Zeichnungen der eigenen Kinder sind herzerwärmend, rührend, wundervoll – und kommen oft in einer Menge daher, die an eine Heuschreckenplage erinnert. Das bringt die meisten Eltern in einen inneren Zwiespalt: Behalten sie jeden Erguss kindlicher Kreativität und versinken unweigerlich im Chaos? Oder lassen sie die Kunstwerke unbemerkt in der Altpapiersammlung verschwinden?
Entscheiden sie sich für letzteres, kommen alsbald Schuldgefühle hoch: Zum einen ist es ein Bruch der sonst eisernen Regel, nur jene Dinge auszusortieren, die einem selber gehören. Zum anderen stellt sich Eltern die quälende Frage, ob sie wohl ihr Kind gering schätzen, wenn sie seine Werke entsorgen.
In der Antwort auf diese Frage liegt meines Erachtens das grösste Verdienst von Marie Kondo. Sie hat einen Gedanken ins Spiel gebracht, den ich bei meinen Coachings sehr häufig verwende. Der Gedanke heisst: Jede Sache erfüllt einen Zweck. Ist der Zweck einmal erfüllt, kann ich den Gegenstand dazu mit gutem Gewissen gehen gelassen.
Worin also liegt der Zweck von Kinderzeichnungen und –basteleien? Mit ihren Produktionen bringen Kinder ihre unfassbare Kreativität zum Ausdruck. Sie betätigen sich schöpferisch und erfahren sich darin selber. Der Sinn liegt in der Handlung – und nicht im Aufbewahren des Resultats! Ein anderer Zweck kann darin liegen, dass sie uns mit ihren Kunstwerken eine Freude bereiten, ein Lächeln sehen oder einfach wahrgenommen werden wollen. Kommt meine Tochter mit einer Zeichnung zu mir, wertschätze ich sie damit, dass ich ihr Bild wahrhaftig betrachte, allenfalls ein besonders hübsches Detail anspreche und ihr für ihr Geschenk (falls es denn eines ist) ehrlich danke. Der Zweck der Zeichnung ist damit unter Umständen bereits erfüllt. Ich brauche sie nicht weiter zu behalten.
Selbstverständlich heisst das nicht, dass Sie alle Arbeiten Ihrer Kinder unmittelbar entsorgen. Es geht darum, eine verträgliche Balance aus Wertschätzung und Überschaubarkeit zu finden. Das ist beispielsweise möglich, indem Sie zwei bis drei Meisterstücke pro Kind in einem eigens dafür vorgesehenen Rahmen im Wohnzimmer aufgehängen. Das Kind entscheidet selbst, welche Kreation diese Ehre verdient hat und wann sie durch das nächste Bildnis ersetzt wird. Oder Sie legen einen Ordner an, in dem Sie die schönsten Exponate ablegen. Das kann auch digital sein. Auch hier geht es darum, gemeinsam mit Ihrer Tochter oder Ihrem Sohn eine Auswahl zu treffen. Bei uns zuhause begnüge ich mich damit, alle Basteleien und Malereien in eine grosse Kiste zu legen. Alle paar Wochen sortiere ich diese – wohlweislich alleine – aus. Noch nie ist ein Œuvre anschliessend vermisst worden. Und im Nu ist die Kiste wieder voll.
* Die Autorin Karin Schrag bietet Sprachkurse für Eltern an und hält zum Thema auch Impulsreferate (aktuelle Daten findet ihr hier). Ihre praktischen Tipps für mehr Ordnung (Karin Schrag ist Aufräumcoach!) könnt ihr in diesem hilfreichen und beruhigenden Interview nachlesen: «Verzeihen Sie sich die aktuelle Unordnung». Dieser Text erschien zuerst auf ihrem Blog: www.freiraeumen.ch