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«Frauen müssen seit jeher selbst für ihre Sache kämpfen»

Die Politologin Sarah Bütikofer* erklärt, weshalb immer noch weniger Frauen wählen und gewählt werden. Und was das für Folgen hat.
9 Okt 2023
Bild — Wolfgang Lindroos (ETH-Bibliothek, Wikimedia commons)

Aktuell ist keine Mutter im Bundesrat. Die GLP-Nationalrätin Kathrin Bertschy verlor wegen einer Abstimmung im Parlament zunächst ihr Mutterschaftsgeld – auf ihre Initiative hin wurde das Gesetz schliesslich geändert. Sarah Bütikofer, sind Mütter überhaupt vorgesehen in der Schweizer Politik?
Sarah Bütikofer: Grundsätzlich dachten die Herren, die Mitte des 19. Jahrhundert das Schweizerische politische System und das Parlament entworfen haben, natürlich nicht daran, dass da auch Mütter mittun könnten – Frauen waren allgemein nicht vorgesehen.

Aber wir leben ja nicht mehr im 19. Jahrhundert.
Genau, deshalb kann das nicht die Referenz sein. Seit die Schweizer Frauen ab 1971 politische Ämter auf nationaler Ebene übernehmen können, gab es immer Mütter im Parlament. Auch unter den ersten Frauen, die 1971 gewählt wurden, waren einige Mütter. Eine von ihnen, die Theologin Hanna Sahlfeld von der SP St. Gallen, bekam im Amt ihr zweites Kind. Trotz Wiederwahl zog sie sich aber nach einer Legislatur aus dem Nationalrat zurück und wanderte mit ihrer Familie nach Deutschland aus. Sie stiess als berufstätige Mutter, Politikerin und Ehefrau eines deutschen Mannes auf derart viel Unverständnis, dass sie sich zu diesem Schritt entschloss.

Glücklicherweise haben sich die Zeiten geändert. Eine Frau, die als Nationalrätin Mutter wird, ist kein Aufreger mehr.
Ja, mittlerweile sind schwangere National- und Ständerätinnen in allen Parteien normal, und auch die frischgebackenen Väter unter den Parlamentariern bringen ihre Kinder bisweilen ins Bundeshaus mit. Es gibt dort inzwischen auch ein Stillzimmer. Der Ratsbetrieb und auch die Organisation des Parlaments mit den 3-wöchigen Sessionen sind aber alles andere als familienfreundlich.

«Der Ratsbetrieb und auch die Organisation des Parlaments mit den 3-wöchigen Sessionen sind alles andere als familienfreundlich.»

Inwiefern?
Jedes Ratsmitglied mit kleinen Kindern muss sich generalstabsmässig selbst organisieren, und ohne Hilfe von Partner/innen, Familienmitgliedern und Freunden ginge es nicht. Würde eine deutliche Mehrheit der Ratsmitglieder die familienunfreundlichen Rahmenbedingungen ändern wollen, wäre das absolut möglich. Aber bisher gab’s nicht genügend Druck in diese Richtung …

Auf Bundesebene ist es also nach wie vor schwierig. Wie sieht es auf den in der Schweiz sehr wichtigen anderen Staatsebenen in der Politik aus?
Auf kantonaler Ebene sind Parlaments- und Regierungsarbeit in der Regel einfacher mit einer Familie zu vereinbaren, was zahlreiche Beispiele zeigen. Der Parlamentsbetrieb ist ein anderer, meistens weniger lange Sitzungen, dafür einmal pro Woche oder alle zwei Wochen, zudem kaum lange Reisewege, das Regieren ist weniger exponiert als national, und so weiter.

Erster Frauenstimmtag in kirchlichen Angelegenheiten im Kanton Zürich 1964. Das nationale Stimmrecht erhielten die Frauen sieben Jahre später. Bild: Jules Vogt, Comet Photo AG (Zürich)

Vergangenes Jahr lasen wir im Vorfeld der Ersatzwahl von Simonetta Sommaruga den Titel: «Eine junge Mutter im Bundesrat – geht das?» Was sagen Sie als Politologin: Ginge das?
Nun, kann man Königin von England sein und vier Kinder haben? Es gibt in der Schweiz mittlerweile viele Regierungsrätinnen, die noch kleine Kinder haben oder hatten, als sie im Amt waren. Kandidierende für den Bundesrat haben alle eine bereits viele Jahre andauernde politische Karriere hinter sich. Sofern eine Politikerin Kinder hat und grundsätzlich als Bundesrätin in Frage kommt, dann wird sie auch entscheiden können, ob das Amt für sie und ihre Familie zumutbar ist oder nicht.

