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Kinder mit ADHS: Das hilft in der Schule

ADHS im Schulalltag ist eine Herausforderung. Was können Lehrpersonen und Eltern tun, um Kinder mit ADHS zu unterstützen?
27 Okt 2022
Bilder — Vecteezy

Gibt es in eurem Umfeld auch ein Kind mit ADHS? Bei rund 5 Prozent aller Kinder ist die Ausschüttung und Aufnahme von Botenstoffen im Gehirn nicht im Gleichgewicht. ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) zeigt sich durch Probleme mit der Aufmerksamkeit, Impulsivität und Selbstregulation; manchmal kommt zusätzlich körperliche Unruhe hinzu. Gleichzeitig verfügen Menschen mit ADHS oft über eine ansteckende Begeisterungsfähigkeit, einen grossen Ideenreichtum und eine starke kreative Energie (hier eine Übersicht über die häufigsten Symptome). Die daraus resultierenden Verhaltensweisen sorgen in einem Schulumfeld, das viel standardisiertes, ruhiges und selbständiges Arbeiten verlangt, häufig für Schwierigkeiten.

ADHS und Schule: Die Konzepte sind vorhanden – doch was ist mit der Umsetzung?

Aber bevor eine (oder mehrere) medizinische Diagnose allenfalls etwas Licht in die Verhaltensauffälligkeiten oder Lernprobleme eines Kindes bringt, durchlaufen Eltern und Kinder oft eine lange Odyssee aus Verunsicherung, Schuldgefühlen, Verzweiflung und Ohnmacht. Denn obwohl durchschnittlich in jeder Schulklasse ein Kind mit ADHS sitzt, scheint das Wissen um ADHS im Schulalter und die Kenntnisse, wie solche Kinder am besten begleitet werden, noch nicht an allen Stellen angekommen zu sein. Und das, obwohl in den kantonalen Volksschulgesetzen klar geregelt ist, wie Lernende mit besonderem Förderbedarf im Schulumfeld unterstützt werden können! Während der Recherche für diesen Beitrag traf ich auf verunsicherte Eltern, die sich die nötigen Informationen mühsam zusammenklauben müssen, aber auch auf problematische Beispiele von Äusserungen von Lehrpersonen gegenüber Eltern von Kindern mit ADHS – hier drei davon:

  • «Das ADHS hast Du, weil Deine Mutter während der Schwangerschaft geraucht hat.»
  • «Sie überlegen sich eine Medikation? Soweit sind wir doch noch lange nicht. Wissen Sie, da kann auch viel mit der richtigen Ernährung erreicht werden!»
  • «Sie müssen halt mit dem Kind mehr an die frische Luft.»

Wir möchten mit dem Interview mit Alice Caduff Scheuner, schulische Heilpädagogin und Fachfrau für integrative Förderung (IF), dazu beitragen, diese Wissenslücke etwas zu schliessen.

Frau Caduff, ich hörte bei der Recherche zu diesem Interview mehrfach, dass  Lehrpersonen im Umgang mit ADHS oft überfordert sind oder nur über Halbwissen verfügen. Wie erleben Sie die Situation?
Ich erlebe es sehr unterschiedlich. Es gibt viele Lehrpersonen, die im Umgang mit ADHS sehr klar und engagiert sind, die Kinder geduldig und wertschätzend begleiten, offen kommunizieren und sich Hilfe holen, sobald sie nicht mehr weiter kommen.

Andererseits begegne ich noch immer zu vielen Lehrpersonen, die hilflos und überfordert sind, wenn ein Kind impulsiv und unkonzentriert ist oder solche, die wenig Vorwissen zu ADHS haben. Vereinzelt höre ich Aussagen wie: «Dieses Kind muss doch funktionieren, das geht so nicht in dieser grossen Klasse» oder «Wir schalten die Erziehungsberatung ein, dann ist das Problem gelöst.» Lehrpersonen, die ihren Job bezüglich Kindern mit erhöhtem Unterstützungsbedarf nicht machen, gibt es aber zum Glück nur ganz wenige.

«Die zentrale Frage ist, ob das Kind, die Familie oder die Klasse darunter leiden. Der Leidensdruck bestimmt, ob weitere Massnahmen nötig sind.»

