hatte ich keine Sekunde lang Angst um ihn. Damit wir uns  etwas erholen konnten – ich musste stundenlang knien –, wollte mir die Hebamme Wehenhemmer geben.

Dann kam die diensthabende Ärztin ins Zimmer, die die Entwicklung offenbar schon länger vom Monitor im Büro aus verfolgt hatte – und stellte alles auf den Kopf: Statt zuzuwarten, liess sie mich pressen, als sie merkte, dass die Presswehen einsetzen. Sie öffnete die Fruchtblase, weil sie dachte, das liesse alles schneller vorangehen. Dann wurden die Herztöne ganz schlecht. Innert 2 Minuten war ich im OP, mit dem Spitalbett knallten sie noch in den Türrahmen, so sehr wurde gehetzt, ich sah nur noch meinen Mann und die Hebamme dort wie mit abgesägten Hosen stehen. Von da an ist in meiner Wahrnehmung alles kalt. Als ich erwachte und mein Mann mir das Kind zeigte, konnte ich es zuerst nicht annehmen. War das wirklich mein Kind? Es schien so unwirklich. Noch zwei Tage lang kam ich nicht aus der Geburt raus. Sie war für mich einfach nicht fertig. Zudem plagte mich wegen des Kaiserschnitts das starke Gefühl, versagt zu haben.

Im Wochenbett konnten wir dann mit Re-Bonding den mir fehlenden Abschnitt ergänzen. Die Hebamme badete das Kind und legte es mir nass auf den nackten Bauch. Das machten wir mehrmals, bis wir alle – mein Mann, ich und mein Sohn – weinten. Dabei hatte ich endlich diese Glücksgefühle, die im natürlichen Geburtssystem nach dem Abschluss wohl vorgesehen sind und mir gefühlt geraubt worden waren. Jetzt konnte das Leben anfangen.»

Erfahrungsbericht einer Geburt

«Die unpassende Bemerkung der Hebamme»

C., (36), zwei Kinder (2- und 4-jährig)
«Eigentlich könnte ich stolz auf mich und mein Kind sein. Seine Geburt war schwierig, aber nach 27 Stunden brachten wir es fast aus eigener Kraft zum Happy End, ‹nur› ein Vakuum war nötig. Dabei sanken zuvor seine Herztöne immer wieder ab. Dabei hatte es die Nabelschnur um Hals, Arm und Bein gewickelt. Dabei hatte ich schon zig Stösse einer PCA-Pumpe (davon wurde ich wie bekifft) und eine PDA intus. Aber ich hatte im Geburtsvorbereitungsyoga immer wieder geübt, richtig zu atmen, und das half mir nun, ich presste wie eine Weltmeisterin. Das Kind war blau, schrie anfangs nicht und hatte einen Eierkopf, aber es ist heute gesund und munter. Auch mein zweites Kind konnte ich spontan gebären, dabei war es ein Sterngucker. In anderthalb Stunden war es da.

Und trotzdem kommen mir immer noch die Tränen, wenn ich von den Geburten erzähle. Weil einfach nicht alles so lief, wie ich es mir erhofft hatte. Es gibt ein paar Szenen, die mich immer noch verfolgen. Die Gesundheitsfragen, die ich noch in den Wehen bei meinem zweiten Kind beantworten musste, weil das wohl vorgängig irgendwie vergessen gegangenen war. Die Hebamme mit dem Mundgeruch, die sich beim Anblick des Fruchtwassers zur unpassenden Bemerkung bemüssigt fühlte, das sei ja ‹eine schöne Bouillon›. Der Kampf bei beiden Kindern, nicht zuschöppeln zu müssen, weil ich intuitiv spürte, dass es gut kommt mit dem Stillen, ihr Blutzuckerwert aber wenige Zehntel unter dem verlangten Wert lag. (Die Mutter wurde dabei nicht angehört, das Kind nicht angeschaut, das einzige, was zählte, war der Name des zuständigen Kinderarzts: ‹Ou nein, für Sie ist Doktor X zuständig, die ist ganz streng, da dürfen wir keine Ausnahmen machen.›)

Diese Ohnmacht, diese Entmächtigung!

