Tina Reigels Insta-Account «Little Fellow» haben wir schon vor längerer Zeit entdeckt – und sofort gemerkt: Da trifft jemand einen Nerv, stellt und beantwortet die wichtigen Fragen. Die selbständige Sexualpädagogin bietet Einzelberatungen, aber auch Online-Kurse über die Sinnesentwicklung von Kindern an. Ihr aktuell wohl beliebtestes Angebot sind die «Wickeltisch-Basics». Zudem berät sie Frauen, die sich mit ihrer Lust auseinandersetzen wollen. Das Gespräch mit ihr, das wir 2023 geführt haben, könnt ihr hier auf Instagram nachschauen; dieser Artikel ist eine verschriftlichte und überarbeitete Kurzform dieses Talks.
Tina Reigel, du plädierst für sexuelle Bildung ab Geburt. Ist das nicht etwas früh?
Wenn wir bei Sexualität nur an Geschlechtsverkehr und Fortpflanzung denken, dann hat das logischerweise überhaupt nichts mit Kleinkindern zu tun. Aber Sexualität ist viel mehr – da gehören unter anderem Lust, Nähe, Geborgenheit, Küsse und liebevolle Berührungen dazu, und diese nehmen schon Babys wahr. Die Erwachsenensexualität ist hingegen absichtsvoll, genital fokussiert und zielgerichtet.
Wofür brauchen wir denn sexuelle Bildung ab Geburt?
Ich bilde Eltern und unterstütze sie in ihrer Sexualerziehung, damit sie ihre Kinder in ihrer Entwicklung bewusster begleiten können. Das beginnt tatsächlich schon auf dem Wickeltisch – viele Eltern sind zum Beispiel etwas schockiert, wenn sie sehen, dass ihr Baby schon eine Erektion hat. Aber weil das Thema so wahnsinnig schambelastet ist, trauen sie sich auch nicht, das in irgendeiner Form zu besprechen, bleiben mit ihrem unsicheren Gefühl alleine und versuchen es einfach zu ignorieren, was nicht förderlich ist für ein gesundes Körpergefühl.
«Weil das Thema so wahnsinnig schambelastet ist, trauen sich viele Eltern auch nicht, das in irgendeiner Form zu besprechen, bleiben mit ihrem unsicheren Gefühl alleine und versuchen es einfach zu ignorieren, was nicht förderlich ist für ein gesundes Körpergefühl.»
Pardon, vielleicht eine blöde Frage, aber: Warum hat denn ein Baby schon eine Erektion?
Das ist ein Reflex, der bereits im Uterus und bei allen Geschlechtern funktioniert. Nichts anderes als Blut, das ins Becken einströmt und die genitalen Schwellkörper anschwellen lässt. Das ist sogar schon bei Ultraschallaufnahmen sichtbar – beim Penis klarer als bei der Klitoris. Dieser Reflex ist nicht wirklich steuerbar, kann aber durch Bewegung, Berührung oder Anspannung begünstigt werden. Kinder lernen sehr schnell, wie sie dieses «kribblige» Gefühl selbst herbeiführen können.
Wie gehen wir denn mit der sexuellen Entwicklung unserer Kinder um als Eltern, ohne weder beschämend noch übergriffig zu werden?
Sexualität hat wie alles im Leben zwei Seiten – eine schöne, lustvolle, leichte Seite und eine dunkle. Mir ist es wichtig, beide Seiten im Blick zu haben. Also die sexuelle Entwicklung, Sexualität als Ressource, aber auch den Schutz vor sexualisierter Gewalt. Als Eltern können wir darauf achten, welche Gefühle die lustvollen und unbefangenen Verhaltensweisen unserer Kinder bei uns auslösen: Warum verunsichert mich das? Was finde ich ok oder nicht ok? Vieles hat mit der eigenen Prägung zu tun.
Inwiefern sind unsere eigenen Prägungen wichtig?
