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«Kinder können die Pandemie unbeschadet überstehen»

Was macht die Coronakrise mit Kindern? Schadet die Maskenpflicht? Wir fragen Claudia Roebers, Professorin für Entwicklungspsychologie.
9 Dez 2020
Bilder — United Nations via Unsplash

Keine Familientreffen, keine Hallenbad- und Museumsbesuche, keine Kindergartenanlässe mit den Eltern – die Corona-Pandemie schränkt unser Sozialleben derzeit ein. Was bedeutet das für ein Kind?
Das kommt sehr aufs Alter des Kindes an. Für ein junges Kind ist die Kernfamilie das Zentrum des Universums. Und wenn es jetzt mal eine Weile beispielsweise nicht ins Hallenbad geht, hat das auf seine Entwicklung keine Auswirkungen. Bei älteren Kindern, für die die Gleichaltrigen sehr viel wichtiger sind, sieht das anderes, weniger gut aus.

Bleiben wir kurz bei den kleinen Kindern: Was ist, wenn ein kleines Kind sich ängstigt vor Menschen mit Masken?
Man kann das mit Kindern thematisieren, die Maske selber anziehen und mit dem Kind spielen: «Kannst du sehen, ob ich lache oder nicht? Kannst du sehen, ob ich wütend bin oder nicht?» Man kann sie dafür sensibilisieren, sie können es selber ausprobieren, den Spiegel nehmen, sich selber ansehen mit der Maske. Es ist schwer vorzustellen, dass ein Kind heftige Angst vor Masken hat. Kinder verkleiden sich auch sehr gerne und eigentlich ist eine Maske doch nur eine – ziemlich langweilige – Verkleidung.

«Kinder verkleiden sich auch sehr gerne, und eigentlich ist eine Maske doch nur eine – ziemlich langweilige – Verkleidung.»

Besorgte BürgerInnen wollen sich gegen die Maskenpflicht in Freiburger Kitas wehren. Sie befürchten unter anderem, dass sich die Maskenpflicht auf die Sprachentwicklung von Babys negativ auswirkt. Was sagen Sie dazu?
Aus entwicklungspsychologischer Sicht lässt sich sagen: Die Sprachentwicklung ist – zusammen mit der motorischen Entwicklung – etwas vom Robustesten, was es gibt. Das heisst: Wir bringen eine angeborene Fähigkeit und eine starke, intrinsische Motivation mit, sprechen zu lernen, die kaum zu stören ist. Das ist eine evolutionär bedingte Fähigkeit, die sich nicht durch einige Wochen Maskenpflicht in einer Kita negativ beeinflussen lässt. Es ist genauso wie bei der motorischen Entwicklung: Kinder wollen sitzen, krabbeln, laufen, das lässt sich fast nicht verhindern.  Auch wenn in Kitas Masken getragen werden, so befinden sich die Kinder doch im familiärem Umfeld auch jeden Tag in einem Kontext, in dem keine Masken getragen werden. Und wir wissen aus Studien, dass ein Minimum an «normaler Umwelt» schon für eine normale Sprachentwicklung ausreicht.

Die Maskenpflicht ist also für Kinder kein Problem?
Naja, meiner Meinung nach wird hier etwas unnötig problematisiert.

Aber ist die Mimik nicht ein wahnsinnig wichtiges Signal für die Kinder?
Klar. Dass die Sprachentwicklung keinen Schaden nimmt, heisst nicht, dass es nicht mal zu einem Missverständnis kommt in der Kita, weil das Kind vielleicht nicht sieht, dass die Betreuungsperson gerade verärgert ist. Aber es gibt ja immer noch Sprache und die non-verbale Kommunikation, die auch mit Maske funktioniert (Kopf schütteln, mit den Händen gestikulieren etc.). Das kompensiert auch. Selbst ein Minimum an regulärer Umwelt reicht schon aus für eine normale Sprachentwicklung bei einem Kind. Beim Lesen- und Schreibenlernen ist das anders.

«Die Sprachentwicklung ist – zusammen mit der motorischen Entwicklung – etwas vom Robustesten, was es gibt.»

Inwiefern unterscheidet sich da die Sprachentwicklung vom Lesen- und Schreiben lernen?
Beim Lesen- und Schreiben lernen gibt es eine sehr starke Abhängigkeit von der Lernumwelt: Da sollte entwicklungsmässig beim Kind möglichst alles parat sein, und dann muss die Umwelt hier den richtigen, alters-angepassten Input geben, sonst lernt jemand nicht lesen und schreiben.