Es ist letztlich ja gut ausgegangen, wir sind alle drei gesund, was bei diesen Voraussetzungen überhaupt nicht selbstverständlich ist und ich vielleicht heute zu wenig zu schätzen weiss. Und irgendwann werde ich mich mit meinen Geburtsgeschichten sicher versöhnen. Aber hätte ich ein drittes Kind, dann würde ich mir eine menschlichere Geburt wünschen, mit mehr Geborgenheit, mit Frauen, die ich kenne, vielleicht sogar mit meiner Schwestern an meiner Seite. Wahrscheinlich werde ich diese Gelegenheit zur Wiedergutmachung nie haben. Aber ich sage es allen Schwangeren: Verlasst euch nicht einfach blindlings auf das klassische Spitalmodell. Prüft andere Optionen ernsthaft. Für ein gutes Geburtserlebnis braucht es, wie ich leider jetzt erst weiss, mehr als nur medizinische Sicherheit.»

«Die Ungewissheit war unerträglich»

A., (31), 2 Kinder (3,5-jährig und 9 Monate)
«Mein Herzenswunsch war es, mein Kind im Geburtshaus in einer ruhigen und liebevollen Umgebung zur Welt zu bringen. Nach 15 Stunden harter Arbeit und einem anschliessenden Geburtsstillstand kam unser Kind im Spital mittels Vakuum-Glocke zur Welt. Aufgrund epileptischer Anfälle einen Tag nach der Geburt erfolgte eine Verlegung auf die Intensivstation.

Die Ungewissheit war unerträglich und die Listen der Ärzte mit möglichen Diagnosen lang. Es brach mir das Herz mein Kind in diesem Bettchen zu sehen, sediert und mit diversen Kabeln versehen – hätte ich ihn doch gerne einfach in den Armen gehalten. Unser Sohn ist nun 3,5 Jahre alt und erfreut sich an guter Gesundheit.

Für mich war es noch Monate nach der Geburt schwierig zu akzeptieren, dass ich es nicht ‘schaffte’ mein Kind nach meinen Vorstellungen zu gebären. Ich ertappte mich täglich dabei, wie ich mir dutzende Auswege ausmalte, was ich hätte anders machen können. Emotional gesehen stand ich immer noch am Bettchen auf der Neonatologie und war schlicht hilflos. Es war wichtig, mich selbst von diesem Schockzustand – mein Kind könnte sterben – zu lösen um mich im Hier und Jetzt um mein Baby zu kümmern.

Als mein Sohn ein paar Monate alt war, nahm ich Hilfe durch eine erfahrene Fachperson in Anspruch. Sie bestärkte mich das Erlebte aufzuarbeiten. Mit einem Journal gelang es mir, mich in die Gegenwart zurück zu kämpfen: Ich schrieb das Erlebte nieder, trug alle Schwangerschafts- und Geburtsberichte vom Spital und Geburtshaus zusammen; sodann ich schlussendlich einen vollständigen Bericht über die Geburt unseres ersten Kindes in den Händen hielt. Diese objektive Darstellung und die Sichtweise meines Mannes, meiner Mutter und den engsten Freundinnen waren für mich eine grosse Stütze in meinem Verarbeitungsprozess. Rückblickend betrachtet konnte ich die seelischen Schmerzen gut verarbeiten und kann nun das Familienglück in vollen Zügen geniessen – ohne was wäre wenn, sondern im Hier und Jetzt.»

* Die Bilder im Beitrag stammen aus einer Reportage der Fotografin Julia Rosenberger (Lieblingsbilder.net), für die sie eine Hausgeburt begleiten durfte. Die Mama hatte ein wunderbares Geburtserlebnis, aber das Thema liegt ihr am Herzen, deshalb durften wir auch diese schönen Bilder zeigen. Vielen Dank!