Der Dorfplatz von Bratsch ist an diesem Morgen belebt – trotz Sturm und Schneefall. Kinder steigen aus dem Schulbus aus und laufen schwatzend und lachend zum Schulhaus beim Dorfplatz. Dass hier oben, im kleinen Bergdorf Bratsch im Kanton Wallis, wieder Kinder zur Schule gehen, ist nicht selbstverständlich. Noch bis vor drei Jahren war noch ein einziges Kind in Bratsch zuhause. Heute gehen hier wieder nahezu 50 Kinder zur Schule.
Es ist keine gewöhnliche Schule, die der Walliser Pädagoge Damian Gsponer hier führt. Es ist eine Schule, in der bis zur Sekundarstufe ohne Prüfungen und Noten gearbeitet wird, dafür in Projekten. Es ist eine Schule, in der sich Lehrpersonen nicht als Wissensvermittler, sondern als Mentoren verstehen, um den Kindern dabei zu helfen, ihre Projekte zu verwirklichen und an ihren selber gesteckten Lernzielen zu arbeiten. Und: Die GD-Schule Bratsch arbeitet eng mit der lokalen Wirtschaft zusammen. Am 21. März 2020 legt Damian Gsponer seine Vision einer Schule am Bildungskongress* in Thun dar.
An der Schule in Bratsch wird bis zur Sekundarstufe ohne Prüfungen und Noten gearbeitet, dafür in Projekten.
Wie gefragt das Konzept der Schule ist, lässt sich an der Warteliste der Schule ablesen: 140 Kinder sind darauf eingetragen, deren Eltern alle hoffen, dereinst einen Platz an der Schule zu erhalten. Dass sie dafür monatlich einen Betrag entsprechend ihren finanziellen Möglichkeiten entrichten müssen, nehmen sie in Kauf. Der Grundbetrag beträgt 1250 Franken, für Familien mit tiefem Einkommen wird der Tarif nach Absprache angepasst. Die GD Schule Bratsch ist halbprivat.
Offensichtlich trifft die Schule mit ihrem Konzept den Nerv der Zeit. Es ist eine Zeit, in der immer mehr Eltern nach Bildungsalternativen suchen – nicht nur im Wallis, auch im Kanton Bern. Das zumindest lässt sich aus den Zahlen des Bundesamts für Statistik lesen: So verzeichnete dieses im Schuljahr 2010/11 im Kanton Bern insgesamt 107 private Schulen, im Schuljahr 2017/18 waren es bereits 144. Im Kanton Zürich geht der Trend in eine ähnliche Richtung: 2010/20100 gab es im Kanton Zürich 322 private Schulen, im Schuljahr 2017 /18 waren es 23 mehr. Und: Immer mehr Eltern entscheiden sich für den Unterricht zuhause. 2012 wurden schweizweit rund 500 Kinder als Homeschooler unterrichtet, heute sind es über 2000 Kinder. Allein im Kanton Bern hat sich die Zahl verdreifacht, von 158 (2009/10) auf 576 Kinder (2018/19). Das sind zwar nur rund 0,5 Prozent aller Schülerinnen und Schüler im Kanton Bern, doch scheinen sich diese in den Strukturen der öffentlichen Schule nicht wohl zu fühlen.
2012 wurden schweizweit rund 500 Kinder als Homeschooler unterrichtet, heute sind es über 2000 Kinder.
Weshalb immer mehr Eltern auf Bildungsalternativen setzen, dazu gibt es in der Schweiz keine Studie. Und auch auf die Frage, was Eltern in der Schweiz denn von der Schule erwarten, gibt es bis jetzt noch keine wissenschaftliche und umfassende Antwort. In Deutschland dagegen hat die Elternstudie 2019 erste Antworten geliefert – wenn auch nur auf Deutschland bezogen: Demnach wünschen sich 83 Prozent der befragten deutschen Eltern von der Schule eine vielfältige humanistische Bildung, die vor allem auf das Leben vorbereitet. Die überwiegende Mehrheit (93 %) ist zudem der Auffassung, Kinder müssten im Schulunterricht auch praktische, künstlerische und musische Kenntnisse und Erfahrungen erwerben. Und: Eine ebenso hohe Prozentzahl der Eltern ist der Meinung, dass Schule nicht nur auf Prüfungen ausgerichtet sein sollte, sondern auch die Entwicklung einer selbstbewussten Persönlichkeit fördern müsse. Zudem sprechen sich die befragten Eltern in der Studie klar gegen das meist notengebundene Leistungsprinzip aus.
Die Antworten der Eltern aus Deutschland korrelieren überraschenderweise mit Forderungen aus der Wirtschaft: Jack Ma, Gründer des Internet-Unternehmens Alibaba, hat anlässlich des World Economic Forums 2018 dargelegt, wie er sich die Schulen der Zukunft vorstellt. In einer Zukunft, in der Roboter bis 2030 rund 800 Millionen Jobs übernehmen würden, sei Bildung die ganz grosse Herausforderung. Die Art,wie unterrichtet werde, müsse sich ändern: «Was wir unseren Kindern beibringen sollten sind Werte, Überzeugung, unabhängiges Denken, Teamwork, Mitgefühl. Das alles kann nicht durch reines Wissen gelernt werden. Stattdessen sollten sich Kinder im Sport, der Musik, Malerei und Kunst betätigen. Alles was wir lehren, muss sich von Maschinen unterscheiden.»
Die Rede – hier eine Videozusammenfassung davon – liefert offenbar die eine, grosse und ausführliche Antwort auf die Frage, was junge Menschen heute lernen müssen, um in der Welt von morgen bestehen zu können. Es ist eine Frage, die sich alle Eltern stellen – und die sie, wie die statistischen Zahlen zeigen, ganz unterschiedlich beantworten.
Was sollen Schule und andere Bildungsinstitutionen heute leisten? Was müssen junge Menschen lernen, um in der Gesellschaft und Arbeitswelt der Zukunft bestehen zu können? Dieser Frage gehen die Referentinnen und Referenten am 1. Thuner Bildungskongress am 21. März 2020 nach. Hauptreferent wird der Walliser Schulleiter Damian Gsponer sein (siehe Artikel). Unter dem Motto «Schule und Wirtschaft im Dialog» stellen sich die Organisatorinnen und Organisatoren des 1.Thuner Bildungskongress in den Dienst der konstruktiven Debatte und Auseinandersetzung mit Bildung. Der Kongress steht allen offen, die sich für Bildungsfragen interessieren, Eltern also genau so wie Personen aus dem Bildungswesen. Weitere Informationen und Anmeldungen: www.lernbewegung.ch
Die freischaffende Journalistin ist Mutter von vier Kindern. Sie schreibt über und befasst sich ausführlich und immer wieder mit Bildungsfragen. Ihr Buch «Welche Schule brauchen wir?» ist im Zytglogge Verlag erschienen. Sie ist Mitorganisatorin des 1. Thuner Bildungskongresses.