Dieser Beitrag erschien zuerst in den Tamedia-Zeitungen. Der Nachdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Autorin. Merci und lieber Gruss an die Werdstrasse!
Es ist eine Szene, wie sie sich im Dezember tausendfach abspielt: Vater, Mutter, drei Kinder sitzen um den Küchentisch, ein Kerzli brennt. Alle sind im Pyjama, es fühlt sich an wie Sonntag. Die Familie ist gerade in Quarantäne. Vor sich haben Yuri (12), Miro (8) und Levi (5) ein Säckli aus grau-gemustertem Stoff, das der Familie als Adventskalender dient. So weit alles normal. Ausserordentlich ist das, was Yuri auspackt: ein Stück Gstaader Bergkäse mit Kräuterkruste.
Den Käse hat Miro für seinen grossen Bruder besorgt. Käse, Fleisch, Eier – das gibt es sonst nicht. Die Familie ernährt sich vegan, aus ökologischen Gründen. «Wir versuchen, so nachhaltig wie möglich zu leben», sagt Miros Mutter, Martina Iseli (41). Ein Auto hatten sie nie, vegan gegessen haben sie zum ersten Mal vor zehn Jahren – immer montags. Vor zwei Jahren haben sie komplett umgestellt. Was die Familie macht, geht aber weit über vegane Ernährung hinaus. Sie isst lokal und nur, was Saison hat, sie fliegt nicht, lebt ohne Auto auf dem Land und kauft nichts neu.
Das klingt schrecklich radikal. Und funktioniert nur, weil die Familie in ihrer Radikalität extrem inkonsequent ist. Sie macht ständig Ausnahmen. Etwa beim Käse – der gehört jedes Jahr in den Adventskalender. Martina Iseli und Tobias Egger (42) stehen mit ihren Söhnen für eine neue Art von Familie, die ein klimaneutrales Leben verfolgt, ohne dabei fundamentalistisch zu wirken.
Die Familie wohnt in Kaufdorf im Berner Gürbetal, auf halbem Weg zwischen Bern und Thun. Der Bahnhof ist keine fünf Minuten zu Fuss entfernt, der Zug fährt jede halbe Stunde nach Bern, wo Martina Iseli und Tobias Egger arbeiten. Sie als Primarschullehrerin, er hat eine Firma für nachhaltige Werbegeschenke.
Einmal haben sich die Buben von ihrem Sackgeld Wachteleier gekauft.
Der Gstaader Bergkäse steht jetzt beim Frühstück auf dem Tisch. Und wäre tatsächlich Sonntag und nicht nur einer dieser faulen Quarantänetage, stünde neben dem Käse auch Honig – eine weitere Ausnahme. Alle greifen zu, aber nicht Yuri, der Beschenkte, schneidet sich das grösste Stück ab, sondern Miro, der Schenkende. Er liebt Käse. Und Eier. Und Fleisch. Einmal haben sich die Buben von ihrem Sackgeld Wachteleier gekauft. Und seit es beim allerersten Zmittag in der Tagesschule Brätkügeli gab, sind er und sein kleiner Bruder Levi für das Fleischmenü angemeldet. Nur Yuri ist beim Vegi geblieben.
«Zu Hause kochen wir vegan, aber auswärts dürfen die Kinder essen, was sie wollen», sagt Martina Iseli. Wäre die Familie aus ethischen Gründen vegan, wäre das vielleicht anders. Ohnehin nehmen es Iseli und Egger recht entspannt mit ihrem Veganismus. «Wenn wir eingeladen sind, und es gibt Gemüselasagne, aber in der Béchamelsauce hat es Milch und Butter und obendrauf Käse, dann essen wir das trotzdem», sagt Iseli. Einmal habe es Spanferkel gegeben. «Sogar da haben wir ein bisschen probiert.» Im Sinne von: Der Umweltschaden ist schon angerichtet, da machen wir jetzt nicht noch ein Theater. Aber auch im Sinne von: Wir müssen uns das Leben ja nicht selbst vergällen. «Wenn ich mich in der Kantine entscheiden muss zwischen bluttem Reis oder Gemüsesauce mit einem Gutsch Rahm, dann nehme ich die Sauce», sagt Tobias Egger. Ausnahmen über Ausnahmen.
