Kleinstadt Agentur Über uns
Newsletter Kontakt

Warum ich keinen Alkohol mehr trinke

Alkohol gehört in unserer Gesellschaft überall dazu. Schon Kinder lernen das. Ohne Alkohol zu leben ist auch eine Form der Rebellion.
13 Nov 2023
Bilder — Unsplash

180 Tage. So lange habe ich keinen Alkohol getrunken, als ich diesen Text anfange. Und bis ich ihn beende, werden noch einmal 70 Tage vergehen. Noch selten habe ich so lange gebraucht, um einen Artikel zu schreiben und zu veröffentlichen. Das liegt zum einen daran, dass mit diesem Text nicht viel zu gewinnen ist. Wer kein Alkohol-Problem hat, findet ihn unnötig. Wer eins hat und es (wie die meisten) verdrängt, fühlt sich angegriffen und wird den Text im besten Fall ignorieren, im schlechtesten mit allerlei unseriösen Argumenten angreifen.

Einzige Zielgruppe, die sich über diesen Text freuen dürfte: Menschen, die ein Problem mit Alkohol hatten oder haben und es sich auch eingestehen. Und ja, diese Gruppe ist klein. Letztlich mache ich mich mit dem Artikel zu einer Spassverderberin.

Zum anderen schob ich die Veröffentlichung hinaus, weil ich lange ein wenig Angst hatte. Angst davor, ich könnte doch irgendwann wieder anfangen zu trinken, und dann, Hähä!, wäre das wahnsinnig peinlich und alle würden sich über meine Doppelmoral freuen wie bei einem Klimaaktivisten, der nach Mexiko fliegt.

Und gerade diese Geschichte muss einfach auch einmal erzählt werden: Warum jemand aufhört zu trinken, ohne offensichtlich ein Problem mit Alkohol zu haben.

Trotzdem schreibe ich diesen Text jetzt. Auch wenn ich keine spektakuläre Absturz-Story erzählen kann, wie das bei der Sober-Literatur oft der Fall ist. Ich war nie ganz am Boden, ich bin nicht alkoholsüchtig, hab in den letzten 10 Jahren kein Blackout mehr erlebt (glaube ich, haha), hab unter der Woche kaum je und am Wochenende meist moderat getrunken, mal ein paar Bier und eine halbe Flasche Wein an einem Abend als Worst Case. Ich war für Schweizer Verhältnisse wohl völlig normalo.

Und gerade diese Geschichte muss einfach auch einmal erzählt werden: Warum jemand aufhört zu trinken, ohne offensichtlich ein Problem mit Alkohol zu haben.

Meine wichtigste Antwort ist: Weil der Alkohol mir nicht gut tat. Auch in kleinen Mengen nicht. Das kurze, grossartige Hoch nach dem ersten Glas: Es fehlt mir. Aber es war all die negativen Konsequenzen nicht wert. Allem voran den Kater. Den schlechten Schlaf. Die Dünnhäutigkeit. Die gestörte Verdauung. Die schlechte Haut. Die sinnlosen Streitigkeiten. Die schlechte Laune am Tag danach. Bei einem Glas bleibt es ja leider selten, weil schon das erste Glas unser Kontrollzentrum ausser Kraft setzt. Und dann wollen wir am liebsten nie mehr aufhören.

Es gibt keine «gesunde Menge Alkohol»

Ich muss das noch einmal anders schreiben: Alkohol tut niemandem gut. Alkohol ist ein Gift. Er tötet vielleicht nicht so schnell wie Zyankali, aber er tötet. Es gibt keine «gesunde Menge Alkohol», sagte der Alkoholforscher Helmut Seitz jüngst im «Spiegel». «Alkohol ist schädlich in jeglicher Form.» Auch wenn der neue Trend der «Hard Seltzer» etwas anderes vorgaukelt. Auch wenn noch so oft behauptet wird, ein Glas Wein täglich sei gut fürs Herz, wie jüngst mal wieder im Bestseller «Kompass für die Seele» von Bas Kast. (Können wir das hier kurz richtigstellen: Es ist Bullshit. Die sekundären Pflanzenstoffe in der Traubenhaut, die gesund sind, können wir auch zu uns nehmen, indem wir einfach Trauben essen.)

Alkohol ist Gift. Und wir würden ja auch kein Zyankali in uns reinschütten, auch nicht nur ganz kleinen Mengen.