Wenn mir immer gesagt wurde, «nimm die Hände weg, das ist eklig», sobald ich meine Genitalien angefasst habe, habe ich vielleicht verinnerlicht, dass diese schönen Gefühle etwas Schlechtes sind. Es ist wichtig, diese eigenen Prägungen zu kennen. Noch in einem Lehrbuch von 1986 habe ich kürzlich von «Massnahmen über die Bekämpfung der Selbstbefriedigung» gelesen. Onanie sei als «Verhaltensstörung» zu betrachten. Das sitzt bei vielen heute noch tief und sorgt vielleicht dafür, dass wir etwas schlicht verbieten. Dabei wäre unsere Aufgabe, der kindlichen Sinnesentwicklung einen sicheren Rahmen zu geben.
«Unsere Aufgabe ist es, der kindlichen Sinnesentwicklung einen sicheren Rahmen zu geben.»
Wie sieht das konkret aus?
Wenn sich beispielsweise mein Kind auf der Stuhlkante reibt, kann ich ihm sagen: «Du kannst das machen, das bereitet dir vielleicht auch schöne Gefühle – dein Zimmer ist der richtige Ort dafür. Hier im Wohnzimmer sind wir alle, und gleich kommt die Oma zu Besuch. Du kannst das für dich machen, wenn keine Erwachsenen dabei sind.»
Fördern wir damit aber nicht wiederum eine Tabuisierung, wenn wir sagen, dass das Kind etwas nur im Geheimen machen darf?
Nein, es ist unsere Aufgabe als Erwachsene, Kindern solche Regeln mit auf den Weg zu geben. Zu wissen, in welchem Umfeld eine Handlung angebracht ist, ist eine sozial-gesellschaftliche Kompetenz. Wie bei anderen sozialen Situationen, im Bus, im Kindergarten, ist es auch hier unsere Aufgabe, unserem Kind Leitplanken zu geben. Wenn mein Kind sich im Sommergewitter nackt ausziehen möchte, kann ich zum Beispiel sagen: «Ich weiss, nackt zu sein, wäre wahnsinnig toll, aber wir sind jetzt hier auf der Strasse, da sind noch andere Leute. Du darfst aber gerne zuhause nackt durch den Garten oder die Wohnung rennen.» Das hat nichts mit Beschämen zu tun oder mit einem Verbot – wir zeigen einfach auf, in welchem Rahmen etwas angebracht und möglich ist. Und das findet nicht in einem grossen Aufklärungsgespräch Anfang Pubertät statt – sondern sollte jeden Tag einfliessen. Das fängt damit an, wie wir Geschlechtsteile benennen.
Warum ist es ein Problem, wenn wir von «Schnäbeli», «Schnäggli» oder «Pfiifli» sprechen? Ist doch herzig!
Die Frage ist: Für wen ist es herzig? Oder für wen ist die korrekte Bezeichnung ein Problem? Das ist oft eine Hürde für uns Erwachsene, wir müssen selber noch lernen, Wörter wie «Vulva», «Penis», «Vagina» oder «Vulvalippen» zu verwenden. Wichtig ist, dass die Kinder diese Begriffe kennen – wie sie auch das Auge oder das Ohr benennen können. Und zwar auch für den Schutz der Kinder vor sexualisierter Gewalt. «Da unten» ist zu unspezifisch, wenn ein Kind berichtet, dass es vom Onkel berührt wurde, da brauchen wir unmissverständliche Begriffe. Begriffe, die das ganze ernst nehmen, nicht verniedlichende Wörter. Sofern sie aber die richtigen Begriffe kennen, können sie auch familieninterne Kosenamen verwenden. Erwachsene sind in der Verantwortung, hier aufzuklären.
«Wichtig ist, dass die Kinder die richtigen Begriffe für Genitalien kennen – wie sie auch das Auge oder das Ohr benennen können. Und zwar auch für den Schutz der Kinder vor sexualisierter Gewalt.»
Wir haben im Vorfeld dieses Interviews viele Leserinnenfragen erhalten, die ich gerne an dich weitergeben möchte. Die erste: «Ist es normal, dass sich mein Kind beim Einschlafen an den Genitalien reibt?»
