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Dem Himmel ganz nah: Mit Kind im Nachtzug nach Wien

Unser Autor fährt mit seinem 6-jährigen Kind im Nachtzug für ein Vater-Sohn-Wochenende nach Wien.
7 Jun 2023
Bilder — Kian und Fabian Sommer

Wir biegen nach rechts ab, dann nach links, wir marschieren lange geradeaus. Wir biegen wieder nach rechts ab. Wenn ich kein Kind an der Hand hätte, würde ich jetzt fluchen. Schon wieder Sackgasse! Wir blicken zuerst uns an, ratlos, und dann Richtung Himmel. Unter einer Baumkrone sehen wir Menschen, die auf einer Aussichtsplattform stehen und auf uns hinabsehen. Sie lachen. Vielleicht lachen sie uns aus, weil wir herumirren wie verwirrte Hühner. Wir drehen uns um, marschieren lange geradeaus, biegen nach links ab, dann nach rechts, dann wieder nach links. Wir sind zurück am Ausgangspunkt. Diesmal biegen wir gleich bei der ersten Möglichkeit links ab, irgendwann muss es ja klappen. Noch eine Linkskurve. Und wieder: Sackgasse. Jetzt fluche ich.

Mein Sohn Kian und ich sind im ebenso schönen wie kniffligen Irrgarten im Wiener Schlosspark Schönbrunn. Ziemlich genau hier hat wahrscheinlich einst das Traumpaar der österreichischen Monarchie Verstecken gespielt, Sisi und Franz. Der Irrgarten wurde 1720 angelegt, gegen Ende des 19. Jahrhunderts abgebrochen und schliesslich 1999 wieder zum Leben erweckt.

Irgendwann hat Kian eine Idee. Er sagt, ich solle ihm folgen. Nach einer Rechtskurve biegen wir direkt scharf nach links ab und laufen dann lange geradeaus. Ja! Die Plattform! Wir klettern hoch, machen ein Erinnerungsfoto. Jetzt lachen wir. Und wir lachen auch ein bisschen die Menschen unter uns aus, die durch das Labyrinth aus Hecken irren und fluchen. Wir sind offensichtlich nicht die Einzigen, die mehr als eine halbe Stunde brauchen, um ans Ziel zu kommen.

Keine Mama, kein kleiner Bruder

Es ist Frühling, es ist strahlend schönes Wetter, wir sind in der österreichischen Hauptstadt, und eigentlich kann es nichts Besseres geben gerade. Es ist ein Original-Männerwochenende, nur mein älterer Sohn Kian und ich sind unterwegs. Keine Mama, kein kleiner Bruder. Zur Vorbereitung haben wir ein Buch über die grössten und schönsten Städte der Welt gelesen, Wien mit dem berühmten Riesenrad am Prater war auf einer der vordersten Doppelseiten abgebildet. Kian ist sechseinhalb Jahre alt, hat gerade seinen zweiten Wackelzahn und beschäftigt sich am liebsten mit Lego, Fussball, Dinosauriern, coolen Städten, der Zeichentrickserie PJ Masks und Verkehrsmitteln aller Art.

Gut also, dass schon das erste Abenteuer auf dieser Reise mit einem Verkehrsmittel zu tun hat. Zwei Tage vor dem Irrmarsch zu Schönbrunn fahren wir mit dem Nachtzug von der Schweiz in die österreichische Hauptstadt. Auf dem Bahnsteig in Zürich macht Kian Fotos vom Zug. Es ist ein altes, ungarisches Modell, Endziel ist Budapest. Als wir eingestiegen sind und unseren Platz gefunden haben, sagt mein Sohn: «Es ist klein, aber fein!»

Ich muss lachen. Das Abteil ist knapp bemessen und schlecht geputzt. Um auf die obere der beiden Pritschen zu kommen, muss ich eine verdreckte Metallleiter ans Bettgestell hängen und hochklettern. Die Bettwäsche hat Löcher, der Spiegel über dem Lavabo ist verschmiert. Das ist mir aber alles egal, und Kian sowieso. Als der Zug um 22 Uhr aus dem Bahnhof in die Nacht ruckelt, durchströmt mich ein Gefühl, das ich ungefähr im Alter von Kian zum ersten Mal gespürt habe. Damals fuhr ich mit meinen Eltern mit dem Nachtzug nach Süditalien und fühlte mich wie ein echter Globetrotter. Ich bin heute ziemlich sicher, dass ich damals mit dem Reisevirus infiziert worden bin.

Ich erzähle Kian genau das. Er überlegt kurz, sagt dann nur, dass das schon sein könne, er aber jetzt gerne eine Folge PJ Masks auf dem Handy schauen würde. Ich willige ein und sage, dass ich über unser Herrenwochenende in Wien schreiben werde und in den nächsten Tagen deshalb immer wieder kurze Interviews mit ihm führen und aufzeichnen möchte. Er willigt ebenfalls ein.

