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Die beste Schule für mein Kind

Das ermutigende Bekenntnis einer Mutter, der das Schulsystem zu eng ist. Und die dennoch keine Angst hat um die Bildung ihrer Kinder.
12 Aug 2019

In diesen Tagen beginnt für viele Familien ein neues Kapitel: die Schule! Wir widmen dem Riesenthema eine Reihe von Artikeln. Dazu gehört das Porträt eines hingebungsvollen Kindergärtners (und Spitzenkochs), die Tipps für Rituale bei Übergängen, ein Interview mit dem Neurobiologen Gerald Hüther – und zum Schluss hier der inspirierende Text von Tabea Reusser*, die vor allem für eines plädiert: Vertrauen.

Die Themen Bildung und Schule begegnen mir momentan ständig. Ich frage mich, welche Bildung die Kinder für ihr Leben in Zukunft benötigen.

Ich gehe davon aus, dass Kinder gerne lernen. Ich weiss nicht, ob ihr das auch kennt, aber meine zwei älteren Söhne löchern mich momentan mit Fragen. Ich weiss nicht, wie viele es sind pro Tag, aber ganz ehrlich: Manchmal sind es mir zu viele. Ich habe einmal gelesen, dass ein Kind zwischen 4-6 Jahren bis zu 500 Fragen stellt pro Tag. Und wenn sie immer beantwortet würden, am besten durch unterschiedliche Personen, müsste es nicht einen einzigen Tag in die Schule gehen.

«Dann hört irgendwann in der Schule das begierige Lernen auf. Ich kann das gut nachvollziehen.»

Meistens lernt ein Kleinkind innert 2-3 Jahren sprechen und laufen, etwas vom Wichtigsten für das Leben. Wie krass ist das?

Dann hört irgendwann während der Schulzeit das begierige Lernen auf. Ich kann das gut nachvollziehen. Wenn mir etwas Spass macht, kann ich mich tagelang mit diesem Thema auseinandersetzen – und wenn mich etwas nicht interessiert, kann ich den Text viermal lesen und weiss immer noch nicht, was drin steht. Ich könnte mich zwar zusammenreissen und es lernen, vielleicht für eine Prüfung, aber das wäre nach der Prüfung bestimmt wieder weg.

Unser Schulsystem ist mir zu eng, das war es aber schon, als ich selber zur Schule ging. Viele Dinge an der Schule mag ich bis heute nicht besonders.

Die Beurteilungen und Verurteilungen. Das Schubladisieren. Und alle mussten immer alles gleichzeitig können. Das frühe Aufstehen und das Blossstellen der einzelnen Kinder mit dem, was sie noch nicht konnten. Die meisten Fächer interessierten mich echt nicht, und wenn ich heute  einem Allgemeinbildungsquiz mitmachen würde, wäre ich mies, so richtig mies. Ich kenne die sieben Bundesräte nicht. Und Algebra ist für mich ein Wort. Ein Substantiv, weiblich. Schreiben lag mir auch nicht, sagte meine Lehrerin, zu viele Adjektive, zu viel Mundart, und das mit den Kommas schaffe ich immer noch nicht. Schon damals hatte ich Mühe mit gewissen hierarchischen Strukturen. Oder wenn jemand ganz genau wusste, was richtig oder falsch ist.

Die Liste mit den Dingen, in denen ich nicht dem Massstab entsprach (welchem Massstab schon wieder?), ist lang. Zum Glück, sage ich heute!

«Mein ältester Sohn geht in den Kindergarten. Nicht immer sehr gerne. Aber er geht. Oft auch nur, weil ich ihm keine Wahl lasse.»

Mein Lehrmeister in der Ausbildung zur Fotografin sagte, aus mir werde nie eine richtige Fotografin. Zu unkonventionell und zu intuitiv (wo bleibt die Technik??).

Aber he, ich lebe noch und ich habe ein wirklich gutes, «erfolgreiches» Leben, und ich finde, es wird jeden Tag besser. Ich habe die Schule überstanden. Zum Glück!

Mein ältester Sohn geht in den Kindergarten. Nicht immer sehr gerne. Aber er geht. Oft auch nur, weil ich ihm keine Wahl lasse. Mein Herz sagt: Ach komm, lass ihn doch zu Hause bleiben, oder nimm ihn doch ganz aus dem Kindergarten! Und dann sagt der Verstand: Ach was, manche Dinge im Leben muss er einfach durchstehen, und ich will nicht, dass er in einer Seifenblasenwelt lebt, in der er nur nach seinem Lustprinzip rumhüpfen kann.

Natürlich gab es für mich auch gute Dinge in der Schule. Die Jungs, die Mädchen, manche Lehrer, das Spielen, die Freunde, die Pausen, die Lager. Dafür bin ich dankbar. Und auch meinen Eltern und allen, die mich begleitet haben, und allen Erfahrungen, die ich bis heute machen durfte.