Definiere normal! Es hilft, wenn man ein Verhalten in einen Entwicklungsbereich einbetten kann. Auch da geht’s wieder um den oben erwähnten Erregungsreflex – das Kind weiss offenbar, wie es sich wohlige Gefühle verschafft. Im Grunde ist es ein sehr schlaues Verhalten des Kindes, sich selber zu stimulieren und zu regulieren; es vermittelt Sicherheit, der Wechsel aus Spannung/Entspannung, kann wie progressive Muskelentspannung wirken. Das kann bis zu einer orgastischen Entladung reichen. Aber: Wichtig ist, dass wir uns als Erwachsene abgrenzen. Beispielsweise dem Kind vermitteln: Wenn ich bei dir bin, dann schauen wir einfach ein Büchlein an. Danach hast du aber alleine Zeit, um dich zu berühren.
Du sagst, es helfe, wenn man ein Verhalten in einen Entwicklungsbereich einbetten könne. Was sind denn wichtige Meilensteine in der kindlichen Sinnesentwicklung?
Zuerst mal die orale Phase: Kleine Kinder nehmen alles in den Mund. Das kann sehr lustvoll sein und ist auch ein Weg zur Selbstregulation. Das hört im Babyalter längst nicht auf: Ein Kind, das gerade neu in die Kita gekommen ist, hat vielleicht plötzlich immer die Finger im Mund oder kaut an seiner Jacke herum. Es tut dies, um sich selbst zu beruhigen, und wir sollten es ihm nicht verbieten, sondern als Ressource sehen und allenfalls Alternativen aufzeigen – Kauketten oder Beissringe anbieten beispielsweise. Wir können in Austausch kommen und in Beziehung treten, Gefühle verbalisieren: Bist du nervös? Willst du meine Hand nehmen?
Was sind weitere Meilensteine?
Die Körpererkundungsspiele («Doktorspiele») gehören bei vielen Kindern auch dazu. Dabei erkunden Kinder sich selbst, erproben spielerisch Rollenzuschreibungen, Identitäten und interessieren sich für andere Kinder. Sie merken: Aha, ich habe da noch andere Körperteile! Deine sehen anders aus als meine! Fühlen sie sich gleich an? Das ist Neugierde, spielerisches Lernen.
Noch eine Leserinnenfrage: Was, wenn es fast zwanghaft wird und sich ein Kind in völlig unangebrachten Kontexten immer wieder selbst berührt?
Da können aus sexualpädagogischer Sicht sehr viele mögliche Ursachen mitspielen. Eine, die wir als erstes anschauen würden: Hat das Kind viel Stress? Ist vielleicht ein Geschwister zur Welt gekommen? Ist das Kind neu in der Schule oder im Kindergarten? In solchen Situationen verspürt das Kind womöglich mehr Bedarf an Regulation – und behilft sich mit jenem Verhalten, das am schnellsten zu Entspannung führt. Wir können es nun umlenken auf andere lustvolle Dinge. Was würde sonst helfen, damit du dich entspannen könntest? Beispielsweise ein sinnliches Spiel mit Knete oder Wasser?
«Hat das Kind viel Stress? Ist vielleicht ein Geschwister zur Welt gekommen? Ist das Kind neu in der Schule oder im Kindergarten? In solchen Situationen verspürt das Kind womöglich mehr Bedarf an Regulation.»
Was können neben Stress andere Ursachen sein?
Auch Langweile kommt infrage. Ist das Kind vielleicht unterfordert? Benötigt es mehr Abwechslung im Alltag, mehr Input, eine andere Art von Stimulation? Es ist wichtig, dass wir unser Kind in so einer Situation abholen und begleiten. Oft reagieren wir reflexartig irritiert. Als Eltern können wir eine klare Haltung einnehmen: «Ich sehe, dass du dich gerade viel reibst. Du kannst nun entweder ins Zimmer gehen und das für dich machen. Oder wir spielen zusammen ein Spiel spielen oder Räumen den Karton weg, aber dann möchte ich das nicht.» Verändert sich die Situation nicht, wird an entsprechende Fachpersonen verwiesen.
