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Wege zu weniger Machtkämpfen – und weniger Gewalt

Kinder sind täglich unserer Macht ausgesetzt. Nach einem Machtkampf, wie ihn alle Eltern kennen, begann bei unserer Autorin ein Denkprozess.
19 Okt 2021
Bilder — Anna-Lena Rusch

Es ist Abend. Ich bin alleine zu Hause mit meinem knapp zweijährigen Kind. Wir sind beide müde, und es sollte langsam Richtung Bett gehen. Vieles ist geschafft. Das Zähneputzen steht noch an. Ganz geduldig bitte ich meine Tochter mehrmals, den Mund schön offen zu halten, damit ich ihr gründlich die Zähne putzen kann. Sie öffnet den Mund nicht, dreht den Kopf weg. Sie hat wohl keine Lust, die Zähne zu putzen. Ich versuche es mit einem Lied, doch das klappt heute auch nicht. Ein Spiel vielleicht? Keine Chance. Ich sage ihr, dass ich verstehen kann, dass sie keine Lust auf Zähneputzen hat, es aber dennoch äusserst wichtig ist. Ich biete ihr an, dass wir gemeinsam die Zahnbürste halten. Auch das will sie nicht.

Herrje, was soll ich denn noch ausprobieren?

Ich war nun schon eine Zeit lang äusserst geduldig und feinfühlig und liebevoll und kreativ. Und plötzlich kann ich nicht mehr. Ich werde grob, packe meine Tochter. Sie will mir vom Schoss gleiten, ich ziehe sie gewaltvoll zu mir. Ich halte sie fest. Ich halte ihren Kopf fest. Ich stopfe ihr die Zahnbürste in den Mund. Ich bewege die Zahnbürste hin und her, richtig harsch. Ein eigentliches Putzen ist das keinesfalls. Meine Tochter wehrt sich mit aller Kraft. Ich halte sie fest. Sie schreit. Dabei ist wenigstens ihr Mund für kurze Zeit ein wenig geöffnet und ich komme dazu, ein paar Zähne zu schrubben.

Und dann bricht es über mich herein. Ich weine, lasse meine Tochter los, schmeisse die Zahnbürste weg. Meine Tochter weint ebenfalls, sucht meine Nähe. Irgendwie bringen wir die Situation zu Ende. Irgendwann schläft meine Tochter. Ich fühle mich unsäglich schlecht.

Gewalt in der Begleitung von Kindern ist eine Realität. Warum ist das so? Und welche friedvolleren Wege sind möglich?

Das Machtgefälle in der Eltern-Kind-Beziehung

In der Eltern-Kind-Beziehung herrscht ein enormes Machtgefälle. In uns Eltern vereinen sich mehrere Formen von Macht, und unsere Kinder sind vollständig von uns abhängig. Dabei spielen physische, psychische und verbale, aber auch ökonomische sowie strukturelle Macht eine grosse Rolle. Ein kleines Kind ist ziemlich bald tot, wenn wir es alleine lassen, und wir sind ihm rein körperlich überlegen (physische Macht). Wir entscheiden zu einem grossen Teil, was eingekauft wird und was nicht (ökonomische Macht). Zudem leben Kinder in einer adultistischen Gesellschaft und gelten als weniger wertvoll als Erwachsene – was Eltern machen, gilt grundsätzlich als gerechtfertigt (strukturelle Macht). Psychische und verbale Gewalt ist aber wohl die alltäglichste und subtilste unter den verschiedenen Formen von Macht, die Kinder erleben. Dazu zählen Belohnungen und Bestrafungen, Bagatellisierungen, Abwertungen, Demütigungen, Beschimpfungen, aber auch Einschüchterungen und Drohungen, sowie Bevormundung, Manipulation und Ignorieren. Viele solcher Handlungen werden in Bezug auf erwachsene Menschen als Gewalt anerkannt – in Eltern-Kind-Beziehungen hingegen sind sie völlig normal und alltäglich.

Von Macht zu Gewalt

Gewalt ist gemäss der Soziologin Ruth Abraham von der Elternplattform «Der Kompass» eine Form des kommunikatorischen Handelns, also der Art und Weise, wie wir Handlungen aufeinander beziehen – und somit nicht per se schlecht, sondern eben Kommunikation. Gewalt findet immer dann statt, wenn wir das Machtgefälle, das natürlicherweise zwischen uns und unseren Kindern besteht, missbrauchen. Und genau das ist Adultismus: der Missbrauch von Macht gegenüber Kindern und Jugendlichen. Wenn wir unsere Macht also dafür nutzen, um unsere Kinder zu formen oder eine Situation zu verändern, dann ist das Gewalt. Natürlich verändern wir ständig Situationen, das ist unumgänglich, schliesslich leben wir. Aber bestimmen wir alleine, wie sich Situationen zu verändern haben – einfach weil wir es aufgrund des Machtgefälles können –, oder gehen wir dafür auf Augenhöhe mit unseren Kindern, gehen wir in Verbindung und verhandeln?