Wir brauchen so dermassen dringend etwas, das unsere Gefühle ausschaltet für einen kurzen Moment, und dafür ist Alkohol perfekt – er ist ein Sedativum. Er betäubt uns und unsere ungemütlichen Gefühle.

Warum wir es trotzdem tun?

Weil uns von Klein auf vermittelt wurde, dass Alkohol dazugehöre zu einem guten Leben.

Weil der Körper krass ist und die Schäden lange scheinbar zu kompensieren vermag.

Und vor allem: Weil wir so dermassen dringend etwas brauchen, das unsere Gefühle ausschaltet für einen kurzen Moment, und dafür ist Alkohol perfekt – er ist ein Sedativum. Er betäubt uns und unsere ungemütlichen Gefühle.

Was wir allerdings nicht merken, weil es so schleichend passiert: Alkohol ist auch eine depressiogene Substanz, das heisst: Er führt zu depressiven Verstimmungen. Ein schlimmer Kater ist nur die Spitze des Eisbergs. Auch mit etwas Alkohol ab und zu schaden wir unserer Stimmung. Um diesen Mechanismus halbwegs einfach zu erklären:

Zuerst einmal macht Alkohol etwas Tolles. Er stimuliert Rezeptoren in unserem Hirn und fördert damit die Ausschüttung eines Botenstoffs, der uns beruhigt, entspannt und uns das bekannte fröhliche, gelassene Gefühl vermittelt. Gleichzeitig überfluten wir unser Hirn unter Alkohol mit einen Cocktail von verschiedenen wichtigen Hormonen: Cortisol, Adrenalin, Serotonin und Dopamin. Wir baden unser Hirn quasi im Glück. Und zusätzlich blockiert Alkohol die Wirkung eines Neurotransmitters, der für Sorgen und Ängste verantwortlich ist.

Alkohol ist auch eine depressiogene Substanz, das heisst: Er führt zu depressiven Verstimmungen.

So weit, so fantastisch. Aber dann kommts: Dieser Prozess verändert das Gleichgewicht der Neurotransmitter in unserem Gehirn. Als Reaktion auf diese Flut produziert unser Körper mehr von den angstauslösenden Stoffen und reduziert die Produktion der beruhigenden Stoffe. Das Pendel schwingt zurück. Wir fühlen uns ängstlich, pessimistisch, schlecht. Neudeutsch: Wir verspüren Hangxiety (Hangover & Anxiety).

Bei häufigem und wiederholtem Alkoholkonsum wird unsere Gehirnchemie nachhaltig gestört, und wir können uns ohne Alkohol nicht einmal mehr so entspannt fühlen, wie wir uns einst fühlten, bevor wir unser allererstes Glas getrunken hatten (Kinder brauchen keinen Alkohol, um ausgelassen zu sein, merkt ihr was?). Wenn wir regelmässig Alkohol trinken, beginnt unsere Stimmung quasi schon bei unter Null. Wir haben unsere Nulllinie verschoben (Da beginnt die Suchtspirale).

Hinzu kommt, dass wir (wieder entgegen der landläufigen Meinung) nach Alkoholkonsum schlecht schlafen. Zuerst fallen wir zwar wie ein Stein in einen tiefen Schlaf. Aber die Abbauprodukte des Alkohols, Aldehyde, hindern uns anschliessend daran, in den fürs Gedächtnis wichtigen REM-Schlaf überzugehen. Wir sind also eher betäubt, als dass wir schlafen. Und zwar schon nach einem Glas. Nach einem Glas.

Und das sind nur zwei der Folgen, die Alkoholkonsum zeitigt. Weitere Fun Facts: Schon 30 Minuten nach dem Konsum von Alkohol schädigt er das wichtige Mikrobiom in unserem Darm. Langfristig begünstigt er Krebserkrankungen. Brustkrebs beispielsweise kommt auch deshalb immer häufiger vor, weil Frauen immer mehr Alkohol trinken.

Muss ich noch weiterfahren? Ich glaube nicht. Das wissen wir eigentlich schon alles, oder? Warum trinken trotzdem in der Schweiz 65 Prozent der Männer und 46 Prozent der Frauen mindestens einmal pro Woche Alkohol?

Weil er süchtig macht, klar. Aber warum fangen wir überhaupt damit an?

Es geht hier um ein Gift, das, würde es heutzutage entdeckt, niemals eine Marktzulassung erhalten würde, weil es eine dermassen schädliche Droge ist.