Wie reagieren, wenn ein Kind die Eltern beim Sex erwischt?
Die grösseren finden das eklig. Die Vorstellungen, dass die eigenen Eltern «sowas» machen, ist eher befremdlich – die allermeisten wollen gar nicht darüber sprechen, das ist zu intim. Wenn wir etwas sagen wollen, dann vielleicht, dass das erwachsene Menschen machen, wenn sie Lust haben, sich sehr nahe zu sein. Zu einem späteren Zeitpunkt können wir vielleicht ein Buch zum Thema herumliegen lassen. Bei den Kleinen ist es in einer solchen Situation wichtig, Sicherheit wiederherzustellen. Vielleicht hat sich das Kind ab einem Geräusch erschreckt. Sex kann auch «aggressiv» aussehen. Dann ist es wichtig zu sagen: «Wir haben Spass gehabt, uns geht’s gut! Ich begleite dich jetzt wieder zurück in dein Zimmer.»
Was, wenn sich ein Kind sehr fest berührt, das muss doch schmerzhaft sein?
Es ist schon mal gut, wenn man das als Eltern wahrnimmt. Vielleicht können wir etwas in der Art sagen: «Ich sehe, dass du dich am Entdecken bist. Versuch achtsam zu sein, dein Körper zeigt dir, was er mag und was nicht.» Allerdings gehört es auch ein wenig dazu, herauszufinden, ab wo es weh tut. Hier dürfen wir Vertrauen haben, dass sie selbst ihre Wahrnehmung entwickeln. Es ist wie beim Klettergerüst – dort müssen sie ein Stück weit auch selbst die Gefahr einschätzen lernen.
«Es ist wie beim Klettergerüst – dort müssen sie ein Stück weit auch selbst die Gefahr einschätzen lernen.»
Wie stark soll man denn dieses Entdecken ermöglichen? Kinder haben teils bis 3 Jahre oder länger Windeln an und dadurch gar keine Möglichkeit, ihre Genitalien zu entdecken.
Wir können Möglichkeiten schaffen, dass die Kinder in geschütztem Rahmen nackt sein können. Vielleicht bei Babys eine Unterlage darunterlegen, wenn Pipi oder Stuhlgang käme. Kinder haben allerdings natürlicherweise ein sehr gutes Gefühl für ihre Ausscheidungen. Wenn sie immer wieder etwas im Kontakt sein können mit ihrem ganzen Körper, ist das auch später fürs Trockenwerden sehr hilfreich. Unser Job ist es auch hier, den Rahmen zu gestalten.
Was ist mit Kindern, die den Stuhlgang zurückhalten? Was hat das für Ursachen?
Diese Frage begegnet mir in der Beratung oft. Das kann körperliche Ursachen haben, wenn das Kind bei der Verdauung ein Problem hat – dann ist das eine medizinische Frage, die zur Kinderärztin gehört. Es hat aber auch oft mit Loslassen, Autonomie, selber entscheiden zu tun. Oder vielleicht hatte das Kind in der Vergangenheit einmal einen harten Stuhlgang gehabt und seither Angst vor dem Schmerz. Manche haben unangenehme erste Berührungen mit dem Anus erlebt beim Zäpfli geben – deshalb ist es wichtig, das sehr achtsam zu machen. Wir können unser Kind auch mit Aufklärung unterstützen; beispielsweise mit der Faust veranschaulichen, dass der Anus sehr eng ist, sich aber weiten kann. Wichtig ist, keinerlei Druck aufzusetzen mit Sätzen wie: «Aber ich sehe doch, dass du musst! Jetzt sitz doch mal drauf!»
«Je mehr Druck wir machen, desto stärker der Widerstand.»
Warum ist das nicht gut?