Gewalt hat unterschiedliche Gesichter. Bei einigen Situationen ist uns sofort klar, dass es sich hier um Gewalt handelt. Manchmal ist die Gewalt aber viel subtiler, und wir scheinen im besten Interesse unserer Kinder zu handeln.

Gewalt hat unterschiedliche Gesichter. Bei einigen Situationen ist uns sofort klar, dass es sich hier um Gewalt handelt. Manchmal ist die Gewalt aber viel subtiler, und wir scheinen im besten Interesse unserer Kinder zu handeln. Und genau deshalb ist es so wichtig und auch unglaublich spannend, sich mit Gewalt in der Eltern-Kind-Beziehung auseinanderzusetzen. Um einen Umgang mit unserer Macht in der Begleitung von Kindern zu finden und unsere Macht nicht zu missbrauchen, gilt es erst mal dieses extreme Machtverhältnis anzuerkennen und zu reflektieren (siehe hierzu auch den Instagram-Post «Gewalt ist …» von «Der Kompass»).

Mögliche Schritte auf einem friedvolleren Weg

Gewalt ist Teil unseres Zusammenlebens, unseres Alltags. Mir helfen folgende Überlegungen und Schritte, um meine Macht anzunehmen und Gewalt gegen friedvollere Kommunikation einzutauschen:

  • Erkennen: Ich versuche meine Macht überhaupt erst einmal zu erkennen und mir das enorme Machtgefälle zwischen mir und meinen Kindern bewusst zu machen.
  • Hinterfragen: Ich bin ehrlich mit mir und reflektiere mein Verhalten. Wie gehe ich mit meiner Macht um? Wie/in welchen Situationen missbrauche ich in der Begleitung meiner Kinder meine Macht – und warum tue ich das? Würde ich auch mit einer erwachsenen Person so umgehen?
  • Neue Wege gehen: Ich versuche meine alltägliche Gewalt an möglichst vielen Stellen gegen friedvollere Kommunikation einzutauschen. Wie kann ich eine bestimmte (vielleicht immer wieder auftauchende) Situation friedvoller gestalten? Was benötige ich dazu (mehr Zeit, ein Umdenken, etc.) – und was meine Kinder?
  • Bewusst handeln: Ich versuche meine Macht achtsam und bewusst einzusetzen. Möchte ich in dieser spezifischen Situation Gewalt anwenden? Wie fühle ich mich dabei? Und wie kommuniziere ich dies gegenüber meinen Kindern?

Um uns zu reflektieren und erste Schritte auf einem friedvolleren Weg zu gehen, hilft schon allein der Perspektivenwechsel, resp. der Versuch, eine bestimmte Situation aus der Perspektive der Kinder zu betrachten, wie dies Cara Lischka vom «Weltvonunten»-Projekt so wunderbar macht. Dabei nutzt sie auch immer wieder mal die simple und doch so anregende Frage: Wärst du gern Kind mit dir als Erwachsene/r?

Wie schaffe ich das im Alltag?

Das war nun eher theoretisch und scheint sich im Alltag mit Kindern nur schwer umsetzen zu lassen. Einen friedvolleren Weg einzuschlagen ist aber durchaus möglich – egal, wo wir aktuell stehen. Die Möglichkeiten sind unterschiedlich und auch der Fokus darf ein anderer sein. Wichtig ist, sich bewusst zu machen, dass Gewalt eben ein Teil unseres Alltags mit Kindern ist und dass das auch so bleiben wird. Und dann können wir versuchen, die Gewalt zu verringern. Das wird uns nicht von heute auf morgen gelingen und schon gar nicht immer. Daher ist es auch wichtig, milde mit uns selbst zu sein und uns für die friedvollen Situationen zu feiern, anstatt an den gewaltvolleren Momenten zu verzweifeln – denn diese wird es immer (mal wieder) geben. Aber wenn wir Gewalt als solche erkennen, sie benennen und auch mit unseren Kindern darüber sprechen (bspw. ihnen sagen, dass das von unserer Seite her nicht ok war, Grenzüberschreitungen als solche benennen, etc.), dann ebnen wir rein durch unser geschärftes Bewusstsein bereits den Weg für eine friedvollere Kommunikation.