Wer will, kann also?
Bundesrätin sein ist selbstverständlich nicht vergleichbar mit einem Job mit geregelten Arbeitszeiten, 40-Stunden-Woche und freien Wochenenden, sondern verlangt einem in jeglicher Hinsicht sehr viel ab. Ob man dazu bereit ist und es mit der eigenen Familiensituation vereinbar ist, muss man in erster Linie selbst entscheiden. Denkbar ist natürlich auch, dass eine Bundesrätin ihr Gehalt nicht in teure Hobbys (z.B. Privatfliegerei), sondern in umfassende und entlöhnte Dienstleistungen, Kinderbetreuung und Haushaltsführung investiert.

Es werden dennoch vorwiegend Kinderlose oder über 50-Jährige in wichtige Ämter gewählt.
Das höhere Alter ist wohl nicht das ausschlaggebende Kriterium. Das ist ja eher die Folge der lange dauernden politischen Karriere. Politiker waren immer auch Väter. In früheren Generationen waren Frauen, die es in Spitzenämter schafften, häufig kinderlos. Das ist aber nicht nur in der Politik so.

«Alle gesellschaftlichen Gruppen, die wenig oder gar nicht repräsentiert sind, finden weniger Gehör im politischen Prozess, und entsprechend ist die konkrete Politik auch weniger auf deren Bedürfnisse ausgerichtet.»

Können Sie etwas zu Ursache und Folgen der Unterrepräsentation gewisser Gesellschaftsgruppen in der Politik sagen?
Alle Personen, die in der Schweiz in parlamentarischen Ämtern tätig sind, wurden vom Volk gewählt. Allerdings nur von dem Teil des Volks, der an Wahlen teilnimmt. Frauen haben lange Zeit viel weniger an Wahlen teilgenommen, und Frauen sind nach wie vor auf allen Stufen und in allen Ämtern unterrepräsentiert. Jüngere gehen auch viel weniger wählen als ältere Personen. Alle gesellschaftlichen Gruppen, die wenig oder gar nicht repräsentiert sind, finden weniger Gehör im politischen Prozess, und entsprechend ist die konkrete Politik auch weniger auf deren Bedürfnisse ausgerichtet.

Nun stehen die Zeichen umgekehrt als vor einem Jahr: Matthias Aebischer, Vater von 5 Kindern, das jüngste 4-jährig, kandidiert als Bundesrat. Er traut es sich die Vereinbarkeit zu – und lässt sich sogar mit dem Satz zitieren, «ich bin Hausmann». Ist die Vaterschaft bei Männern ein Bonus?
Man kann schon den Eindruck erhalten, ja. Wenn Wertvorstellungen sowie Strukturen nicht darauf ausgerichtet sind, dass Mütter in hohen politischen Ämtern oder beruflichen Stellungen tätig sind, kämpft eine Frau und Mutter auch an dieser Front – bei Politikern und Vätern sieht’s tatsächlich anders aus. So wurde z.B. der frühere britische Premier Tony Blair im Amt noch einmal Vater. Ihm hat man vor allem gratuliert. Politikerinnen mit Kleinkindern machen andere Erfahrungen, da wird dann eben darüber diskutiert, ob das nun «gehe» oder «nicht gehe».

Fackelumzug in Zürich für das Frauenstimmrecht, 1963. Bild: Heinz Baumann, Comet Photo AG

Wie steht die Schweizer Familienpolitik im internationalen Vergleich da?
Es kommt auf die Länder an, mit denen man Vergleiche anstellt. Aber die Bedingungen in Sachen Kinderbetreuung, Elternzeit, Schulstruktur (Tagesschulen, Mittagstisch, etc.), aber auch im Bereich der Lohngleichheit, Sozialversicherungen und Steuerpolitik sind in der Schweiz nicht darauf angelegt, dass bei Elternpaaren beide in hohen Pensen ausser Haus erwerbstätig sind. Wenn man also den Frauenanteil erhöhen möchte – mitnichten nur in den politischen Spitzenämtern, sondern auch in vielen anderen Bereichen –, muss man bei den Strukturen ansetzen.

«Wenn man den Frauenanteil erhöhen möchte – mitnichten nur in den politischen Spitzenämtern, sondern auch in vielen anderen Bereichen –, muss man bei den Strukturen ansetzen.»