Wenn nun eine Lehrperson einen Verdacht hat, dass bei einem Schulkind ein ADHS vorliegen könnte, was empfehlen Sie da?
Zuerst sollten wir uns als Fachpersonen überlegen: Brauchen wir die Diagnose? Ich als Heilpädagogin benötige beispielsweise keine Diagnose, um mit einem Kind individuell zu arbeiten – für gewisse weitere Hilfestellungen ist aber eine solche nötig. In einem zweiten Schritt empfehle ich das Gespräch mit anderen Lehrpersonen zu suchen, und sie zu fragen, welche Beobachtungen sie machen. Anschliessend gilt es, die Eltern hinzuzuziehen: Ihnen kann die Lehrperson erzählen, was sie in der Schule beobachtet und nachfragen, ob das zuhause auch so ist und ob das Verhalten neu oder schon länger besteht. Schliesslich ist die zentrale Frage, ob das Kind, die Familie oder die Klasse darunter leiden. Der Leidensdruck bestimmt, ob weitere Massnahmen nötig sind.

Wie kann sich denn so ein Leidensdruck zeigen?
Manche Kinder «funktionieren» in der Schule, zeigen aber zuhause aggressives Verhalten oder sind sehr erschöpft. Diese Kinder reissen sich in der Schule ganz fest zusammen und brauchen dann zuhause ein Ventil. Oder es gibt Schwierigkeiten im sozialen Bereich, die Kinder stossen mit ihrem Verhalten auf Unverständnis und tun sich sehr schwer damit, Freunde zu finden. Was oft vorkommt ist auch, dass Kinder mit ADHS Leistungen erbringen, welche deutlich unter ihrem Potential liegen, was dann zu grossem Frust führt.

Was sind die nächsten Schritte, wenn Leidensdruck besteht?
Seit Beginn des Jahres 2022 ist das Verfahren im Kanton Bern einheitlich geregelt: Schule und Eltern können sich gemeinsam an die kantonale Erziehungsberatungsstelle (EB) wenden, dies läuft über einen Schulbericht, der von den Eltern mitunterschrieben wird. Die zuständige EB führt dann mit dem Kind ein standardisiertes Abklärungsverfahren durch: Nach einem Einstiegsgespräch mit den Eltern folgen Tests zu den kognitiven Fähigkeiten des Kindes, dessen Wahrnehmung und Konzentration. Dabei fliessen auch die Beobachtungen der Lehrpersonen und Eltern ein. Daraus kann dann eine Vordiagnose resultieren, beispielsweise ein «Verdacht auf ADHS».

ADHS_Neurotransmitter

Und was geschieht nach einer solchen Vordiagnose?
Die Erziehungsberatung kann bereits bei «Verdacht auf ADHS» zusätzliche schulische Massnahmen auslösen. In den meisten Fällen  macht aber eine vertiefte Abklärung bei einer Kinderpsychiaterin oder einem Kinderarzt Sinn, nur diese können eine medizinische Diagnose stellen. Es kann auch der umgekehrte Weg beschritten werden: Die Kinderärztin, der Kinderarzt diagnostiziert ein ADHS, danach wird die EB einbezogen. Um zusätzliche Unterstützungsmassnahmen in der Schule auslösen zu können, braucht es den Weg über die Erziehungsberatung.

«Es gilt herauszufinden: Was braucht das Kind, was hat sich bewährt? Aber auch: Was braucht die Klasse? Und die Lehrperson?»

Was sollte dann in einem ersten Gespräch an der Schule nach einer ADHS-Diagnose geklärt werden?
Zuerst gilt es herauszufinden, welche Massnahmen bereits getroffen wurden, sei es in der vorherigen Klasse oder in der Familie. Wer ist bereits involviert? Was braucht das Kind, was hat sich bewährt? Es geht also darum, eine Ist-Analyse durchzuführen. Die Eltern sind dabei eine sehr wichtige Ressource, sie wissen meistens recht gut, was das Kind braucht, damit es sich wohlfühlen und lernen kann. Dann gibt es die andere Seite: Was braucht die Klasse? Und die Lehrperson? Ganz wichtig ist es aus meiner Sicht, die Verantwortung zu klären zwischen Lehrperson, Heilpädagogik- und anderen FachspezialistInnen sowie den Eltern und der Schülerin, dem Schüler selbst.

Welche Fragen von Eltern von Kindern mit ADHS begegnen ihnen immer wieder?
Die meisten Eltern möchten wissen, wie sie als Eltern das Kind unterstützen können, was sie anders machen können. Und dann kommen konkrete Fragen: Welche Unterstützungsmöglichkeiten gibt es in der Schule? Wie können wir die Hausaufgaben organisieren, damit es nicht zu einem täglichen Drama kommt? Wie können wir dafür sorgen, dass das Material zuverlässig in die Schule und wieder zurück kommt? Und welche Strategien gibt es für die Kinder, um sich selber zu überprüfen?