Einen friedvolleren Weg einzuschlagen ist durchaus möglich – egal, wo wir aktuell stehen. Wichtig ist, sich bewusst zu machen, dass Gewalt eben ein Teil unseres Alltags mit Kindern ist. Und dass das auch so bleiben wird.

Mir helfen folgende Überlegungen und Tipps, um gewaltvolle Alltagssituationen nach und nach gegen friedvollere Momente – in Verbindung und auf Augenhöhe mit meinen Kindern – einzutauschen:

Ich bin mir der sozialen Kooperationsbereitschaft meiner Kinder bewusst.

  • Ich weiss, dass meine Kinder täglich sehr häufig kooperieren – gerade auch in Situationen, in welchen ich dies nicht explizit merke und schätze. Ich weiss auch, dass mit jeder sozialen Kooperation die Integrität meiner Kinder leidet. Ich versuche daher, meine Kinder nicht im Mikrobereich zu managen (bspw. lasse ich meine Kinder meist selbst entscheiden, was sie anziehen möchten – das Pyjama wechselt hier nahezu täglich und Jacken werden oftmals eingepackt anstatt zu Hause angezogen) und schöpfe die Kooperationsbereitschaft meiner Kinder nur dann ab, wenn ich sie dringend brauche. In der Regel sind Kinder eher dazu bereit zu kooperieren, wenn sie tagsüber bereits erfahren haben, dass ihre Integrität gewahrt und gestärkt wird.

Ich versuche Sätze, die ein «man» beinhalten, zu hinterfragen und neue Regeln für uns zu definieren.

  • Nur weil «man» etwas (nicht) macht, heisst das noch lange nicht, dass das bei uns auch so sein muss. Kinder lernen ziemlich rasch, dass an verschiedenen Orten unterschiedliche Regeln gelten. Kann sein, dass es für uns eine passende Lösung ist, das Kind unter dem Tisch picknicken zu lassen, anstatt ein zappeliges Kind am Tisch mahnen zu müssen, sich zu benehmen (weil sich das eben so gehört). Vielleicht ist uns aber das gemeinsame Am-Tisch-sitzen sehr wichtig, dafür ist es für uns passend, dem Kind auf dem Fenstersims sitzend die Zähne zu putzen. In wiederkehrenden Situationen, die ständig zu einem Konflikt führen, frage ich mich: Was ist uns wichtig, welche Werte haben wir? Wo dürfen wir neue, kreative Lösungen suchen, die für uns alle passend sind?

Ich muss nicht jeden Wunsch meines Kindes erfüllen («Ich will mich nicht angurten»), aber ich kann üben, das Bedürfnis hinter dem Wunsch meines Kindes zu erkennen (Autonomie, Spiel, etc.) und hier nach passenden Lösungen suchen.

In einem Konflikt mit meinem Kind übe ich mich in der Empathie-Schleife der gewaltfreien Kommunikation nach Kathy Weber.

  • Ich versuche die Gefühle, die Bedürfnisse und den Widerstand von meinem Kind zu erkennen und ernst zu nehmen. Anstatt dass ich die Gefühle kleinrede und «wegmache», versuche ich sie zu verstehen und zu benennen. Ich stelle meine Bedürfnisse nicht über die meines Kindes, sondern zeige sie als gleichwertig auf und suche mit meinem Kind gemeinsam nach einer für uns beide passenden Lösung. Das kann bspw. so aussehen: «Ich sehe, dass du noch beschäftigt bist im Sandkasten. Es macht dich wütend, dass ich gehen möchte – du willst noch bleiben. Gleichzeitig will ich noch einkaufen gehen, damit wir morgen Früchte zum Znüni haben.» Obwohl ich nicht Fan davon bin, mich auf einen genauen Wortlaut festzulegen, macht es hier (zumindest in meinem Denken) einen grossen Unterschied, ein gleichzeitig anstelle eines aber zu benutzen – dies hebt unsere beiden Bedürfnisse auf die gleiche Ebene und macht deutlich, dass es nicht bereits von vornherein klar ist, dass mein Bedürfnis obsiegt (à la: «Ich sehe dein Bedürfnis, aber wir machen das jetzt trotzdem so wie ich das möchte.») Unser jüngeres Kind frage ich, was es als Letztes noch tun möchte, bevor wir losgehen – den Kompromiss bringe ich ein und lasse dann mein Kind mitentscheiden. Mein älteres Kind ziehe ich gerne in die Lösungsfindung mit ein und frage, ob es eine Idee hat, wie wir das so lösen können, dass es für uns beide passt.

