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Nicola Schmidt: «Wenn wir schimpfen, lernen Kinder nichts»

Erziehungsexpertin Nicola Schmidt sagt: Mit Schimpfen kommen Eltern nicht weit. Sie hat andere Tipps für gestresste Väter und Mütter.
11 Dez 2019
Bild — Annie Spratt (Unsplash)

Kinder können die Grenzen ausloten. Und dann geht das Geschimpfe los. Nützt nichts, schadet nur dem Kind, sagt Erziehungsexpertin Nicola Schmidt. Die zweifache Mutter und Bestsellerautorin («Geschwister als Team», «Artgerecht», «Slow Family») zeigt Eltern in ihrem neuen Buch «Erziehen ohne Schimpfen» andere Wege auf, Regeln durchzusetzen. Dieses Interview ist zuerst in der «Aargauer Zeitung» erschienen. Wir publizieren es hier mit freundlicher Genehmigung der CH Media ein zweites Mal. Hier findet ihr das Gespräch im Originallayout (PDF).

Nicola Schmidt, Hand aufs Herz: Wann haben Sie zum letzten Mal geschimpft?
Nicola Schmidt: Vor einer Woche, als ich mich für eine lange Reise vorbereitet habe, angespannt war und alle gleichzeitig etwas von mir wollten. Da war ich ungehalten und habe gesagt: «Hey Leute, das ist mir jetzt gerade zu viel.» Wenn man unter Schimpfen aber versteht, ein Kind anzuschreien, abzuwerten, zu bedrohen, so ist das schon viele Jahre her.

Was war damals geschehen?
Ich war alleinerziehend, selbstständig und überarbeitet. Da kam es schon mal vor, dass ich laut wurde: «Ich kann nicht mehr! Ihr geht mir total auf den Keks!»

Wann haben Sie entschieden, für Ihren Ärger ein anderes Ventil zu suchen?
Ich stand vor meinem weinenden Kind und begriff: Schimpfen ist ineffizient. Das Kind weint, ich fühle mich schlecht, und am Ende weiss keiner mehr, worum es eigentlich ging. Auf der anderen Seite habe ich bei meinen Vorträgen von Eltern immer wieder gehört: In der Theorie finde ich die Vorschläge toll, aber unter Stress erinnere ich mich nicht daran. Da habe ich begonnen, mich mit dem Thema Stress auseinanderzusetzen. Es hängt mit Schimpfen stark zusammen.

«Schimpfen ist ineffizient. Das Kind weint, ich fühle mich schlecht, und am Ende weiss keiner mehr, worum es eigentlich ging.»

Wie denn?
Wenn wir gestresst sind, reagiert das Gehirn wie in einer Notsituation. Es schaltet den präfrontalen Cortex, den Sitz des Verstandes, aus. Analytisches Denken könnte im Ernstfall ja zu lange dauern und lebensgefährlich enden. Deshalb handeln wir im Affekt, schimpfen los, verteidigen uns. So als hätten wir einen Tiger vor uns und nicht ein Kind. Das liegt auch daran, dass wir in einem Stress leben, für den wir nicht gemacht sind. Den ganzen Tag alleine mit Kindern zu sein, ist nicht «artgerecht». Eigentlich braucht es ein Dorf, um Kinder zu erziehen.

Wie können Eltern ihr Hirn in stressigen Situationen austricksen?
Wir müssen Verantwortung übernehmen. Was hilft, ist den Körper wieder wahrzunehmen. Aus dem Raum gehen, sich die Hände waschen, etwas trinken, die Treppe hochrennen. Oder den Hampelmann machen. Darüber können wir vielleicht immerhin wieder lachen.

«Wenn wir unser Kind anschreien, haben wir zwei Stunden vorher den Fehler gemacht.»

Nur Pudding zum Frühstück, Widerstand seit Tagen beim Zähneputzen, unbedingt barfuss raus, obwohl andere schon Mütze tragen: Das kann Eltern schon mal in den roten Bereich bringen …
Wenn wir unser Kind anschreien, haben wir zwei Stunden vorher den Fehler gemacht. Wir Erwachsene müssen lernen, unseren Stress besser zu kontrollieren und wahrzunehmen, wann wir nicht mehr im grünen Bereich sind. Dann müssen wir die Notbremse ziehen, einen Tee trinken oder eben einen Termin absagen.

Einen Termin absagen: Das geht nun mal nicht immer.
Stimmt, aber ich kann zum Beispiel das Taxi nehmen, statt selber zu fahren und mich im Stau zu ärgern. Oder: Muss ich am Abend wirklich selber kochen? Genügt nicht eine Pizza, die ich aus der Stadt mit nach Hause bringe? Wir müssen lernen, unseren Stress zu managen – damit wir ihn nicht an unseren Kindern auslassen und sie ebenfalls stressen. Schimpfen setzt sie unter Beziehungsstress.

«Schimpfen schadet der Beziehung. Wenn das Kind 15 ist, werden wir es merken.»

Wie wirkt sich Schimpfen auf die Beziehung zwischen Kind und Eltern aus?
Es schadet ihr. Das fällt vielleicht nicht auf, wenn ein Kind drei oder fünf Jahre alt ist. Doch wenn es 15 ist, merken wir es. Es hört nicht zu und geht einfach weg. Es flüchtet in die innere Emigration. Wir Eltern erreichen den Teenager dann nicht mehr.