Also kann eine Schulschliessung hier nachhaltig negative Effekte haben?
Das war auch eine grosse Befürchtung von mir am Tag, an dem die Schulen zugingen. Ich habe sofort gedacht: Da wird es nun Verlierer geben. Das öffnet die Schere zwischen Kindern aus bildungsnahen und bildungsfernen Familien noch weiter. Die Schule vermag dann nicht mehr zu leisten, was sie eigentlich leisten sollte, nämlich allen Kindern die gleichen Bildungschancen geben.

Welche Auswirkungen hatte die Schulschliessung sonst auf die Entwicklung der Kinder?
Während des Lockdowns hat unser Institut eine Studie gemacht über die Situation bei älteren Kindern. Anhand dieser Daten, die wir noch nicht publiziert haben, haben wir gesehen: Wenn ältere Kinder nicht mehr in die Schule dürfen, wirkt sich das auf ihr Selbstkonzept aus.

Was ist das Selbstkonzept?
Mein Wissen und meine Wahrnehmung von mir selbst. Was kann ich gut? Wo liegen meine Stärken und meine Schwächen? Wie sehen mich die anderen? Wie bin ich darin, Standards zu erfüllen? Ab einem gewissen Alter sind Kinder in Bezug auf ihre Selbstwahrnehmung stark auf ihre gleichaltrigen Kolleginnen und Kollegen angewiesen.

Was bedeutet es, wenn das Selbstkonzept leidet?
Die Kinder können sich zum einen weniger gut einschätzen, weil sie sich sonst immer mit ihren gleichaltrigen Kolleginnen und Kollegen vergleichen. Zum anderen haben Kinder normalerweise ein etwas überoptimistisches Bild von sich selbst. Das ist auch gut so: Das gibt ihnen die Motivation und die Kraft, die Dinge anzugehen, die sie angehen müssen, beispielsweise schriftliche Multiplikationen zu lernen. Dieses positive Selbstbild lässt aber nach, wenn man wochenlang auf jegliche Kontakte zu Gleichaltrigen verzichten muss. Auf einige Schulkinder hatte der Lockdown also durchaus einen negativen Effekt. Für ein 3-, 4-Jähriges Kind war das wahrscheinlich nicht so schlimm, weil die Eltern für sie immer noch die ersten und wichtigsten Bezugspersonen sind.

Wie nachhaltig war der Effekt aufs Selbstkonzept bei den Schulkindern? Haben die jetzt für immer ein Defizit?
Nein. Als die Kinder nach den Sommerferien wieder zur Schule konnten, hat sich das Selbstkonzept wieder eingependelt. Sie können sich das ähnlich vorstellen wie wenn ihr Kind einen schweren Infekt hat, Husten, hohes Fieber. Eines morgens steht es gesund wieder auf – und es ist, als ob nichts gewesen wäre. Das heisst, Kinder können sich schnell wieder auf eine Normalität einstellen. Und wenn die Normalität jetzt eben ist, dass wir nicht schwimmen gehen, dann ist das eben so. Kinder sind sehr anpassungsfähig.

So lange Schulen und Kindergärten offen sind, ist also nichts zu befürchten?
Genau. Bei diesem Teillockdown oder Slowdown, bei dem die Kinder weiterhin zur Schule und zum Kindergarten gehen können, erwarten wir per se keine Auswirkungen auf die Entwicklung der Kinder. Es kann aber indirekte Folgen haben.

«Wenn es in der Familie Streit gibt, wenn Eltern nicht mehr die effizienten Eltern sein können, die sie unter normalen Umständen sind – dann kann das Kinder jeglichen Alters belasten.»

Welche indirekten Folgen?
Wenn zum Beispiel die häusliche Atmosphäre leidet, wenn es in der Familie Streit gibt, wenn Eltern nicht mehr die effizienten Eltern sein können, die sie unter normalen Umständen sind – dann kann das Kinder jeglichen Alters belasten.

Was, wenn Eltern tatsächlich angespannt sind in dieser Zeit? Wie vermeiden wir es, diese Ängste und Spannungen auf unsere Kinder zu übertragen?
Kinder sind Seismographen. Wenn die Eltern belastet sind, vielleicht Angst haben, sich zu infizieren, dann können Sie davon ausgehen, dass das auch eine Verunsicherung bei den Kindern zur Folge hat. Die Kinder spüren das. Zudem wird sich der Stress auf das Elternverhalten auswirken. Solange Eltern ihre Kinder feinfühlig beobachten und auf deren Bedürfnisse eingehen, können Kinder auch eine längere schwierige Phase problemlos überstehen. Wenn aber die Eltern selber unter Stress sind, werden sie nicht mehr feinfühlig und responsiv reagieren können und damit keine guten Beobachter ihrer eigenen Kinder mehr sein.