Ich trage die Verantwortung für unsere Beziehung und bin eine liebevolle Führung für mein Kind.

  • Elterliche Verantwortung bedeutet für mich (in Anlehnung an das Mira Live von Mira & das fliegende Haus zum Thema «Nein sagen») zunächst, dass ich als Elternteil herausfinde, welche Werte ich habe, entscheide, wo meine eigenen Grenzen sind und die Regeln aufstelle, die bei uns gelten. Ich stecke also quasi den für uns als Familie geltenden Rahmen ab und trage die Verantwortung dafür, dass dieser Rahmen (der sich natürlich auch ändern darf) für uns auch tatsächlich Sinn ergibt, und nicht ein allgemeingültiger oder stark aus meiner Kindheit geprägter Rahmen darstellt. Dadurch reduzieren sich die potentiellen Konfliktsituationen meist schon deutlich, da einiges einfach wegfallen darf. Wenn ich genau weiss, was ich (nicht) will und weshalb (nicht), dann bin ich klarer in der Kommunikation und gerate viel weniger in Not, wenn ein Konflikt entsteht. Zudem kann ich lernen, zwischen Wünschen und Bedürfnissen des Kindes zu unterscheiden. Ich muss nicht jeden Wunsch meines Kindes erfüllen («Ich will mich nicht angurten»), aber ich kann üben das Bedürfnis hinter dem Wunsch meines Kindes zu erkennen (Autonomie, Spiel, etc.) und hier nach passenden Lösungen suchen. Wenn ich in einer Konfliktsituation auf Augenhöhe gegangen bin, Empathie gegeben habe, nach friedvollen Lösungen gesucht habe, aber das Kind schlichtweg nicht (mehr) kooperieren kann und womöglich gerade überfordert und überreizt ist, versuche ich, in die liebevolle Führung zu gehen (wunderbar erläutert in der Instagram-Story über «Führung» von Danila Schmidt von «Friedvolle Mutterschaft»). Ich komme dann gemeinsam mit dem Kind mit Grenzen in Kontakt und übernehme Entscheidungen für das Kind. Ich gehe mit dem Kind auf Augenhöhe und sage ihm liebevoll und bestimmt, was jetzt passieren muss. Ich nehme mein Kind und greife körperlich ein. Ich bin dann aber bestenfalls klar in meiner Entscheidung und kann dementsprechend ruhig, bestimmt und in aller Liebe handeln, ohne grob und wütend zu sein. Und ich kann die Gefühle, die mein Kind aufgrund meiner Entscheidung empfindet, annehmen und begleiten.

Ich wähle Konflikte aus.

  • Ich muss nicht jeden Konflikt führen. Wenn ich weiss, dass die soziale Kooperationsbereitschaft von meinem Kind aufgebraucht ist und/oder mein Krafttank leer ist, dann entscheide ich mich auch mal bewusst dafür, «etwas durchgehen zu lassen». Wenn ich genau weiss, dass ich gerade nicht die Kraft habe, die Situation friedvoll zu gestalten und/oder die Gefühle von meinem Kind zu begleiten, dann kann ich es auch einfach mal sein lassen und nichts sagen, oder es so machen, wie es sich das Kind wünscht, auch wenn ich das nicht optimal finde.

Ich erkenne und achte meine eigenen Bedürfnisse und Grenzen und versuche regelmässig – im Kleinen und insbesondere auch präventiv – meinen Krafttank zu füllen.