Weil uns unser Leben lang die Erzählung eingetrichtert wird, Alkohol sei natürlicher Teil unserer Kultur und unseres Lebens. Nicht einmal jene, die sich eigentlich von Berufes wegen gegen das Alkoholtrinken einsetzen sollten, trauen sich öffentlich, dezidiert etwas gegen den Konsum zu sagen. So erklärte zum Beispiel der Leiter der Fachstelle für Suchtprävention des Bernischen Blauen Kreuzes in einem grossen Interview: «Ein Herantasten an Alkohol gehört dazu.» Man stelle sich vor, er hätte dazu geraten, Jugendliche sorgsam an Kokain oder Heroin heranzuführen.

Das Radikalste, was hierzulande öffentlich von Fachleuten gefordert wird, ist ein kontrollierter Konsum. Drink responsibly, als ob es so etwas wie «verantwortungsvolles» Trinken gäbe. Dabei beweist jeder Versuch, den Alkoholkonsum zu kontrollieren, eigentlich nur, dass der Alkohol längst die Kontrolle übernommen hat. Oder muss jemand seinen Wasserkonsum unter Kontrolle halten? Schauen, dass man nicht zu viel Gemüse isst? Schon mal eine Hülsenfrüchte-Pause gemacht, um sich zu beweisen, dass man es noch im Griff hat mit den Linsen und Kichererbsen?

Marketing-Brimborium um Craft Beer und Naturwein

Wäre Alkohol nicht so wahnsinnig gut vermarktet, würde dieser riesige Widerspruch – staatlich geförderte Herstellung, Vertrieb, Vermarktung und Konsum eines Gifts – mehr Leuten auffallen als einer Handvoll Störenfried*innen. Dank dem grossen Marketing-Brimborium rund um Kultur und Tradition des Alkohols bemerkt aber kaum jemand diese grosse Gehirnwäsche (das klingt jetzt verschwörungstheoretisch, kommt aber nicht aus dieser Ecke). Auch Bierbrauen und Weinkeltern sind letztlich fancy geframte Vorgänge zum Herstellen eines Gifts, und der Alkohol in Craft Beer und Bio-Naturwein ist nicht gesünder als das industrielle Zeug. Es ist einfach Alkohol in hip. Eine Droge, die, würde sie heutzutage entdeckt, niemals eine Marktzulassung erhalten würde, weil sie dermassen schädlich ist.

Gerade Frauen waren in den vergangenen Jahren ein bevorzugtes Zielpublikum der Alkoholindustrie. Mit grossem Erfolg, der Anteil trinkender Frauen nimmt zu. Sei es, weil jungen Frauen vermittelt wird, wenn sie nur wie die Männer Bier saufen, seien sie unkomplizierte Cool Girls. Oder weil Mütter dermassen am Rand sind mit Kinderbetreuung, Erwerbsarbeit und Mental Load, dass Alkohol als einzige Belohnung am Ende des Tages Abhilfe verschafft («Mommy Juice», «Wine Moms»). Beides ist weniger feministisch, als es auf Instagram den Anschein macht. Im Gegenteil: Alkohol betäubt uns Frauen, damit wir nicht aufbegehren gegen die Schlechterstellung in praktisch allen Lebensbereichen. Mach dich mal locker, hier, ein Glas Rosé, eine Flasche Orange Wine.

Wie bei allem gehts auch beim Alkohol um Geld. Und zwar um sehr viel Geld. 8 Milliarden Franken beträgt angeblich allein der Umsatz der Alkoholproduzenten und -Importeure in der Schweiz – die Gastronomie ist da noch nicht einmal mit eingerechnet. Ihre Stimme zählt. Die Weinbauern haben dabei in der Schweiz einen ganz spezielle Sonderstellung. Nicht nur wird auf Wein – im Unterschied zu allen anderen Alkoholarten – keine Steuer erhoben. Die Schweizerische Staat zahlt den Weinbauern sogar mehrere Millionen pro Jahr an die Weinwerbung.

Gerade Frauen waren in den vergangenen Jahren ein bevorzugtes Ziel der Alkoholindustrie. Mit grossem Erfolg, der Anteil trinkender Frauen nimmt zu.