«Kinder sind Seismographen. Wenn die Eltern belastet sind, vielleicht Angst haben, sich zu infizieren, können Sie davon ausgehen, dass das auch eine Verunsicherung bei den Kindern zur Folge hat.»

Die Eltern können ihren Kindern folglich am besten helfen, indem sie den eigenen Stress zu reduzieren versuchen?
Genau. Und indem sie versuchen, ein waches Auge auf ihre Kinder zu haben. Das gilt immer, für die gesamte Entwicklung, aber insbesondere für solche besonderen Situationen wie eben einen solchen Slowdown. Die Kinder senden Signale. Kinder wissen auch oft, was sie brauchen, was sie nicht brauchen, was gut für sie ist und was nicht. Wir können ihnen also helfen, indem wir Fragen stellen, zuhören, auf sie eingehen.

Kleine Kinder können noch kaum artikulieren, was genau sie belastet; sie schmeissen dann vielleicht einfach das Essen herum oder können abends nicht gut einschlafen. Wie merken wir, dass wir es mit einem Alarmsignal zu tun haben?
Alles, was sich verändert, kann ein Anhaltspunkt sein. Das lässt sich nicht generalisieren. Es gehen auch längst nicht alle Kinder gleich mit einer Belastung um. Es kommen schliesslich auch nicht alle Erwachsenen gleich gut mit der aktuellen Situation klar, manche haben grosse Mühe mit Homeoffice, andere sind darin glücklich. Warum sollte es bei den Kindern anders sein? Kinder sind im Vergleich zu Erwachsenen aber viel schlechter darin, ihre Emotionen zu regulieren als Erwachsene. Wir Erwachsene können uns sagen: «Ok, ich bin gestresst, ich laufe jetzt eine Runde durch den Wald, danach gehts mir wieder besser», oder ich esse eine halbe Tafel Schokolade. Diese sogenannten Coping-Strategien – ob sinnvoll oder nicht – müssen Kinder erst noch erlernen. Was ist für mich gut? Wie kann ich mir in Stressituationen helfen oder mir helfen lassen?

Was ist mit einem Kind, das selber infiziert ist und sich Sorgen macht, es habe andere angesteckt?
Die allermeisten Kinder haben ja schon einmal einen Infekt durchgemacht. Wir können also an diese Erfahrung anknüpfen: «Weisst du noch, letzten Winter hast du dir doch auch mal einen Virus geschnappt, da hast du den gleichen Tee getrunken und durftest mehr fernsehen als normal. Und da musstest du auch von anderen Leuten fernbleiben, damit der Virus nicht auf andere rüberspringt und die sich anstecken.» Im Moment haben wir keinen Anhaltspunkt dafür, dass diese Erkrankung grössere Ängste beim Kind auslöst also ein «normaler» Winterinfekt. Aber auch hier kommt es wieder darauf an, was die Erwachsenen im Umfeld damit machen.

«Es gehen längst nicht alle Kinder gleich mit einer Belastung um. Es kommen schliesslich auch nicht alle Erwachsenen gleich gut mit der aktuellen Situation klar.»

Wie thematisieren wir die Erkrankung?
Natürlich verstehen Kinder nicht, was ein Virus ist, sie können es ja nicht sehen, sie wissen nicht viel darüber. Aber vermutlich haben sie im vergangenen halben Jahr davon gehört und vielleicht auch einige falsche Vorstellungen davon. Da ist es sinnvoll, mit den Kindern darüber zu sprechen, genau wie bei einem anderen Infekt: Was das für kleine Dinger sind. Wie die im Mikroskop aussehen. Was die tun. Dass unser Körper eine starke Maschine ist, die dann die Polizei losschickt, um diesen Virus langsam aber sicher in die Ecke zu drängen und zu besiegen. Das versteht selbst ein Kindergartenkind.

Bei uns läuft sehr oft das Radio, unsere Kinder hören auch fetzenweise Nachrichten über Corona. Ich bin nicht sicher, ob das gut ist. Sollten wir sie vielleicht besser ein wenig abschirmen? Anders gefragt: Wie viel Information sollten wir den Kindern zumuten?
Ich finde Information für Kinder gut. Sie muss halt kindgerecht sein. «Du bist stark, deine Körper-Polizei kann das Virus verjagen. Aber die Grossmutter wird das vielleicht nicht ohne Hilfe schaffen. Deshalb müssen wir sie beschützen!» Das versteht jedes kleine Kind, ebenso dass das Virus von einem Menschen zum anderen hüpft wie ein Floh und wir uns deshalb nicht in grosse Menschenmengen begeben dürfen. Wenn wir die Kinder nicht informieren, dann schnappen sie vielleicht etwas auf, das falsch ist. Lieber dafür sorgen, dass sie richtiges Wissen haben, soweit das ihre kognitive Entwicklung erlaubt.