Können Sie da ein konkretes Beispiel nennen?
Mittlerweile sind viele Frauen in der Schweiz erwerbstätig. Allerdings ist Teilzeitarbeit weit verbreitet.  Es verbinden aber vorwiegend Frauen Familienarbeit und Teilzeitjobs mit tiefen Pensen, was sich auf die berufliche Karriere und die Vorsorge negativ auswirkt. Ausländerinnen in der Schweiz arbeiten im Durchschnitt in höheren Pensen, und zwar sowohl gut qualifizierte wie auch weniger gut qualifizierte Frauen. Ihnen fehlen aber die politischen Rechte, und sie haben auch kaum Lobbys, die sich für ihre Anliegen einsetzen.

Welche Chancen haben Anliegen von Familien und insbesondere Müttern in der Schweizer Politik? Wer vertritt sie am besten?
Anliegen von Müttern beziehungsweise Familien definiert nicht jede Partei gleich. Es gibt in jeder Partei Personen, die sich mit Themen rund um Erziehung, Bildung, Elternschaft, Vereinbarkeit, Familien etc. befassen. Tatsächlich sind es häufiger Politikerinnen als Politiker. Aber die Positionen sind sehr divergierend, wie bei allen anderen Politikfeldern auch. Es ziehen keineswegs alle am gleichen Strick.

Plakat des Zürcher Frauenstimmrechtsvereins von 1912 (!). Quelle: Sozialarchiv Zürich via Wikimedia Commons.

Aber Frauen setzen sich tendenziell eher für Familienanliegen ein?
Man kann schon sagen, dass Anliegen, die Frauen und Familien betreffen, eher von Politikerinnen als von Politikern vorgebracht werden. Frauen müssen seit jeher selbst für ihre Sache kämpfen. Politikerinnen gelingt es auch regelmässig, Allianzen zu schmieden, die über viele bis alle Parteien gehen. Ältere Beispiele sind das AHV-Splitting in den 90er-Jahren, die Mutterschaftsversicherung oder die Fristenlösung. Aus der aktuellen Legislatur: die Revision des Sexualstrafrechts, die Gendermedizin, der Schutz vor sexualisierter Gewalt, der Koordinationsabzug des BVG und ganz aktuell Vorstösse in Richtung einer Erziehung ohne Gewalt oder das Kita-Gesetz.

Gibt es Untersuchungen darüber, ob Eltern andere Politik machen als Kinderlose?
Werthaltungen und Einstellung sind entscheidend für die politischen Vorstellungen, die jemand hat, nicht die erfolgte Fortpflanzung. Möglicherweise wird man sich gewissen Konsequenzen der Eltern- und Partnerschaft bzw. auch des Steuer- und Vorsorgesystems aber erst voll bewusst, wenn man nach der Heirat oder Familiengründung anders davon betroffen ist.

Warum gehen vor allem über 60-Jährige Männer wählen und abstimmen?
Weil sie entsprechend sozialisiert wurden und es viel stärker ihre langjährige Gewohnheit ist.

«Das Frauenstimmrecht hat unter dem Strich die Entwicklung einer fortschrittlichen Gesellschaft mit Gesetzen gegen Rassismus und Sexualvergehen gefördert.»

Und stimmen Männer in Sachfragen anders als Frauen?
Ein Naturgesetz ist das nicht. Bei sozial-, gesellschafts- und umweltpolitischen Vorlagen auf der einen Seite und bei sicherheitspolitischen Anliegen auf der anderen Seite öffnet sich aber regelmässig ein Geschlechtergraben. Vor ein paar Jahren hat Claude Longchamp dazu eine ausführliche Analyse in der «Republik» publiziert. Das Frauenstimmrecht hat unter dem Strich die Entwicklung einer fortschrittlichen Gesellschaft mit Gesetzen gegen Rassismus und Sexualvergehen gefördert. Manchmal unterliegen die Frauen aber auch. Bei der Abstimmung über die AHV-Reform im September 2022 waren Frauen klar dagegen, Männer klar dafür. Nie war der Geschlechtergraben grösser. Aber Frauen gingen weniger an die Urne als Männer.

Und wie sieht es bei den Wahlen aus? Gibt es hier auch Unterschiede?
Ja, das Wahlverhalten ist in der Tendenz eher anders. Auswertungen zeigen unter anderem, dass die Frauen gleich nach Erlangen des Wahlrechts zwar konservativer wählten als Männer, mittlerweile aber links überholten. Dies ist vor allem bei den jüngsten Wählenden sehr ausgeprägt. Die Wahlbeteiligung ist bei den Frauen im Durchschnitt nach wie vor geringer als bei den Männern, ganz ausgeprägt ist diese Lücke bei Menschen über 65 Jahren. Bei Wählenden unter 35 zeichnet sich eine Angleichung ab.

«Die Wahlbeteiligung ist bei den Frauen im Durchschnitt nach wie vor geringer als bei den Männern, ganz ausgeprägt ist diese Lücke bei Menschen über 65 Jahren.»