Je mehr Druck wir machen, desto stärker der Widerstand. Wir können uns vielmehr überlegen: Wie können wir das WC-Erlebnis für das Kind lustvoll und gemütlich gestalten? Vielleicht kann es Feuchttüchlein auswählen im Supermarkt. Vielen Kindern – und Erwachsenen übrigens auch! – hilft zudem ein Fussschemel beim Stuhlgang. Mit solchen kleinen Tricks können wir auch dem Kontrollbedürfnis der Kinder etwas entgegenkommen.
Darf oder soll ich mich als erwachsene nackt zeigen vor meinen Kindern? Gibt’s da irgendwie eine Faustregel?
Nacktheit an sich ist nichts Bedrohliches. Das ist sehr individuell, wer sich wie wohl fühlt. Wichtig ist auch hier ein achtsamer Umgang miteinander und die Wahrung von Grenzen. So um 6, 7 Jahre herum kommt die natürliche Scham bei Kindern, da fangen sie beispielsweise selbst an, sich zurückzuziehen beim Umziehen. Das müssen wir respektieren als Eltern. Dazu gehört, dass wir anklopfen, wenn sie auf dem Klo sind. Die Frage ist immer: Fühlen sich alle wohl in der Familie? Auch als Eltern können und müssen wir uns abgrenzen – wenn mein Kind meine Brust anfassen will beispielsweise. «Das ist meine Brust, du kannst bei dir entdecken.» So lernen die Kinder durch uns als Vorbilder und merken – das ist nicht nur leeres Gerede, sondern die leben Einvernehmlichkeit auch tatsächlich!
«So um 6, 7 Jahre herum kommt die natürliche Scham bei Kindern, da fangen sie beispielsweise selbst an, sich zurückzuziehen beim Umziehen. Das müssen wir respektieren als Eltern.»
Beim Thema Einvernehmlichkeit denke ich ans Kitzeln. Ist Kitzeln als Spiel ok? Ich empfand mich als Kind beim Kitzeln total ohnmächtig.
Da darf man sich mal fragen: Warum hat man das Bedürfnis, ein Kind zu kitzeln? Was ist die Absicht dahinter? Eine Kontaktaufnahme? Wenn ja: Gibt es auch noch andere Möglichkeiten? Oder geht es darum, das Kind zum Lachen zu bringen? Lachen ist ein Reflex, auch wenn wir Angst haben, lachen wir. Kinder lachen sogar, wenn Eltern mega wütend sind, ohne dass sie etwas lustig finden, es dient eher der Regulation. Kitzeln ist deshalb nur dann lustig, wenn es für alle lustig ist. Und wir sollten selbst mit Einverständnis nie so intensiv kitzeln, dass ein Kind gar nicht mehr sprechen kann.
Was ist eigentlich mit Nasenbohren? Warum machen das so viele Kinder?
Das machen auch viele Erwachsene insgeheim noch oft. Es ist eine Form der Stimulation – wie auch andere Verhaltensweisen auch, etwa einen Stift in den Mund nehmen, Nägel kauen, Zigaretten rauchen. Wir kommen so in Kontakt mit dem eigenen Körper, das kann auch sehr lustvoll sein. Kinder machen das oft sehr unbewusst, stehen locker in der Migros an der Kasse und bohren in der Nase, da können wir sie schon drauf hinweisen. Aber mich fasziniert es auch.
Nasenbohren fasziniert dich?
Natürlich nicht Nasenbohren, aber wie wir mit unserem Körper die Möglichkeit haben, uns zu regulieren, und dass Kinder das einfach selber entdecken. Sie spüren sehr gut, was ihnen guttut. Davon könnten wir Erwachsene uns oft auch noch eine Scheibe abschneiden. Wir haben teilweise auch einige Lernschritte verpasst.
Eine grosse Angst ist es, Kinder schon allein durch das Vermitteln von Informationen zum Thema Sexualität – oder mit der Konfrontation mit gewissen Personen – zu sexualisieren. Woher kommt diese Angst?