«Ich finde Information für Kinder gut. Sie muss halt kindgerecht sein.»

Wie soll man mit Ängsten umgehen, die neu auftreten? Zum Beispiel: Wenn sich ein Kind plötzlich exzessiv die Hände wäscht?
Wenn Kinder in Stresssituationen kommen, sei es ein Erdbeben, eine Flucht, der Verlust eines Elternteils – dann ist es zu erwarten, dass sich gewisse «Schwachstellen» beim Kind, die vorher schon da waren, verstärken. Bei diesem Fall, den Sie schildern, gehe ich davon aus, dass das Kind vorher schon eher ängstlich war. Vielleicht hatte es auch eine ängstliche Umwelt, von der es immerzu zum Händewaschen ermahnt wird – dann kann es zu einer Art Explosion kommen. In so einem Fall, wenn es wirklich in Richtung einer Zwangsstörung zu gehen scheint, dann muss man sofort professionelle Hilfe holen.

Warum sofort professionelle Hilfe holen? Vielleicht ist es ja nur, wie bei so vielem, eine Phase?
Diese Entwicklungen sind dynamisch und negative Entwicklungen können so eskalieren. Jedes Mal, wenn sich das Kind jetzt die Hände wäscht, fühlt es sich ganz kurz sicher und dadurch erleichtert. Die Angst lässt nach. Das verstärkt das Verhalten: Das nächste Mal will es sofort wieder Hände waschen, weil dadurch die Angst nachlässt. Eigentlich sehr sinnvoll, was das Kind tut. Aber es kann zu einem Zwang führen, der später schwer reversibel ist.

Zum Schluss: Verstehe ich Sie richtig – die soziale Distanziertheit wird im Allgemeinen also keine nachhaltigen Auswirkungen auf die Entwicklung unserer Kinder haben?
Es gibt auch Familien, die im Lockdown so viele Karten- und Gesellschaftsspiele gespielt haben wie noch nie, weil abends immer alle zuhause waren. Ich will die negativen Auswirkungen der Pandemie nicht kleinreden – aber es hat halt immer beide Seiten. Kinder sind robuste Wesen. Sie sind anpassungsfähig und man kann mit ihnen reden. Wir können davon ausgehen, dass Eltern immer das Beste für ihre Kinder wollen. Ich rate den Eltern: Schaut eure Kinder an, fragt sie: «Gibt es etwas, das dir Angst macht? Kann ich dir das erklären? Was sollen wir tun, damit diese Angst weniger wird?» Dann sind sie schon auf dem richtigen Weg.

«Wir können nun hier in der Schweiz wirklich nicht sagen, dass da eine ganze Generation traumatisiert wird, wie das bei einem Krieg oder einer Naturkatastrophe der Fall wäre.»

Machen wir uns zu viele Sorgen um das Wohlergehen unserer Kinder?
Sehen Sie: Wir haben eine Pandemie mit all ihren schlimmen Folgen. Aber unsere Ernährung, unsere Sicherheit war bisher zu keinem Zeitpunkt ernsthaft gefährdet. Vielleicht hatte jemand mal Angst, dass uns das Toilettenpapier ausgeht. Aber wir können nun hier in der Schweiz wirklich nicht sagen, dass da eine ganze Generation traumatisiert wird, wie das bei einem Krieg oder einer Naturkatastrophe der Fall wäre. Das muss man  auseinanderhalten! Wir Menschen sind anpassungsfähig, manche mehr, manche weniger, das ist das Resilienzkonzept. Wenn es jemandem nicht mehr gut geht, muss man hinsehen, fragen, eventuell auch mal Hilfe holen. Aber im Grossen und Ganzen können Kinder diese Pandemie hier unbeschadet überstehen und ihre Entwicklung ungestört fortsetzen.

Dieser Artikel ist zuerst in gekürzter Form im «Tages-Anzeiger» erschienen.

Prof. Dr. Claudia Roebers

Die Leiterin der Abteilung Entwicklungspsychologie an der Universität Bern und unterrichtet Studierende im Bachelor-, Master- und Doktoratsstudium. Seit über 20 Jahren forscht sie in den Bereichen Schulbereitschaft  von Kindern mit einem Schwerpunkt auf der Selbstregulation, zur Fähigkeit von Kindern ihre eigenen Leistungen richtig einzuschätzen (metakognitive Entwicklung), sowie zum Zusammenspiel von motorischer und kognitiver Entwicklung. Sie hat zwei erwachsene Kinder.
Foto © Luca Christen