Wenn der letzte Apfel im Frühling gegessen ist, gibt es Rüebli zum Znüni.
Nicht dass der Eindruck entsteht, die Familie würde es nicht ernst meinen mit der Nachhaltigkeit. Sie hat sehr klare Vorstellungen – gerade beim Essen. Gurken, Tomaten, Peperoni gibt es nur, wenn Saison ist. Äpfel kaufen sie einmal im Jahr. Zwar nicht bio, dafür vom Bauern aus dem Dorf. Dieses Jahr sind es 90 Kilo, eingelagert in grossen Styroporkisten hinter dem Haus. Und wenn der letzte Apfel im Frühling gegessen ist, gibt es Rüebli zum Znüni.
Aber die Familie findet auch beim Essen immer gute Gründe, eine Ausnahme zu machen. Zum Geburtstags-Vegiburger gehört die Tomatenscheibe, auch im Winter. Und wenn der Gluscht überhandnimmt, dann ist auch ein Apfel aus dem begasten Kühlhaus erlaubt. «So, wie wir zwischendurch auch mal eine Banane kaufen. Oder zu Weihnachten eine Ananas», sagt Iseli. «Als etwas Spezielles.»
Sie leben auf 120 Quadratmetern in einer 35-jährigen verdichtet gebauten Genossenschaftssiedlung, in einem Reiheneinfamilienhaus mit eigener Solaranlage. Im Winter ist die Raumtemperatur im Schnitt etwa 19 Grad. Heute brennt im Ofen ein Feuer. Ausnahmsweise kann man ohne dicken Pulli am Küchentisch sitzen.
Die pragmatische Haltung macht ihre Lebensweise zugänglich. Menschen, die nur einen Sack Abfall pro Jahr produzieren oder plastikfrei durchs Leben gehen, sind zwar faszinierend, aber doch eher in der Art wie Wesen von einem anderen Stern. Wie soll man das je mit einem normalen Familien- oder Berufsleben vereinbaren?
Je konsequenter man eine nachhaltige Lebensweise verfolgt, desto inkonsequenter erscheint man.
Gleichzeitig zeigt das Beispiel der Berner Familie ein unauflösbares Paradox: Je konsequenter man eine nachhaltige Lebensweise verfolgt, desto inkonsequenter erscheint man. Einerseits nach aussen. Wer sich die Fotos ihres Zuhauses ansieht, wird unweigerlich irgendwo hängen bleiben und denken: «Das ist aber nicht sehr öko.» Ihr Leben provoziert Widerspruch. Man sucht das Haar in der Suppe.
«Wir haben es bisher nicht an die grosse Glocke gehängt, wie wir leben. Darum fällt es auch nicht auf, wenn wir Ausnahmen machen», sagt Tobias Egger. «Uns geht es auch nicht darum, einen Preis zu gewinnen. Wieso sollen gerade wir alles perfekt machen müssen? Wichtig ist doch, dass einem sein schädliches Verhalten bewusst ist.»
Jedes Vegi-Würstli ist eingeschweisst, jedes Ersatzprodukt extra verpackt.
Andererseits zeigen sich die Widersprüche nach innen: Je grüner man versucht zu leben, desto öfter stösst man selbst an Grenzen. Bei der Familie Iseli/Egger etwa kam mit dem veganen Essen das Müllproblem: «Es war ernüchternd, wie viel Plastik plötzlich anfällt», sagt Martina Iseli. Jedes Vegi-Würstli ist eingeschweisst, jedes Ersatzprodukt extra verpackt. Und wenn es wie heute einen veganen Kebab zum Zmittag gibt, dann sieht der Abfalleimer danach aus wie der einer normalen Familie – voll mit Plastikverpackungen.