Kian, wie fühlst du dich?
Gut. Müde. (gähnt)
Worauf freust du dich am meisten in Wien?
Auf den Prater!
Was meinst du, wie wirst du im Nachtzug schlafen?
Gut.
Wieso?
Weil ich mich gut fühle. Das Bett ist bequem.

Eine halbe Stunde und zwei PJ-Masks-Folgen später schläft Kian. Ich liege auf der oberen Pritsche lange wach. Ich denke darüber nach, welch Privileg es ist, Kinder zu haben und mit ihnen Reisen machen zu dürfen. Irgendwann ruckelt mich der ungarische Nachtzug in einen unruhigen Schlaf.

Um 5.56 Uhr weckt mich Kian und fragt, ob wir schon in Wien sind. Wir aber stehen irgendwo im österreichischen Nirgendwo. Der Zug hat unterwegs 150 Minuten Verspätung eingefahren. Eigentlich wären wir morgens um 7 Uhr angekommen, jetzt wird es fast 10 Uhr sein, bis wir den Wiener Hauptbahnhof erreicht haben. Das ist aber egal, denn der Schaffner bringt aufgebackene Brötchen mit Erdbeerkonfitüre ins Abteil. Gegen 11 Uhr sind wir dann in der «Superbude» direkt am Prater, unserer Unterkunft für eine Nacht. Das kürzlich eröffnete Hotel heisst wirklich so – und ist vor allem wirklich so, wie es heisst: super.

Eigentlich wollen wir vor dem Mittag das Naturhistorische Museum besuchen, weil dort Dinosaurier ausgestellt sind, aber Kian will dann lieber im gegenüberliegenden Burgpark Verstecken spielen, was mir auch recht ist. Ein bisschen Bewegung nach 14 Stunden im Zug tut gut. Und ein bisschen essen tut noch besser. Wir sind mit Isabella Rauter von Wien Tourismus verabredet und schlemmen im berühmten «Palmenhaus», es gibt, logisch, Wiener Schnitzel und Sachertorte.

Im Zug hatte mich Kian wörtlich gefragt, ob den Menschen in Wien Lego wohl bekannt seien. Falls ja, wolle er mit den 14 Euro und 24 Cent aus seinem Sparschwein eines kaufen. Ich frage bei Isabella nach, die selbst zwei Kinder hat. Sie lacht laut auf und schickt uns dann in die Mariahilfer Strasse, die grösste Einkaufsstrasse der Stadt. Im Kaufhaus Gerngross erfüllen sich Kians Träume. Die Lego-Auswahl ist leiwand, wie die Wienerinnen und Wiener sagen würden – grossartig. Kian kauft sich ein Drachenfahrzeug. Mit der U-Bahn fahren wir zurück in die Bude. Er baut Lego auf, ich nicke kurz ein. Dann geht es auf den Wurstelprater.

«Papa, das sind so schöne Ferien mit dir»

Im gigantischen, weltberühmten Vergnügungspark gibt es Achterbahnen, Schokoladenfrüchte, Trampoline, Kletterhäuser, Karusselle, Schiessbuden und sonst noch alles, was man sich an so einem Ort vorstellen kann. Wir spielen Airhockey, machen ein paar Fahrten auf ein paar Bahnen, wagen uns in die Unterwasserwelt vom «Eisberg», kicken in ein Gerät, das misst, wie stark man schiessen kann. Kian lässt sich auf dem Swing-Trampolin in die Höhe ziehen und fährt mit kleinen Rennautos über einen Rundkurs. Irgendwann schaut er mich an und sagt: «Papa, das sind so schöne Ferien mit dir.» Am Abend isst er im grössten Bio-Restaurant der Welt, dem «Kolarik», ein «tanzendes Würstel», eine Art Cervelat. Im Garten hat es drei Hüpfburgen. Und zum Dessert gibt es: Sachertorte, schon wieder.

Kian, was findest du so gut an Sachertorte?
Dass sie Schokolade drin hat und feine Konfitüre.
Wie fühlst du dich?
Gut, nicht müde.
Wie findest du Wien bisher?
Gut. Der Prater hat recht coole Bahnen. Die Unterwasserwelt im «Eisberg» war ein bisschen furchteinflössend.
Würdest du nochmal nach Wien kommen?
Ja!
Wieso?
Weils so cool ist. Und wenn man auf dem Swing-Trampolin die Weste ausziehen würde, würde es einen in den Himmel schiessen.

Kurz nach 21 Uhr sind wir zurück im Hotel. Kian fällt innert Sekunden in den Tiefschlaf. Bis am nächsten Morgen um 8 Uhr macht er keinen Pieps mehr. Nach heisser Schokolade und Croissant machen wir uns am nächsten Morgen mit der U-Bahn auf nach Schönbrunn. Überhaupt sind wir ständig mit der U-Bahn unterwegs. Irgendwann sagt Kian: «Ich möchte gerne in einer Stadt mit U-Bahn leben.» Ich stimme zu.
Schönbrunn ist imposant. Und im ältesten Zoo der Welt, dem Tiergarten, verbringen wir einen rundum glücklichen halben Tag. Wir sehen Pandas, Giraffen, Erdmännchen, Eisbären, Braunbären, Pinguine, alles, was das tierinteressierte Herz begehrt. Wir marschieren über den wackligen Baumkronenpfad und schauen von dort auf die Stadt herab. Ich fühle mich dem Himmel nah, etwa so wie Kian gestern auf dem Swing-Trampolin. Beim Mittagessen reflektieren wir das Erlebte.