Sind Sie auch mit Ängsten von Seiten der Eltern konfrontiert?
Ja, teilweise sind auch Unsicherheiten vorhanden: Wie gehen wir mit der Diagnose um? Oder wie informieren wir das Kind? Und die Klasse? Gewisse Eltern möchten beispielsweise nicht, dass ihr Kind von der Diagnose erfährt.

«Ich staune sehr, wieviele Kinder nicht informiert werden, was genau ADHS ist.»

Und die Schülerinnen und Schüler selbst – welche Fragen hören Sie von diesen?
Die meisten Kinder haben kaum Fragen. Da höre ich oft: «Ah ja, ich weiss jetzt, warum ich mich nicht so gut konzentrieren kann» oder «Wegen meinem ADHS haben mich die anderen nicht so gerne». Ich staune sehr, wieviele Kinder nicht informiert werden, was genau ADHS ist. Viele betroffene Kinder – auch in der Oberstufe – wissen nicht, was da in ihrem Gehirn passiert.

Was könnte denn diesen Kindern helfen?
Da ist Psychoedukation zentral! Psychoedukation ist der Versuch, komplizierte medizinisch-wissenschaftliche Fakten so zu übersetzen, dass sie von Betroffenen und deren Angehörigen gut verstanden werden. Eine meiner ersten Fragen an ein Kind mit ADHS-Diagnose ist jeweils, ob es weiss, was das ist. Eigentlich sollte ja der Arzt oder Ärztin diese Aufklärung machen und auch erklären, was allfällige Medikamente bewirken, da besteht aber noch einiges an Aufholbedarf.

Als Heilpädagogin arbeite ich bezüglich der Aufklärung viel mit der ganzen Klasse: Ich bespreche mit den Kindern, was Lernen ist, und spreche über Neurologie und die Abläufe im Gehirn. Dazu gibt es viele Bücher und Filme und sogar gefilzte Hirne und Plüschneuronen!

Und wenn ein Kind darauf nicht eingeht?
Wenn ein Kind noch nicht bereit ist, ist es trotzdem wichtig, es regelmässig wieder zu probieren oder allenfalls weitere Fachpersonen beizuziehen. Einmal sagte mir ein Schüler mit ADHS: «Sie hätten es mir besser nicht erzählt, was in meinem Hirn passiert. Ich habe jetzt immer das Gefühl, dass mein Stirnhirn ausgeschaltet ist.» Da habe ich gemerkt, dass ich bei diesem Kind etwas angestossen habe. Wir haben dann gemeinsam angeschaut, welche Aufgaben sein Stirnhirn im Alltag löst und er war überrascht, wie intensiv sein Stirnhirn arbeitet. Mit den Filz-Hirnen hat er dann im Selbstgespräch kleine Kämpfe durchgeführt. So konnten wir zusammen nach Ideen suchen, wie er es schafft, dass sein Stirnhirn das Echsenhirn in die Schranken weist. (Die Filzhirne verkörpern das für Aufmerksamkeitssteuerung und bewusste Planung zuständige Stirnhirn sowie das für unwillkürliche Flucht- und Kampfreaktionen verantwortliche «Echsenhirn» (Stammhirn); Anm. d. Red.).

Und was können Eltern tun in Sachen Psychoedukation?
Auch hier gilt: «Steter Tropfen höhlt den Stein.» Zuerst können sie einfach einmal einen Anlauf nehmen und beispielsweise mit einem Bild oder einer Geschichte arbeiten. Die Organisation elpos (Schweizerischer Elternverein für ADHS-Betroffene) stellt auch viele Materialien und Informationen zur Verfügung. Das Buch «Mein Grosser Bruder Matti» eignet sich zum Beispiel sehr gut auch für jüngere Geschwister von Kindern mit ADHS. Das Bild des Pöstlers, die zwischen den Neuronen herumflitzen, finde ich dort besonders gelungen.

Sie haben es oben erwähnt: Mit einer Diagnose gibt es weitere Möglichkeiten zur schulischen Unterstützung für Kinder mit ADHS. Welche sind das?
Genau. In den entsprechenden Verordnungen zur Sonderpädagogik der Kantone ist klar geregelt, wie die individuelle Förderung von SchülerInnen mit besonderem Förder- und Bildungsbedarf abläuft. Im kantonalbernischen Stufenmodell beispielsweise, werden unterschiedliche Arten der Förderung abgebildet. Wichtig: Ein grosser Teil der Unterstützung erfordern keine medizinische Diagnose! So sind beispielsweise Interventionen in Logopädie, Heilpädagogik und Psychomotorik bis zu einer Dauer von 4 Semestern möglich ohne Diagnose. Für Kinder mit ADHS (und anderen Störungen oder Behinderungen) wird dann innerhalb der vierten Stufe des Modells erweiterte Unterstützung angeboten. Da gibt es unter anderem das Anrecht auf angepasste Rahmenbedingungen (auch Nachteilsausgleich genannt, hier die Übersicht über die entsprechenden Bestimmungen in allen Kantonen) oder auf Spezialunterricht. Ein Nachteilsausgleich ist die Möglichkeit, beispielsweise für einen Test mehr Zeit zur Verfügung zu haben oder einen Text am Computer statt von Hand zu schreiben. Ein solcher ist übrigens bis zum Ende der Ausbildung möglich, das heisst auch Berufsschulen oder Universitäten gewähren Nachteilsausgleiche!