Egger und Iseli genieren sich, als wir in den Abfalleimer schauen. Aber Iseli sagt auch: «Wir können nicht alles selbst machen. Die Verpackung ist vernachlässigbar. Was wirklich einschenkt, ist der Inhalt.» Die Umweltbilanz eines industriell produzierten, vakuumierten Vegi-Würstli sei nun mal deutlich besser als die des unverpackten Cervelats vom Bio-Metzger. «Wir haben unseren Frieden mit dem Plastik gemacht. Manchmal ist es einfach praktisch.» Eine Aussage, die so manchen Aktivisten leer schlucken lassen dürfte.
«Wir haben unseren Frieden mit dem Plastik gemacht. Manchmal ist es einfach praktisch.»
Es ist tatsächlich so: Für Iseli und Egger muss es praktisch sein. Jede Massnahme muss sich in den Alltag integrieren lassen. Viele Sachen haben sie probiert – und wieder aufgegeben. Spülschwämme aus alten Kaffeesäcken, selbst gemachte Putzmittel oder Tabs für die Spülmaschine, alternative Waschmittel aus Efeu oder geraspelten Rosskastanien – nichts davon hat sie überzeugt. «Wenn ich keine Freude daran habe, such mir etwas anderes», sagt Iseli. Darum kauft die Familie jetzt wieder Abwaschbäseli im Coop. Und wäscht mit dem Ökowaschmittel aus dem 20-Liter-Kanister.
Auch die selbst gemachte Zahnpasta hat Iseli aufgegeben. «Ich putze mir wieder mit der grünen Elmex die Zähne, trotz des ganzen Mikroplastiks, der im Brünneli und in meinem Körper landet.» Der Zahnarzt habe ihr glaubhaft versichert, dass das für die Lebensdauer ihrer Zähne wichtig sei. Sie hat auch versucht, das Shampoo wegzulassen und stattdessen Haarseife zu verwenden. Die muss man dann aber mit Essigwasser ausspülen, damit die Haare nicht stumpf oder pampig werden. «Man muss da recht lange pröbeln, bis man die richtige Mischung findet – und ich bin kein geduldiger Mensch.» Also braucht sie wieder Shampoo. Allerdings in fester Form, es sieht also aus wie ein Stück Seife. Das spart Verpackung.
Sie macht auch ihr Deo selbst, aus Kokosöl und Natron – und schwört darauf. Das gekaufte hat sie für den Notfall – wenn sie grad nicht zum Selbermachen kommt. Eines der wenigen Dinge, die sich in Iselis Badezimmerschränkli befindet, ist ein Plastikrasierer. «Den habe ich, seit ich mir die Beine rasiere – also seit etwa 25 Jahren.» Natürlich könnte sie den alten entsorgen und sich im hippen Onlineshop einen plastikfreien Ersatz kaufen. Nur: «Hätte das der Umwelt wirklich etwas gebracht?»
Und dann ist da noch das Einmachglas mit den Stofftüechli, das neben dem WC steht und das zusammen mit der Damenhygiene in die Rubrik gehört: «Will ich wirklich, dass die Leute in der Zeitung lesen, wie sich Frau Iseli das Fudi putzt oder ihre Unterwäsche schont?»
Würde eine Versorgungskrise ausbrechen, die Familie könnte wochenlang problemlos überleben.
Augen zu und durch: Die Familie Iseli/Egger braucht statt Feuchttüchern Lümpli aus Stoffresten oder alten T-Shirts, die sie mit etwas Wasser befeuchtet. Mit den gebrauchten Tüechli verfährt sie wie mit Stoffwindeln – sie werden erst geruchsdicht verstaut und dann heiss gewaschen. Und wer sich für die Damenhygiene interessiert, da gibts ebenfalls Lösungen aus Stoff – und aus Silikon.