  • Wenn ich oftmals und sehr plötzlich und heftig wütend werde, dann ist der eigentliche Grund für meinen emotionalen Zustand nicht das Kind, sondern meist «alte» Gefühle, die ich aus meiner eigenen Kindheit kenne und in der aktuellen Situation durchlebe. Oder aber mein emotionaler Zustand zeigt mir, dass ich überfordert oder überlastet bin und (zu sehr und zu lange) über meine eigenen Grenzen gegangen bin. Beides hat mit mir selbst zu tun, und nicht mit dem (Verhalten des) Kind(es) – auch hier trage wiederum ich die Verantwortung. Die eigene Wut ist eine Einladung dafür, auf sich selbst zu achten und zu schauen, was man selbst braucht. Danila Schmidt von «Friedvolle Mutterschaft» hat wunderbare Ideen, wie wir uns im Alltag mit Kindern kleine Kraftinseln schaffen können. Sie zeigt auf eine unaufgeregte Art auf, wie kraftvoll es sein kann, wenn wir uns an vielen kleinen Momenten über den Tag verteilt achtsam zuwenden, anstatt auf eine Stunde Pause hoffen. Das kann ein morgendliches Begrüssen des neuen Tages sein, wobei ich am Fenster oder auf dem Balkon frische Luft einatme. Oder ich berühre/drücke streichle mich selbst, meine Arme und mein Gesicht, nehme mich und meinen Körper wahr und gebe mir selbst eine Umarmung. Für mich persönlich ist auch die Handinhalation ein Game Changer: Ich nehme mir dazu einen Duft/ein ätherisches Öl nach Wahl und gebe einen Tropfen davon in meine Handinnenfläche, umgebe mich mit dem Duft und atme ein paar mal tief ein und aus. Ich habe mir meine liebste Aromamischung für schwierige Momente ins Gewürzregal gestellt, so dass ich sie griffbereit habe, wenn ich mich daran erinnern möchte, milde mit mir selbst zu sein und dass nichts und niemand gegen mich ist (schon gar nicht mein Kind!). Und wenn die Gefühle raus wollen, dann mache ich Musik an und tanze. Das kann auch gemeinsam mit den Kindern ganz heilsam sein.

Beziehung ist wertvoller als das Ergebnis

Wenn ich mein Kind friedvoller begleiten möchte, ist ein erster Schritt dahin, das enorme Machtgefälle, das in unserer Beziehung besteht, anzuerkennen und von meiner Macht ein Stück an mein Kind abzugeben. In einem Konflikt mit meinem Kind sollte der Ausgang unserer Diskussion nicht bereits von vornherein klar sein – es sollte dabei wirklich um einen Austausch auf Augenhöhe gehen, wobei ich (je nach Alter des Kindes) die Überlegungen und Argumente meines Kindes höre, seine Gefühle verbalisiere, ernst nehme und die Sicht meines Kindes einbeziehe. Ich versuche also, eine bestimmte Lösung eines Konflikts, ein von mir gewünschtes Ergebnis, nicht vor unsere Beziehung zu setzen. Und ich versuche meine Macht nur dann anzuwenden, wenn ich einen wirklich guten Grund dazu habe und keine anderen, friedvolleren Möglichkeiten sehe.

In der Regel sind Kinder eher dazu bereit zu kooperieren, wenn sie zuvor bereits erfahren haben, dass ihre Integrität gewahrt und gestärkt wird.

Wenn wir gewaltvoll oder gewalttätig reagieren, dann sind wir meist in Not. Und dass wir in Not sind, ist absolut legitim und wir haben unsere guten Gründe dafür. Aber es ist nicht in Ordnung, dass wir das an unseren Kindern auslassen. Wenn ich also genau weiss, dass sowohl ich als auch das Kind komplett müde sind, mein Kind nicht mehr kooperieren mag und es mir schwerfällt, eine friedvolle Lösung für das abendliche Zähneputzen zu finden – dann lass’ ich es eben einfach mal aus und putze am nächsten Tag wieder.

Und wenn sich die Situation häuft und unser beider Krafttank abends immer zu leer ist und das Zähneputzen nicht friedvoll zu funktionieren scheint, klappt es am nächsten Tag vielleicht früher am Abend, mehrmals verteilt über den Tag, auf dem Balkon, oder ich finde eine andere kreative, friedvolle Lösung (siehe Bilder in diesem Artikel). Niemand sagt, man müsse um acht Uhr abends dem auf-dem-WC-Deckel-sitzenden Kind die Zähne putzen. Das Zähneputzen – wie alles andere auch – darf sich genau so gestalten (oder eben auch mal nicht gestalten), wie es uns als Familie dient. Egal, wie das von Aussen her aussieht und egal, was die Grossmama und der Nachbar dazu sagen. Denn unsere Beziehung zu unseren Kindern ist wertvoller als irgendein Ergebnis.

Die Autorin

Die Ethnologin und Sprachwissenschaftlerin Nicole Bischof lebt mit ihrem Partner und den beiden gemeinsamen Töchtern (4 und 2) in der Stadt Bern. Die eingangs beschriebene Alltagssituation brachte sie dazu, mehr über Gewalt und Macht in der Begleitung von und der Beziehung mit Kindern zu lernen, sie wahrzunehmen und wo möglich friedvollere Wege einzuschlagen.