Wenn ein Kind nach dem Tadeln gehorcht, trügt der Schein, schreiben Sie in Ihrem Buch. Schimpfen bringt nichts?
Nein, im Gegenteil. Wir wollen ja eigentlich, dass unser Kind etwas lernt: Trage zur Gemeinschaft bei! Nimm dich mal zurück! Hilf mit! Wenn wir schimpfen, lernen Kinder aber nichts. Sie machen nur aus Angst mit, lernen zwar zu funktionieren, aber nicht was Empathie und Fürsorge bedeutet. Und das nützt unserer Gesellschaft nichts. Wir brauchen Menschen, die kreative Lösungen finden, die gemeinsam mit anderen etwas erreichen. Solche Menschen gibt es nicht, wenn wir Kinder ausschimpfen.

«Wenn wir schimpfen, lernen Kinder nichts. Sie machen nur aus Angst mit.»

Auch Eltern sind nur Menschen. Sollen sie ihre schlechten Tage herunterspielen?
Der vor kurzem verstorbene dänische Familientherapeut Jesper Juul hat stets geraten, authentisch zu bleiben. Nicht zu schimpfen, bedeutet ja auch gar nicht, immer nett und gut gelaunt zu sein. Ich kann durchaus durch die Wohnung rufen: «Mir reicht es! Es ist so unordentlich hier! Ich kann mich so nicht entspannen. Ich will, dass ihr endlich aufräumt.» Das ist sehr authentisch und wirkt doch ganz anders als: «Ihr zwei, ihr lasst immer alles herumliegen. Ich habe es satt.»

Das eine ist ein Ausbruch, das andere ein Angriff?
Genau, im zweiten Beispiel demütigen wir die Kinder. Dabei ist es unsere Verantwortung, wenn Kinder nicht gelernt haben, wie man aufräumt und kooperiert. Dann haben wir es nicht richtig erklärt, nicht richtig vorgemacht oder nicht gemerkt, dass sie schon zu müde sind.

Wie motivieren Sie Ihre Kinder, aufzuräumen?
Ich nehme eine Technik aus dem Projektmanagement. Ich teile die Aufgabe in kleine Bereiche auf und gebe dazu einfache Anweisungen: «Stellt alle Bücher ins Regal, alle Kleider kommen in die Wäsche und alle Legos in die Legokiste.» Ich helfe mit. Und schon ist das Zimmer nach zwanzig Minuten aufgeräumt.

Diskussionen über Süssigkeiten begegnen Sie mit einem Tag, an dem jeder so viel naschen darf, wie er will. Einige Kinderpsychologen würden sagen: So ziehen wir Tyrannen auf. Tun Sie das?
Die Studienlage zeigt deutlich: Erfüllte Bedürfnisse verschwinden, unerfüllte Bedürfnisse tauchen immer wieder auf. Diese Regel gilt nicht nur für uns Erwachsene, sondern auch für die Kinder. Natürlich gibt es klare Regeln. Sind wir aber nicht in der Lage, einem müden Kind auch mal das Zähneputzen zu erlassen, sind wir keine Erziehungsberechtigten, sondern Feldweibel. Ausnahmen machen Kinder entspannter, entspannte Eltern haben nachweislich kooperative Kinder.

Wie lauten Ihre Tipps, um Regeln durchzusetzen, ohne schimpfen zu müssen?
Erstens: Vernünftige, funktionale Regeln aufstellen. Zweitens: Wir dürfen von Kindern nur erwarten, was man von Kindern erwarten kann. Wir verlangen oft mehr von ihnen als von uns. Drittens: Wenn die Kinder nicht kooperieren, dann muss man sich fragen weshalb. Die Kinder streiten im Auto – vielleicht, weil sie lieber draussen klettern würden oder noch nichts gegessen haben? Wichtig ist übrigens auch, dass wir Eltern unsere tollen Regeln selber einhalten.

Sie empfehlen zu spielen, statt zu schimpfen.
Ich empfehle das für festgefahrene Situationen, denen ein Machtkampf zugrunde liegt. Denn dann hilft Pädagogik nicht mehr. Was Kindern oft fehlt, sind Nähe und Bindung. Durch Spiele können wir diesen Kontakt wiederherstellen. Mit der Folge, dass das Kind kooperiert. Eltern unterschätzen die Kraft, die Herumalbern hat.

«Was Kindern oft fehlt, sind Nähe und Bindung.»

Müssen sich Eltern denn gleich Socken an die Ohren hängen, um das Kind dazu zu bringen, sich anzuziehen?
Nein, sie müssen gar nichts. Aber es kann die Situation enorm entspannen. Und wenn ich sonst ein klarer, kluger Anführer bin, fällt mir kein Zacken aus der Krone, wenn ich mit den Kindern herumblödle.

Es gibt immer mehr junge Frauen wie Sie, die Erziehungsratgeber schreiben. Früher war die Branche grauhaarigen Männern vorbehalten.
300 Jahre lang haben Männer uns erzählt, wie die Kinder zu erziehen sind, die vor allem wir Frauen erziehen. Nun gibt es immer mehr Frauen, die sagen: Nun, schauen wir doch mal, wie das in der Praxis funktioniert. Eine äusserst wichtige Demokratisierung dieses Diskurses.

Nicola Schmidt

Die 41-jährige Politikwissenschafterin bloggt seit 2008 über bedürfnisorientierte Erziehung. Sie lebt in der Nähe von Bonn, hat zwei eigene Kinder und sechs in der Patchworkfamilie. 2010 hat sie die Artgerecht-Bewegung ins Leben gerufen, schult Fachleute in Deutschland, Österreich und der Schweiz und bietet für Familien jährlich Wildniscamps an, in denen Familien draussen artgerechtes Clan-Leben erfahren können. In der Natur sein, im Kontakt miteinander und weniger Stress: Das sind laut Schmidt die Zutaten für eine unbeschwerte Kindheit. Und auch die Themen ihrer Bücher.
Nicola Schmidt: Erziehen ohne Schimpfen, Gräfe und Unzer 2019, 176 S., 24.90 Fr.. (dbu, Foto: Natalie Menke)