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«Vorschulkinder sollten sich täglich drei Stunden bewegen»

Wie kommen unsere Kinder zu genug Bewegung? Antworten von Benjamin Abplanalp von IdéeSport, jener Stiftung, die Turnhallen für alle öffnet.
5 Nov 2019
Bilder — Christian Jaeggi (IdéeSport)

Benjamin Abplanalp* arbeitet bei der Stiftung IdéeSport, die unter anderem die Programme MiniMove, OpenSunday und MidnightSports anbietet. Diese Programme öffnen Turnhallen und ermöglichen Kindern und Jugendlichen, sich betreut und kostenlos sportlich auszutoben. In Bern laufen zurzeit 10 solcher Programme, schweizweit insgesamt 161. 

Unsere Kinder haben eine zeitlang am liebsten zuhause gespielt, und wenn sie im Winter draussen waren, wollten sie gleich wieder heim – sie hatten wohl kaum genug Bewegung. Was empfehlen Sie da?
Erst einmal: Jedes Kind ist anders! Es ist natürlich wichtig, den individuellen Wünschen des Kindes Rechnung zu tragen, oft sind es ja auch Phasen, die kommen und gehen. Klar, sich draussen zu bewegen ist wichtig und kann nicht einfach ersetzt werden, aber auch zuhause ist ganz viel Bewegung möglich!

Was ist denn eine ideale «Bewegungmenge» für ein Kind?
Wir von IdéeSport stützen uns auf die Empfehlungen der WHO und des Bundesamts für Gesundheit. Vorschulkinder sollten sich demnach rund drei Stunden täglich mit mittlerem bis maximalem Intensitätsniveau bewegen. Dazu gehören auch Spaziergänge mit Hüpfen, Klettern, einem Ballon nachjagen, Tanzen und für Kleinere auch Treppensteigen. Schulkinder brauchen noch etwa eineinhalb Stunden Bewegung pro Tag, Teenager mindestens eine Stunde.

«Wenn kleine Kinder kochen helfen und sie zehnmal den Schemel hoch- und runtersteigen müssen, ist das für sie eine grosse Leistung.»

Das klingt nach sehr viel. Wie soll man denn das schaffen, wenn die Kinder nicht extrem sportbegeistert sind?
Der einfachste Weg ist es, Bewegung in den Alltag zu integrieren. Man kann sich beispielsweise entscheiden, das Kind beim Putzen miteinzubeziehen, anstatt es fernsehen zu lassen. Wenn kleine Kinder kochen helfen und sie zehnmal den Schemel hoch- und runtersteigen müssen, ist das für sie eine grosse Leistung. Einkäufe zu versorgen oder Dinge einzuräumen macht vielen Kleinkindern Spass und ist manchmal für die Eltern sogar eine Entlastung. Manchmal liegt es aber auch nicht drin, weil der Aufwand zum wieder Aufräumen zu hoch ist. Das muss jede Familie für sich selber abwägen. Aber auch spielerisch ist zuhause viel möglich. Das Gesundheitsförderungsprojekt Paprica hat ganz viele gute Bewegungstipps für die verschiedenen Altersgruppen zusammengestellt: 0-9 Monate, 9-18 Monate, 18 Monate bis 2,5, 2,5 Jahre bis 4 Jahre und 4 bis 6 Jahre (verfügbar in 8 Sprachen!).

Warum brauchen Kinder so viel Bewegung?
Studien in diesem Gebiet sind schwierig durchzuführen, weil ja keine Kontrollgruppe vorhanden ist, die sich gar nicht bewegt (lacht). Wichtig zu wissen ist, dass Kinder einen natürlichen Bewegungsdrang haben, weil sie lernen wollen. Der grösste Teil des Lernens im Kleinkindalter ist mit Bewegung verbunden, Spiel und Bewegung sind eins. Wenn Kinder die Möglichkeit zur Bewegung nicht haben, wird also ein natürliches Bedürfnis unterdrückt. Das führt dazu, dass Kinder ungeduldig werden und ihr allgemeines Wohlbefinden abnimmt. Studien zeigen, dass Bewegung auch die geistige und psychische Entwicklung fördert, darum wäre auch in der Schule regelmässige Bewegung angebracht. Zwei Lektionen Sport pro Woche reichen da leider nicht aus.

«Wenn Kinder die Möglichkeit zur Bewegung nicht haben, wird ein natürliches Bedürfnis unterdrückt.»