Was mobilisiert jüngere Wählerinnen? Oder anders gefragt: Was hindert sie am Wählen und Abstimmen?
Die Wahlen in der Schweiz gelten generell als weniger wichtig als Abstimmungen. Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass sich jüngere Personen eher über konkrete Sachfragen, d.h. Abstimmungen, mobilisieren lassen als bei Wahlen. Die Wahlteilnahme ist per se auch komplizierter und erfordert einen höheren Einsatz. Bei Abstimmungen kann man sich auf Grund von Argumenten eine klare Ja/Nein- Meinung bilden. Um an Wahlen teilzunehmen, muss man sich – je nach Kanton – mit mehr wie einem Dutzend Parteien eingehend befassen und sich dann auch noch über Personen informieren. Das ist ein grosser Aufwand, und man muss bereit sein, diesen zu leisten.

War die Frauenwahl 2019 eine Ausnahme? Ihre Prognose: Wirds einen Rückschlag für die Frauen geben bei der Wahl Ende Oktober?
Es kommt zum einen auf die wahlsiegenden Parteien, zum anderen auf deren Listengestaltung darauf an. Wenn diejenigen Parteien, die einen hohen Frauenanteil auf ihren Listen haben und mit bisherigen Kandidatinnen antreten, gut abschneiden, dann sollte der Frauenanteil etwa bleiben wie er ist. Auf den Listen für die Wahlen 2023 ist der Frauenanteil gleich wie 2019.

Und wenn die Parteien mit hohem Frauenanteil nicht gut abschneiden?
Verlieren die Parteien, die überproportional viele «Frauensitze» haben, zu Gunsten der SVP, die den tiefsten Frauenanteil aller Parteien aufweist, dann wird der Frauenanteil wohl eher etwas rückläufig sein. Es liegt aber natürlich auch an den Wählerinnen und Wähler: Alle können mittels Panaschieren und Kumulieren Kandidatinnen gezielt unterstützen, vor allem bei den Parteien, die Frauen unterdurchschnittlich nominiert haben.

«Die rechte und konservative Seite fürchtet ja gar nicht zu Unrecht, dass die gegebene Ordnung und Autorität nicht mehr einfach so gilt. »

Zum Abschluss: Warum polarisieren Gender-Anliegen so sehr?
Es ist ein Thema, das sowohl auf der linken wie auf der rechten Seite sofort Beachtung erhält – es «triggert» viele. Es ist ja wirklich so, dass sich die traditionellen Geschlechterrollen in westlichen Demokratien, aber auch in anderen Gebieten, in den letzten Jahrzehnten verändert haben – in Richtung progressivere Gesellschaft. Bildung, Beruf, Karriere, Familie, Fortpflanzung, Kinderbetreuung, Partnerschaft, Sexualverhalten… da ist so einiges in Bewegung und wird neu ausverhandelt. Es geht vielen «ans Läbige» – und man kann bei solchen Themen auch nicht einfach einen Kompromiss aushandeln, weil grundlegend unterschiedliche Werthaltungen aufeinanderprallen.

Um welche Werte geht es da?
Die rechte und konservative Seite fürchtet ja gar nicht zu Unrecht, dass die gegebene Ordnung und Autorität nicht mehr einfach so gilt. Die progressive Seite stellt Strukturen in Frage und verlangt immer selbstbewusster ein Um- und Neudenken. Das führt zu Reibung zwischen denen, die Altbewährtes behalten wollen und jenen, die dem Aufbrechen zu neuen, auch unbekannten Ufern in Sachen gesellschaftlicher Organisation und Hierarchien gegenüber offen eingestellt sind. Im vergangenen Jahrhundert gab es den Klassenkampf, nun befinden wir uns im Kulturkampf zwischen einer progressiven und einer traditionell-konservativen Seite. Nicht nur in der Schweiz, sondern in vielen europäischen Staaten genauso wie in den USA.

Die historischen Bilder in diesem Beitrag stammen aus dem ETH-Archiv sowie dem Sozialarchiv, via Wikimedia Commons. Das Titelbild zeigt eine Werbeaktion für das Frauenstimmrecht im Jahr 1969 in Zürich

* Sarah Bütikofer

Die Politologin ist Projektpartnerin beim Forschungsinstitut Sotomo. Sie ist Chefredaktorin der Onlineplattform für Schweizer Politikwissenschaft DeFacto und Dozentin an verschiedenen Hochschulen. Ihre Schwerpunkte sind Schweizer Politik mit Fokus auf Parlament, Wahlen und Gesellschaft. Foto: Marion Nitsch