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Wie Kinder lernen, Gefühle zu benennen

«Ist doch nicht so schlimm!»: Kinder lernen, dass vieles «falsch» ist, was sie fühlen. Das können wir ändern – indem wir bei uns anfangen.
22 Mai 2023
Bilder — Unsplash

Gefühle können sich total überwältigend anfühlen. Die lautstarken Gefühlsstürme der Kinder überfordern uns Eltern verständlicherweise. Und wie oft scheuen wir uns davor, unsere eigenen Gefühle wahrzunehmen? Viel einfacher scheint es da doch, sich abzulenken, irgendwo druchzuscrollen, ein Glas Wein zu trinken, sich beim Sport zu verausgaben. Wie hilflos fühlen sich wohl Kinder, die ihre Gefühle nicht einordnen können und nicht wissen, ob diese Wut, dieser Frust, diese Angst jemals wieder gehen?

Gefühle sind da, um wahrgenommen zu werden. Sie wollen uns etwas zeigen.

Gefühle sind da, um wahrgenommen zu werden. Sie wollen uns etwas zeigen, uns eine Weile begleiten. Und dann ziehen sie auch wieder weiter.

Wie können wir Kinder in ihrem Umgang mit Gefühlen unterstützen?

Gefühle wahrnehmen, annehmen und benennen

Wir sind kommunikative Wesen – lernen durch Kommunikation, durch Sprache. Daher ist es wichtig, überhaupt erst mal Wörter für unterschiedliche Befindlichkeiten zu haben. Dabei spielt es auch überhaupt keine Rolle, ob ein Kind (schon) spricht, oder nicht. Denn Kinder können überhaupt erst durch die verbale Begleitung in die Welt der Sprache eintauchen. Genau gleich verhält es sich mit Gefühlen. Kinder brauchen Möglichkeiten, sie brauchen Beispiele dafür, wie sie sich fühlen könnten, um die Wahrnehmung ihrer Innenwelt verknüpfen und einordnen zu können.

Wir wurden grösstenteils so erzogen, dass Gefühle schnell weggemacht wurde.

Setzen wir also (einmal mehr) bei uns selbst an: Um unsere Gefühle überhaupt benennen zu können, müssen wir sie wahrnehmen. Im Alltag scheint da aber oftmals kein Raum dafür zu sein. Schliesslich leben wir in einer Welt, in der Befindlichkeit als weniger wichtig erachtet wird als Leistung. Wir wurden grösstenteils so erzogen, dass Gefühle – falls sie überhaupt geäussert und gezeigt werden durften – schnell weggemacht wurden: Wir wurden schnell abgelenkt, gerne auch mit Spielzeug oder Süssigkeiten (heute oft mit einem Filmchen auf dem Handy). Oder wir wurden mit unseren Gefühlen alleine gelassen. Wir dürfen daher milde mit uns selbst sein und damit beginnen, uns wieder mehr mit uns selbst zu verbinden, unsere Gefühle wahrzunehmen und Worte dafür zu finden.

«Macht nüt, ist doch nicht so schlimm»

Im Alltag ist nämlich das Annehmen von Gefühlen gar nicht so einfach. Ihr kennt das bestimmt: Ein Kind fällt hin und weint. Jemand eilt herbei und sagt so etwas wie: «Macht nichts, ist doch nicht so schlimm.» Dieser und ähnliche Sätze beinhalten für mich so viel Schmerz, so viel Verdrängung, so viel Nicht-so-sein-, Nicht-so-fühlen-dürfen. Ein Kind, das fällt, erschreckt sich dabei vielleicht. Womöglich schmerzt auch das Knie. Ein «Das macht nichts» wird dem Erleben des Kindes meiner Meinung nach nicht gerecht. Es macht schon etwas. Im Kind geht etwas vor.

Ein «Das macht nichts» wird dem Erleben des Kindes nicht gerecht. Es macht schon etwas. Im Kind geht etwas vor.

Wie viel heilsamer ist es da, sich zum Kind zu setzen, erstmal zu schauen, was sich zeigt. (Es kann natürlich auch sein, dass das Kind nicht weint, respektive der Sturz tatsächlich nichts weiteres im Kind auslöst und es aufsteht und weiterrennt – das ist absolut in Ordnung.) Es kann für das Kind sehr hilfreich sein, wenn wir einfach da sind und versuchen, die Empfindungen – das was im Kind womöglich vorgeht – zu benennen. «Du hast dich wohl gerade erschreckt, oder?» «Erst warst du voller Karacho unterwegs, und plötzlich liegst du hier.» «Dein Knie tut gerade echt weh, oder?» «Ich bin da. Komm, wir warten gemeinsam, bis sich der Schreck und der Schmerz wieder etwas verflüchtigt haben.» Warum glauben wir uns anmassen zu dürfen, zu wissen, wie sich etwas für jemand anderes anfühlt? Wir dürfen hier einen Schritt zurücktreten, in die Beobachtung und Wahrnehmung kommen. Bei uns selbst, und bei anderen.