Bewegen sich die heutigen Kinder zu wenig? Und wenn ja, warum?
Ja, wir bewegen uns zu wenig. Eine Längsschnitt-Studie aus Deutschland zeigt, dass sich rund 80 Prozent der 4- bis 17-Jährigen zu wenig bewegen, Mädchen noch weniger als Buben. Die Gründe dafür sind vielfältig: Einerseits hat sicher die Bildschirmnutzung einen Einfluss, andererseits das verlangte ruhige Arbeiten in der Schule. Sobald die Kinder in der Schule sind, wird oft auch von den Eltern erwartet, dass die Kinder zuhause länger stillsitzen. Dazu kommt unser dichtes Alltagsprogramm sowie gerade in den Städten der fehlende Raum für Bewegung, insbesondere in den Wintermonaten. Genau hier setzt IdéeSport mit seinem Angebot der offenen Turnhallen an.

Hat das Bewegungsangebot für die Kinder nicht auch etwas mit den finanziellen Möglichkeiten des Elternhauses zu tun?
Finanziell schwächer gestellte Familien haben weniger Zugang zu kostenpflichtigen Angeboten wie beispielsweise Vereinen, Indoor-Spielplätzen oder Wintersport – die sind ja auch für Familien des Mittelstands teilweise schon fast unerschwinglich. Bei IdéeSport erhalten wir viele Rückmeldung, dass unsere Angebote besonders geschätzt sind, weil sie gratis sind und sogar ein Zvieri inbegriffen ist. Gerade Leute mit Migrationshintergrund kennen die vorhandenen Bewegungsangebote auch weniger oder stehen vor Sprachbarrieren. Wir probieren dem entgegenzuwirken, indem wir für die offenen Turnhallen jugendliche Coaches unterschiedlicher Herkunft zu gewinnen versuchen und unsere Flyer mehrsprachig gestalten.

«Ich finde es schade, dass bei vielen Sportarten die Selektion so früh beginnt.»

Erreichen Sie die angestrebte Zielgruppe mit ihrem Angebot? Und was wollen Sie noch erreichen?
Wir machen regelmässig Erhebungen, und die Rückmeldungen sind sehr positiv. Bei den Open Sundays schätzen die Kinder, dass sie spielen und «ihre» Sportart ausüben können, dass sie andere Kids treffen und «weil es sonst am Sonntag Nachmittag im Winter langweilig ist». Beim Mini Move erhalten wir von den Eltern das Feedback, dass sie froh sind, einen Ort zu haben, wo man im Winter hinkann, und dass das Angebot sehr niederschwellig ist. Viele schätzen es aber auch, andere Familien zu treffen. Unser Ziel ist es, möglichst viele Kinder zu erreichen, bis 2021 wollen wir ausserdem an allen OpenSunday-Standorten inklusiv sein, das heisst, das bestehende Angebot soll auch für Kinder mit Beeinträchtigung geöffnet werden.

Unsere Vorschulkinder möchten bereits zum Fussballtraining. Was halten Sie davon, schon so früh mit einer spezifischen Sportart zu beginnen?
Bei unseren offenen Turnhallen sind die Kinder jeweils sauer, wenn es keine Möglichkeit gibt, um Fussball zu spielen. Dieses Spiel hat einfach eine besondere Anziehungskraft (lacht). Ich persönlich finde, dass es für Kinder sinnvoll ist, sie möglichst breite sportliche Erfahrungen machen zu lassen und sie zu animieren, Unterschiedliches auszuprobieren. Aber klar, Fussball zu verbieten, ist auch  nicht sinnvoll. Ich finde es schade, dass bei vielen Sportarten die Selektion so früh beginnt. Ein gutes Angebot im Breitensport ist nötig, damit sich alle Kinder sportlich das holen können, was sie möchten.

Sport und Bewegung für alle

Die Stiftung IdéeSport engagiert sich im Bereich der Kinder- und Jugendförderung. Sie nutzt Sport als Mittel der Suchtprävention, der Gesundheitsförderung und der gesellschaftlichen Integration. Mit ihren Programmen öffnet IdéeSport leerstehende Räume für Sport und Bewegung und schafft damit Voraussetzungen für regelmässige Begegnungen über kulturelle und gesellschaftliche Grenzen hinweg.

*Benjamin Abplanalp

Der Sozialpädagoge ist Projektmanager bei der Stiftung IdéeSport und koordiniert Kinder- und Jugendprojekte in Bern. Zuvor leitete er eine Tagesschule. Nebenbei engagiert sich der zweifache Familienvater als Unihockeytrainer in Olten.