Es ist völlig paradox. Laut einer wissenschaftlichen Untersuchung, die im britischen Fachblatt «The Lancet» erschienen ist, ist Alkohol die gefährlichste Droge überhaupt, berücksichtigt man, welchen Schaden der Alkohol für die konsumierenden Menschen und ihr Umfeld anrichtet. Schädlicher als Heroin oder Meth. Allein in der Schweiz belaufen sich die volkswirtschaftlichen Schäden, die Alkohol jährlich verursacht, gemäss einer Studie des Bundesamt für Gesundheit auf insgesamt 2,8 Milliarden Franken pro Jahr, wobei diese Zahl auf einer konservativen Berechnung beruhe. Alkohol ist auch sehr oft involviert, wenn Gewalt ausgeübt wird, gerade auch sexualisierte Gewalt gegen Frauen.

Trinken wird das neue Rauchen

Ich mach da nicht mehr mit. Und ich hoffe, bald auch andere nicht mehr. Der Trend zu alkoholfreien Getränken und Sobriety-Content macht mir Mut. Ich denke, in einigen Jahrzehnten werden wir aufs Trinken ähnlich zurückblicken, wie wir heute aufs Rauchen schauen.

Aber habt keine Schuldgefühle, falls ihr (noch) nicht ganz aufhört. Jedes Glas weniger, jede alkoholfreie Alternative zählt.

Das ist hier erst einmal meine ganz persönliche Form des Aktivismus, auch ein bisschen feministischer Aufstand. Macht mit!

 

Hilfe und Ressourcen zum Thema Sobriety und Alkohol

Für Suchtbetroffene oder Menschen mit Suchtbetroffenen im Umfeld: Die Stiftung Berner Gesundheit hat ein grosses und niederschwelliges Beratungsangebot (Kontaktaufnahme ist via Telefon, Chat und online möglich).

frau_brehmer: Maria Brehmer ist Alkoholfrei-Coach und liefert auf Instagram niederschwellige Tipps zu einem anderen Umgang mit Alkohol.

App 1: Die NoA-App der Stiftung Berner Gesundheit unterstützt Menschen auf dem Weg zur Unabhängigkeit.

App 2: «Days since» ist ein simpler Tagezähler.

«SodaKlub, der Podcast für Unabhängigkeit»: Mika und Mia sprechen nicht nur übers Nüchternsein schlau und eloquent, sondern auch über Themen wie Britney Spears und künstliche Intelligenz. Zum Podcast.

«Ohne Alkohol mit Nathalie»: Noch ein Sober-Podcast, der auch von eindrücklichen Erfahrungsberichten lebt. Host und Sobriety-Coach Nathalie Stüben hat auch ein Buch geschrieben: «Ohne Alkohol – Die beste Entscheidung meines Lebens».

«Einfach nüchtern» von Annie Grace wirft einen nüchternen Blick auf Sucht in unserer Gesellschaft. Augenöffnend. (Buch auf Deutsch, Hörbuch auf Englisch)

«Drink?» von David Nutt (Buch und Hörbuch gibts nur auf Englisch): Der Psychiater und Pharmakologe war oberster Suchtberater der britischen Regierung und versammelt in diesem Buch wissenschaftliche Fakten über Alkohol.

«Alcohol Explained» von William Porter zeigt auf, wie Alkohol wirkt. Gibts als Buch oder Hörbuch.

«We Are The Luckiest» von Laura McKowen: klassische «Quit Lit», leider nur auf Englisch verfügbar (dafür als Buch oder Hörbuch).

«Quit Like A Woman» von Holly Whitaker weist auf eine Art feministischen Weg zu einem anderen Umgang mit Alkohol hin (Buch auf Deutsch, Hörbuch auf Englisch).

«Nüchtern: Über das Trinken und das Glück» von Daniel Schreiber ist ein deutschsprachiges Sobriety-Buch; schlaue Gesellschaftsanalyse und Erfahrungsbericht in einem.

«Endlich ohne Alkohol» von Allen Carr funktioniert gleich wie die «Endlich Nichtraucher!»-Bücher des gleichen Autors: durch eine gründliche Gegen-Gehirnwäsche. Wirksam, aber teilweise recht altmodisch (think golfspielende Männer in Führungspositionen). Gibts als Buch und Hörbuch auf Deutsch.

Hier eine Liste der «New York Times» mit noch vielen weiteren hilfreichen Büchern, u.a. von Ruby Warrington und Catherine Gray.

Korrigendum: Dieser Artikel enthielt zuerst die Information, Alkohol verursache volkswirtschaftliche Kosten von 7,7 Milliarden Franken pro Jahr. Dieser Betrag bezieht sich jedoch auf Sucht insgesamt, inkl. Nikotin. Richtig sind 2,8 Milliarden allein für den Alkohol. Wir bitten um Entschuldigung für den Fehler.