Die Angst entspringt oft auch mangelndem Wissen, und aus dieser Perspektive ist sie auch verständlich. Wenn Erwachsene bei «Sexualität» und «Aufklärung» sofort an Geschlechtsverkehr denken, ist das eine normale Reaktion. Denn das stimmt – das ist Erwachsenensexualität, das hat nichts mit Kindern zu tun. Aber darum geht es nicht in der sexuellen Bildung, es geht um ganz elementare Vorgänge und Gefühle. Kinder sind nun mal sexuelle Wesen. Wir kommen mit allen Sinnen ausgestattet zur Welt und entdecken die Welt auch lustvoll mit allen Sinnen.
Was bräuchte es, um diese Ängste abzubauen?
Mir ist Aufklärung über die Aufklärung ein Anliegen. Die Leute sollen erfahren: Wir gehen nicht in die Schulklassen und sagen «Jetzt erklären wir euch mal, wie Sex geht.» Das fängt bei kleinen Kindern sehr spielerisch an, da geht es mal darum zu erfahren, was der Körper ist, wie er funktioniert, wie sich Ja und Nein Signale zeigen, dass der Körper ihnen selbst gehört und niemand etwas tun darf, das ihnen unangenehm ist. Es ist alles sehr altersgerecht. Dafür brauchen wir Erwachsene Kenntnisse darüber, in welchem Alter Kinder was machen.
Inwiefern können wir Eltern in der heutigen, hypersexualisierten Medienwelt überhaupt etwas ausrichten?
Mir ist es ein Anliegen, dass wir Erwachsenen sehen: Wir haben einen mega coolen Job. Wir können unseren Kindern vermitteln, dass sie einen grossartigen Körper haben, ein Wunderwerk. Sie lernen, dass wir zuhören und sie auf ihre Gefühle vertrauen können. Das macht Kinder stark. Wenn sie später dann als Teenager risikohafte Erfahrungen machen, können wir darauf hoffen, dass der Boden gelegt ist und sie sich nicht schämen müssen zu erzählen, wenn sie etwas Unangenehmes erlebt haben. Wir können eine Gesprächskultur schaffen, in der man sich mitteilen darf und nicht verurteilt wird. Damit können wir einen echten Unterschied machen!
«Je kleiner das Kind, desto einfacher die Sprache und kürzer die Erklärungen.»
Wo liegt die Grenze zur Überforderung bei der Sexualaufklärung? Wie merke ich, dass ich meinem Kind zu viel zumute?
Da gilt die Faustregel: Je kleiner das Kind, desto einfacher die Sprache und kürzer die Erklärungen. Wenn es die Kinder nicht mehr interessiert, wenden sie sich ab. Wenn wir zu langen Vorträgen ansetzen, klinken sie sich aus. Deshalb ist es hilfreich, wenn das häppchenweise passiert. Wir müssen auch nicht jeden Tag alles in Kontext zur Sexualität stellen, das wäre grenzüberschreitend. Achten wir einfach darauf, wie die Kinder reagieren. Sie zeigen es uns in der Regel ganz gut.
Zum Schluss: Alle Fragen, die wir zugesandt erhalten haben, stammen von Müttern. Liegt wohl auch an unserer Leser*innenschaft. Trotzdem: Haben Väter keine – oder andere Fragen?
Ich habe zum Glück immer mehr Väter, die in die Beratung kommen. Ihre Fragen sind teilweise sehr ähnlich wie die der Mütter. Oft kommen Fragen zu Grenzen: Ist es ok, wenn wir zusammen baden? Einen Unterschied gibt’s beim Rangeln – Männer rangeln viel mehr, und sie sind häufiger überzeugt, dass die Kinder dann schon merken, wenns zu fest wird. Frauen sind da eher vorsichtiger. Das gibt aber auch immer wieder spannende Diskussionen.
Die selbständige Sexualpädagogin ist Mutter zweier Kinder (6 und 9). Tina Reigel stammt ursprünglich aus Langenthal BE und lebt heute in der Nähe von Zürich. Unter dem Titel «Little Fellow» schreibt sie Blogbeiträge und klärt auch auf Instagram auf.
www.littlefellow.ch