«ADHS-Betroffene sind stark auf eine gute Beziehung mit der Lehrperson angewiesen.»

Was ist für das schulische Lernen von ADHS-Kindern sonst noch wichtig?
Damit Kinder gut lernen können, ist eine gute persönliche Beziehung zur Bezugsperson wichtig. ADHS-Betroffene sind noch viel stärker auf eine gute Beziehung mit der Lehrperson angewiesen, sie sind oft sehr feinfühlig und spüren darum genau, ob ihr Gegenüber wohlwollend ist. Mir sagte einmal eine 8-jährige Schülerin, die in der Schule ein sehr herausforderndes Verhalten zeigte, nachdem ich mit ihr etwa 4 Wochen gearbeitet hatte: «Ich habe Dich gerne, weil Du an mich glaubst».

Inwiefern verändern sich die Herausforderungen, wenn betroffene SchülerInnen älter werden?
In Unterstufe fällt ein ADHS oft mehr auf, weil die Kinder zappelig sind oder sehr aufbrausend. In der Oberstufe haben viele ihre Impulsivität besser im Griff, dann ist es vorwiegend eine Frage der Organisation. Der aktuelle Lehrplan erfordert sehr viel selbstorganisiertes Lernen, das kann eine grosse Herausforderung sein. Da gilt es dann, eine Mischung zu finden aus Selbständigkeit und mehr Leitplanken für betroffene Kinder.

«Viele Lehrbetriebe sind offen, weil sie bereits Erfahrung mit Lernenden mit ADHS haben und merken, dass das oft supertolle Lernende sind.»

Wie sieht es denn nach dem Ende der obligatorischen Schulzeit aus für Jugendliche mit ADHS?
Ich bin momentan an einer Oberstufe tätig, da kommen viele Fragen zum Übertritt in die Berufswelt, beispielsweise: «Sollen wir den Lehrbetrieb über das ADHS informieren?» Ich rate da immer zur Offenheit, weil gewisse Verhaltensweisen kaum zu verbergen sind. Viele Lehrbetriebe sind offen, auch weil sie bereits Erfahrung mit Lernenden mit ADHS haben und merken, dass das oft supertolle Lernende sind und eine grosse Bereicherung fürs Team – das «Schreckensgespenst ADHS» ist vielerorts Geschichte. Und wenn dem Betrieb die Diagnose bekannt ist, wird meistens Hilfe angeboten. Wenn nicht, drohen rasch mal Konsequenzen, falls beispielsweise eine Lernende mehrmals zu spät kommt. Aktuell habe ich den Eindruck, dass die Lernenden – vielleicht auch wegen dem Fachkräftemangel – generell sehr gut betreut werden. Auch die Berufsschule ist gut auf Menschen mit ADHS vorbereitet.

Bei der Berufswahl gibt es für Jugendliche mit erhöhtem Unterstützungsbedarf durch die Berufsberatung- und Informationszentren BIZ gute Angebote und bei ausgeprägtem ADHS ist die Invalidenversicherung Anlaufstelle.

Eigentlich sind also viele Unterstützungsmechanismen vorhanden – was denken Sie, steckt dahinter, wenn dieses Wissen nicht bis zu den Betroffenen kommt?
Da gibt es wohl verschiedene Faktoren – sicher spielt der Zeitmangel eine wichtige Rolle. Die Schule übernimmt heute so viele Aufgaben, dass es oft an zeitlichen Ressourcen fehlt, um sich da auch noch zu vertiefen. Dann ist auch der Fachkräftemangel ein wichtiges Element. Jede Schule hat eine Verantwortliche, einen Verantwortlichen für Spezialunterricht, aber immer seltener ist dies eine Heilpädagogin/ein Heilpädagoge. Ich erlebe oft, dass dies für Schulleitende einfach zusätzlich zu allen anderen Aufgaben kommt. Damit kann das Thema schon mal in der Prioritätenlisten nach unten rutschen. Das hat dann auch zur Folge, dass die eigentlich vorhandenen Angebote nicht transparent kommuniziert werden, weder gegenüber den Lehrpersonen noch gegenüber SchülerInnen und Eltern. Zusätzlich ist aktuell im Kanton Bern auch sehr viel im Umbruch (Umsetzung Lehrplan 21 und Revision des Volksschulgesetzes bezüglich der Sonderpädagogik), das führt zu neuen Bezeichnungen und Abläufen, die noch nicht klar sind.