Aber heute bin ich auf der Suche nach der Mitte. Die Mitte, in der sich mein Herz und mein Verstand treffen.

Ich habe für mich ein paar Dinge rausgefunden.

«Ich wünsche mir Vertrauen. Vertrauen, dass das Kind alles schafft, egal wie.»

Ich wünsche mir Vertrauen. Vertrauen darauf, dass die momentane Lebenssituation genau richtig ist, so wie sie ist. Vertrauen, dass das Kind alles schafft, egal wie. Vertrauen, dass sie das, was sie für ihr Leben wirklich brauchen, schon irgendwann lernen, vielleicht halt erst mit 55. Und Vertrauen, dass ich ein grosses, langandauerndes Vertrauen habe.

Ich wünsche mir Einfühlungsvermögen, ohne dass ich meine Kinder in Watte packe.

Ich wünsche mir Mut. Mut, andere Wege zu gehen und für meine Kinder einzustehen. Den Mut, die Grenzen so weit wie möglich auszuweiten. Den Mut, zu hinterfragen. Und den Mut auch mal «Stopp!» zu sagen.

Ich schaffe ihnen die nötigen Freiräume in ihrer Umgebung, damit sie sich auch mal selber erfahren können. Alleine. Und dass so viel Zeit wie möglich in der Natur verbringen können, ohne das ständig irgendetwas von ihnen verlangt wird.

Was spielt es schon für eine Rolle, welche Lernkompetenzen in welchem Alter erreicht werden?

Was spielt es für eine Rolle, ob mein Kind das «R» richtig ausspricht, ob es mit 4 auf einem Bein hüpfen kann, ob es gut in Mathe ist und schon vor der Schule lesen kann? Müssen denn alle alles können und auch noch zur gleichen Zeit? Wir haben so viel Zeit! Unser ganzes Leben lang können wir lernen. Und wenn wir das mit Freude tun, hören wir auch nie damit auf.

«Müssen denn alle alles können und auch noch zur gleichen Zeit? Wir haben so viel Zeit!»

So viele Kinder leiden heute unter Stress, unter Ängsten, Burnout, Mobbing. Und einen grossen Teil können wir, als Eltern, Grosi, Götti, Onkel auch mitsteuern.

Was haben wir für Ziele für unsere Kinder? Sind das auch wirklich die Ziele und Wünsche des Kindes? Müssen sie immer überall dabei sein, was ist wirklich wichtig? Wo können sie selber entscheiden? Braucht es Nachhilfeunterricht, wenn es in Mathe nicht gut ist, oder soll es lieber den Fokus auf diese Fächer legen, die ihm wichtig sind? Was sollen unsere Kinder lernen? Was macht ihnen Freude? Und worauf lege ich meinen Fokus? Und wie lernen die Kinder eigentlich am besten?

Wenn ich zurückschaue, habe ich bis zu meinem 21. Lebensjahr so viel geweint und gehadert und gekämpft. Natürlich weine ich immer noch dann und wann, und ja, es gibt auch Tage, an denen ich hadere. Aber das Grundgefühl hat sich definitiv ständig verbessert.

Irgendwie habe ich das Glück, dass mir das Vertrauen in mich nie ganz verloren geht, dass ich bei jeder Niederlage immer wieder aufstehe und den Weg weiterlaufe, den ich für mich auswähle. Dass ich mir immer wie weniger vorschreiben lasse, welche Tabea ich nun sein soll. Ich lerne so vieles dazu und jede Erfahrung bereichert mich, macht mich stärker und mutiger und gelassener. Dankbar erkenne ich, dass mich alle Begegnungen, egal welcher Art, weiterbringen.

«Ich glaube, dass es keine Rolle spielt, was für Noten man in der Schule hatte, oder wie beliebt man war.»

Ich glaube, dass es keine Rolle spielt, welche Noten man in der Schule hatte, oder wie beliebt man war (ist). Ich glaube, das wichtigste ist, dass die Freude nie verloren geht. Denn die Freude ist ein riesengrosser Antrieb.

Ich bin nun gelassener, denn ich weiss: Egal, welchen Weg meine Kinder wählen, egal, welchen Weg ich für sie wähle oder welche Erfahrungen sie machen – es wird sie weiterbringen und stark machen.

Tabea Reusser

Die Fotografin ist Mutter dreier Jungs im Alter von 1, 4 und 6 Jahren. Sie lebt in Thun. Für Kleinstadt hat sie kürzlich über das Wildkräutersammeln mit Kindern geschrieben. Die Bilder in diesem Beitrag stammen aus ihrem schönen Kinderbuch «Das Leben ist wunderbar, lieber Karl».
tabea-aimee.ch