Kian, wie findest du diesen Zoo?
Gut. Es hat coole Tiere. Und ich finde es auch sonst recht cool.
Was gefällt dir am besten?
Die Pandas. Und der Löwe!

Schönbrunn ist imposant, und auch unglaublich weitläufig. Wir bewundern das aberwitzig grosse Schloss (1441 Zimmer!), beobachten die vielen Touristen, dann gehen wir in den Irrgarten. Kian und ich machen an diesem Tag mehr als 25’000 Schritte, und nie jammert jemand. Beim Gehen hüpft mein Sohn sogar immer wieder mit angezogenen Beinen in die Luft. Es sind Freudensprünge, ich bin sicher.
Bevor wir uns wieder auf den Weg an den Bahnhof machen müssen, ist noch einmal Wurstelprater angesagt, Kian wünscht sich sehnlichst ein paar weitere Stunden im Vergnügungspark, und ich ehrlich gesagt auch. Wir fahren mit der alten Hochschaubahn und mit der legendären «Wilden Maus», einer Achterbahn mit engen Kurven ohne Überhöhung und Übergangsbogen. Beim Fahren entsteht so der Eindruck, dass der Wagen aus der Kurve getragen wird oder man über die Kurve hinausschiesst. Kian quietscht vor Freude, während sein Vater neben ihm fast in die Hosen macht. Mit den letzten Sonnenstrahlen lässt sich Kian dann noch einmal auf dem Swing-Trampolin ganz nah an den Himmel schwingen.

Man kann sehr schnell sehr viel Geld ausgeben in diesem Park, ja. Man muss aber nicht. Rings um die unzähligen Fahrgeschäfte auf dem Wurstelprater gibt es in dem Quartier sehr viele sehr gepflegte Grünflächen und richtig, richtig tolle Spielplätze mit unkonventionellen Spielgeräten, wie überall in Wien übrigens. In den gut 36 Stunden in der Stadt habe ich mindestens 25 Orte gesehen, an denen ich mit Kindern gerne viel Zeit verbringen würde. Wien ist definitiv eine der kinder- und elternfreundlichsten Grossstädte Europas, landet in entsprechenden Studien immer wieder auf den vordersten Plätzen.

Kurz nach 21 Uhr steigen wir wieder in den Nachtzug, unsere Zeit in Wien ist abgelaufen. Diesmal erwischen wir einen modernen österreichisch-schweizerischen «Nightjet». Hier drin ist alles piekfein, nur ist das Zweierabteil nicht einmal halb so gross wie im ungarischen Modell, man kann sich ungelogen kaum um die eigene Achse drehen, unser kleiner Koffer passt nur geöffnet unters Bett, es gibt keinerlei Abstellflächen. Kian sagt, er habe sich den «Nightjet» anders vorgestellt, mit «etwa zwei Metern» Platz, und das hier sei «nicht mal ein halber Meter». Das ist aber einmal mehr egal, weil wir es zusammen schön haben.

Was wirklich zählt: Der Wackelzahn

Minuten nach der Abfahrt schläft Kian ein und dann durch bis am nächsten Morgen um 7.30 Uhr. Ich muss ihn wecken, als der Schaffner das Frühstück bringt. Verschlafen gibt er ein letztes Interview, bevor wir in Zürich ankommen und gegen Mittag zurück zu Hause im Berner Seeland sind.

Kian, wie war deine Nacht?
Gut.
Was war gut?
Ich bin einfach plötzlich eingeschlafen, das war cool.
Wie findest du dein Bett?
Mittelgut. Bequem, aber ein bisschen eng. Und wie hast du geschlafen, Papa?
Nicht schlecht, Danke. Freust du dich auf Zuhause?
Ja.
Wieso?
Weil dann mein Wackelzahn rausfällt.

Ein paar Tage später fällt Kians Wackelzahn tatsächlich aus. Wien ist auch Monate nach der Reise ein grosses Thema für uns. Eines Abends vor dem Einschlafen versuchen wir gemeinsam, den Weg auf die Plattform im Irrgarten Schönbrunn zu rekonstruieren. Kian ist sicher, dass er ihn noch weiss. Wir wollen bald vor Ort prüfen, ob er Recht hat.

Die Reisenden

Fabian Sommer (42) ist Chefredaktor des inspirierenden «Globetrotter Magazins», in dem dieser Artikel zuerst erschienen ist (Danke!). Er lebt in Brügg bei Biel und hat zwei Söhne: Kian (mittlerweile 7) und Quin (4). Er versucht, so oft wie möglich mit ihnen auf Reisen zu sein, auf ganz kleinen und ganz grossen, im Kopf und im Leben. Nach Wien fuhren Kian und er auf Einladung von Wien Tourismus.
wien.info