«Die aktuelle Situation ist nicht nur eine Überforderung der Lehrpersonen, sondern auch der Kinder! Das liegt aber nicht am integrativen Modell, sondern an den Rahmenbedingungen.»

Gerade jetzt im Zuge des Lehrpersonenmangels sprechen gewisse Stimmen von einem Versagen des integrativen Schulmodells und dass es für eine Lehrperson kaum möglich sei, so viele unterschiedliche Bedürfnisse abzudecken. Was halten Sie davon?
Es ist nicht nur eine Überforderung der Lehrpersonen, sondern auch der Kinder! Das liegt aber nicht am integrativen Modell, sondern an den Rahmenbedingungen. Die Integration funktioniert in den meisten Fällen, wenn es genügend gut ausgebildete Fachkräfte hat, welche mit den entsprechenden Ressourcen ausgestattet sind. Ein Beispiel: 2010 begann ich mit der Integration von SchülerInnen mit einer Autismusspektrumsstörung (ASS) in Regelklassen. Damals erhielt ein solches Kind wöchentlich 14 Lektionen Begleitung durch eine IF (integrative Förderung)-Fachperson zugesprochen. Heute sind es nur noch 4 Lektionen! Das kann so nicht klappen…

Es ist auch nahezu unmöglich, eine Klasse mit 26 ErstklässlerInnen, wovon vielleicht zwei Kinder ein ADHS und eines eine ASS haben, zu managen und zu allen eine gute Beziehung aufzubauen. Leider wird das aber an gewissen Orten von den Lehrpersonen erwartet. Enge räumlichen Verhältnisse erschweren darüber hinaus das Schaffen eines guten Lernklimas.

Was wäre denn aus Ihrer Sicht ein Lösungsweg?
Es braucht dringend Entlastung der Lehrpersonen durch den Kanton! Wir müssen wieder zurück zu kleineren Klassen oder vermehrt zwei Lehrkräfte an einer Klasse gleichzeitig unterrichten lassen. Für die neu eingeführten Basisstufen sind etwas mehr Ressourcen vorhanden, das wäre eigentlich der richtige Weg für alle Stufen. Zusätzlich braucht es eine bessere Aus- und Weiterbildung der Lehrpersonen im Bereich «besonderer Förder- und Bildungsbedarf». Viele junge Lehrpersonen kommen von der Pädagogischen Hochschule und kennen die Theorie, sind dann aber in der Praxis rasch überfordert.

Und auf der Ebene der einzelnen Lehrperson?
Wichtig finde ich eine gewisse Gelassenheit und das Vertrauen, dass es gut kommt. Eine entsprechende Haltung der Lehrperson ist ebenso wichtig wie die nötigen Ressourcen: Weg von der Defizitorientierung, hin zu einer Fokussierung auf die Stärken eines Kindes! In gewissen Fächern kann eine Lehrperson halt mal auch ein Thema weglassen und dafür die überfachlichen Kompetenzen fördern. Fachwissen kann sich ein Kind auch später noch erarbeiten – auf Kompetenzen wie beispielsweise Selbständigkeit, Teamfähigkeit oder Verantwortungsbewusstsein kommt es später im Berufsleben an!

Ebenso relevant ist eine feinfühlige Kommunikation durch die Lehrpersonen, damit es nicht zu solchen Beispielen kommt wie oben erwähnt. Auftrittskompetenz und Kommunikationsfähigkeiten sollten in der Ausbildung der Lehrpersonen eine zentrale Rolle spielen!

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Alice Caduff Scheuner

Als schulische Heilpädagogin hat sie vielfältige Erfahrungen mit der Integration auf allen Stufen der Volksschule und an verschiedenen Schulen gesammelt, auch als Schulleiterin Integration und besondere Massnahmen. Heute ist sie als Fachperson für die Integration an einer Oberstufe tätig. Der lösungs- und ressourcenorientierte Fokus ist in ihrer Arbeit der zentrale Ansatz. Sie leitet Weiterbildungen zu diesem Ansatz und zum Thema rund um ADHS und Schule. Ihre Freizeit verbringt sie am liebsten in den Bergen, auf Reisen oder mit einem spannenden Buch.