Gefühle haben eine Daseinsberechtigung

Ich komme gestresst von der Arbeit nach Hause. Heute lief einiges – aber weniges so, wie ich es mir wünschte. Eine Auseinandersetzung mit dem Chef hängt noch nach, als ich zur Tür reinkomme. Mein Partner ist zu Hause, und ich lass’ erstmal Dampf ab. Und was würde ich dann wohl lieber hören? Ein: «Ach, nimm’s nicht so schwer, der meint es doch nur gut und hat selbst auch grad viel um die Ohren. Versuch’s nicht persönlich zu nehmen.» Oder ein: «Das war wohl alles zu viel heute und hat dich echt mitgenommen, hm?»

Was von jemandem gefühlt wird, hat eine Daseinsberechtigung. Nicht mehr und nicht weniger.

Ein erster Schritt – bei uns selbst, aber auch in der Interaktion – sollte immer sein, das, was empfunden wird, da sein zu lassen. Was von jemandem gefühlt wird, hat eine Daseinsberechtigung. Nicht mehr und nicht weniger. Wir sind so darauf aus, Gefühle möglichst schnell weg zu machen, andere zu trösten, alles wieder gut zu machen, dass wir die reine Wahrnehmung von Gefühlen gar nicht erst als wichtigen Moment schätzen. Wir sind sofort einen Schritt weiter und wollen, dass «es» wieder weg geht.

Gefühle kommen und gehen lassen

Kinder lernen ihre Gefühle erst dann kennen, wenn sie überhaupt da sein dürfen. Wir können sie dabei unterstützen, indem wir unseren eigenen Gefühlen mehr Raum geben, sie wahrnehmen und benennen. So können Kinder erkennen, dass sie nicht alleine sind mit dem, was da manchmal in ihnen vorgeht. Sie dürfen darauf vertrauen, dass diese unterschiedlichen Befindlichkeiten ganz normal sind, dass andere Menschen – insbesondere auch Erwachsene – ebenfalls ganz unterschiedliche Dinge fühlen. Gemeinsam mit unseren Kindern dürfen wir lernen, dass wir nicht unsere Gefühle sind, sondern unsere Gefühle da sind, um uns etwas zu zeigen. Und dass Gefühle kommen und auch wieder gehen.

Geschichten über Gefühle

Als Erwachsene/r – insbesondere im Familienalltag – kann es sehr anstrengend und überfordernd sein, sich mit seiner eigenen Gefühlswelt auseinanderzusetzen, hinzuschauen und zu benennen. Daher kann es auch ganz praktisch sein, auf Geschichten zurückzugreifen, die uns dabei unterstützen können, mit unseren Kindern über Gefühle zu sprechen. Wir nutzen sehr gerne die Geschichte «Das Land der Gefühle» aus dem Vorlesebuch von «Mira & das fliegende Haus», durch das wir erfahren, wieviel wir von den unterschiedlichen Gefühlen lernen können – wenn wir sie denn annehmen und ihnen zuhören. Auch die beiden Podcast-Folgen «Alle Gefühle sind okay» und «Das Gefühls-Kuddelmuddel» sind sehr schön umgesetzt und vermitteln den Kindern, dass alle Gefühle okay sind, und auch, wie mit Gefühlen von anderen umgegangen werden kann.

Auch das Fische-Buch «Heute bin ich» von Mies van Hout finde ich ganz wunderbar. Es zeigt ein buntes Spektrum an Gefühlsregungen, ermöglicht dadurch Erkennen und Benennen von Gefühlen sowie Gespräche darüber, welche Gefühle wir selbst schon mal gefühlt haben.

Was hilft euch, mit euren Kindern über Gefühle zu sprechen? Habt ihr Erfahrungen mit irgendwelchen Tools (wie beispielsweise der Herz-Box von Mira oder der Gefühlsuhr von Katy Weber), oder habt ihr weitere Buchtipps? Erzählt es uns in den Kommentaren!

Nicole Bischof

Die Ethnologin und Sprachwissenschaftlerin lebt mit ihrem Partner und den beiden gemeinsamen Töchtern (5 und 3) in der Stadt Bern. Die Gefühlswelt ihrer Kinder zu deuten und zu begleiten, fällt ihr alles andere als leicht – Gefühls-Kuddelmuddel sind an der Tagesordnung. Durch das Begleiten der Gefühle ihrer Kinder wurde ihr bewusst, dass es auch hier (einmal mehr) um uns selbst geht und wir lernen dürfen, uns selbst an die Hand zu nehmen und zu begleiten.