Die Stofftüechli sind ohnehin ein gutes Sinnbild für die Grundhaltung im Haus Iseli/Egger. Nichts wird einfach so weggeworfen. Ausser vielleicht die alte Halogenlampe, die so viel Strom gefressen hat, dass jeder weitere Betrieb eine Umweltsünde gewesen wäre. Und nichts wird einfach so gekauft – hier ist die Familie im Gegensatz zum Essen sehr konsequent.
«Früher gingen wir am Samstag zusammen lädele», sagt Tobias Egger. «Ich hab das gern gemacht.» Heute graust ihm davor, ein Geschäft zu betreten. Das meiste bestellt die Familie in Grosspackungen auf Vorrat. In ihrem Keller sieht es aus wie im Bio-Laden: Pasta und Mehl in 5- oder 10-Kilo-Säcken, Einmachgläser mit Konfi, Sirup, Pickles oder Kompott, Soja- und Hafermilch, Pastasauce, Apfelmus. Würde eine Versorgungskrise ausbrechen, die Familie könnte wochenlang problemlos überleben. Das Gemüse kommt im Abo vom Bauern. Für alle anderen Frischprodukte gehen sie ein- bis zweimal die Woche in die Migros oder den Coop.
Impulskäufe gibt es nicht. Die Neuanschaffungen der letzten Zeit sind überschaubar: Socken für die Kinder, Stoff und Nähzubehör, eine Regenjacke für Egger und ein Paar neue Schuhe und senfgelbe Wollleggins für Iseli sowie eine Bandsäge. Alles andere – Kleider, Sportausrüstung, Spielsachen, Möbel, Geschirr, Tisch- und Bettwäsche, sogar Handys – kaufen sie gebraucht oder machen es selbst.
Nichts wegzuwerfen und nichts neu zu kaufen, bedeutet auch, erfinderisch zu sein. Das Bett ist aus Martina Iselis altem Jugendbett entstanden, die weissen Türen waren früher Küchenfronten. Und die alten grünen Sofapolster dienen heute wahlweise als Hüpfburg, Kuschelecke oder Räuberhöhle.
Ihr Shoppingcenter ist das Brockenhaus.
Ihr Shoppingcenter ist das Brockenhaus. Wo andere über die interessantesten Fussgängerzonen diskutieren, kennen sie die besten Flohmärkte. (Ihr Favorit: der Nachtflohmarkt in Konstanz, jeweils im Juni.) Im Dorf hat Iseli einen Whatsapp-Chat gegründet, um Dinge weiterzugeben, die man nicht mehr will oder nicht mehr braucht. «Das meiste, das man loswerden will, wird gerade anderswo gebraucht», so Iseli. Es gibt regelmässig einen Kleidertausch in der Turnhalle. Und in der Genossenschaftssiedlung hat die Familie einen Tauschschrank für Bücher eingerichtet.
Was Miros Zuhause von dem seiner Freunde unterscheidet? «Manche haben keine Werkstatt zu Hause. Und manche haben eine Nintendo Switch.»
Ganz ohne Konsum ging es an Weihnachten aber selbst bei der Familie Egger/Iseli nicht. Von Gotti und Götti gab es Lego und elektronische Bastelsachen. Und als Familie leisten sie sich jeweils eine Neuanschaffung. Vor einem Jahr waren es elektrische Zahnbürsten. Dieses Jahr gibt es eine neue Bratpfanne ohne Teflon.
Angela Barandun ist seit 2016 Nachrichtenchefin und Autorin bei Tamedia. Davor arbeitete sie als Wirtschaftsredaktorin und leitete später das Wirtschaftsressort. Sie schreibt über Themen an der Schnittstelle zwischen Wirtschaft, Gesellschaft und Politik.