Kleinstadt Agentur Über uns
Newsletter Kontakt

Jetzt darf man nicht einmal mehr Mami sagen! – Wirklich?

Wie grosse Medien das Narrativ vom «Genderwahn» bedienen und damit ein rechtes Wahlkampfthema übernehmen.
27 Sep 2023

Irgendwann war die Empörung sogar von Zürich bis nach Bern geschwappt. «Ich bin ja auch für Gleichstellung und so», begann der Kollege (die übliche Präambel, bevor man dann normalerweise genau das Gegenteil sagt), «aber findest du nicht auch ein wenig übertrieben, dass man in der Stadt Zürich jetzt nicht mehr Mami sagen darf?»

Häh? In Zürich darf man nicht mehr Mami sagen?

Zwei Googleresultate später war klar, dass der liebe Kollege da – ebenso wie Tausende andere – einer klassischen Empörungsspirale aufgesessen war. Niemand hatte irgendwem verboten, «Mami» oder «Papi» zu sagen. Die Mütter- und Väterberatung der Stadt Zürich hatte lediglich in einem Newsletter, der an freiwillige Abonnent*innen geht (ui, ein Genderstern!) Tipps dazu gegeben, wie wir gendersensibler formulieren können. Hier ist er im Wortlaut.

Konkret steht da:

«Ziel der gendersensiblen Sprache ist es, alle Menschen mit deren geschlechtlichen Verteilung mitzudenken und gleichwertig zu betrachten und zu benennen. Denn die Art und Weise, wie wir Erwachsene mit Kindern sprechen, prägt ihre Wahrnehmung und damit ihre Identität. Wie wird das in ihrer Familie gelebt? Was stimmt für Sie?

Tipps für den Familienalltag (…)

  • Wenn Sie von anderen Familien reden, können Sie neutrale Bezeichnungen wie z.B. Kind, Elternteil oder Betreuungsperson verwenden.
  • Nehmen Sie Ihr Kind als Individuum mit eigenen Bedürfnissen und Interessen wahr und sprechen Sie in einer liebevollen Art und Weise davon, was Sie bei ihm sehen.»

Das ist nun wirklich maximal sorgsam formuliert, es sind Vorschläge in der Möglichkeitsform. «Was stimmt für Sie?», steht da sogar noch. «Wenn Sie von anderen Familien reden, können Sie …». Nirgends steht, man müsse das jetzt so machen. Nirgends steht, die Begriffe Mama oder Papa würden ersetzt. Nirgends! Trotzdem steht es so in den Titeln.

Nirgends steht, die Begriffe Mama oder Papa würden ersetzt.

Kurz auf die inhaltliche Ebene. Ein Beispiel, warum genderneutrale Sprache hilfreich sein könnte: Mein Kind will sich mit einem anderen Kind zum Spielen treffen. Anstatt standardmässig zu sagen, es soll seine Mutter fragen, frage ich, wer von seinen Eltern denn heute zuhause sei, weil sonst sofort wieder die Mutter die Arbeit hat, das «Playdate» zu koordinieren. Anderes Beispiel: Ein Kind fällt auf dem Spielplatz hin, es scheint alleine zu sein. Statt hinzurennen und zu fragen, wo seine Mama sei, kann ich einfach trösten und warten, bis jemand auftaucht. Wenn es darum geht, ein Abschiedsgeschenk für die Lehrperson zu besorgen, könnte ich die Väter auch in die Whatsappgruppe einladen. Wenn ich mein Kind auf ein anderes Kind hinweisen möchte, kann ich statt «schau, der Bub» oder «das Mädchen» sagen: Schau, das Kind. So werden einerseits Verwechslungen ausgeschlossen, andererseits wird so weniger schubladisiert.

Es sind kleine Dinge, aber sie sind eben notwendig, wenn wir beispielsweise wollen, dass Kinderhaben nicht mehr länger allein als Mütteraufgabe gilt. Aber bis wir da sind, braucht es eben noch ganz viele Newsletter, Insta-Posts, Hinweise und nervige Frauen wie mich, die unablässig darauf aufmerksam machen.

So schürt man Empörung

Wie wurde nun aber aus diesem löblichen Ansinnen der Mütter- und Väterberatung gleich ein Sprachverbot, ein angeblicher weiterer Fall von Woke- und Gender-Wahn?

Das Ganze ist ein Lehrstück dafür, wie sich Empörung schüren lässt:

1.

Die NZZ schreibt einen ersten Artikel. Darin steht in Titel und Lead, ein Newsletter löse «Diskussionen aus» und stosse «auf Kritik». Der Artikel ist hinter der Bezahlschranke. Bei wem also stösst der Newsletter angeblich auf Kritik? Bei genau einer Person. Die NZZ hat lediglich SVP-Kantonsrätin Susanne Brunner um ein Statement gebeten, die sich «mit ihrer Initiative ‹Tschüss Genderstern› für die Abschaffung des Genderstern in der städtischen Verwaltung» einsetze. Und was sagt Susanne Brunner wohl zu Tipps für gendersensible Erziehung? Man kann es sich denken.

Eine «Diskussion» gab es bis zu diesem Artikel notabene nicht.

Eine «Diskussion» gab es bis zu diesem Artikel notabene nicht. Aber die Formulierung «sorgt für Kritik» oder «sorgt für Diskussionen» ist sehr praktisch – Journalist*innen können damit elegant etwas zur Diskussion stellen, das sie womöglich selber kritisieren möchten, ohne dass sie das so direkt sagen müssen.

2.

Jetzt kommt «20 Minuten» ins Spiel. «20 Minuten» publiziert einen Nachzug, in dem es eine Umfrage einsetzt (Engagement!), deren Ausgang wir alle schon vorher kennen, die Fragestellung lautet nämlich: «‹Elternteil› statt Vater und Mutter – was meinst du dazu?»
Natürlich finden das die meisten «Quatsch». Ich will doch nicht, dass mein Kind mir Elternteil sagt! (Hier der Artikel.)

3.

Nun kommt der klassische «20 Minuten»-Move: Es fabriziert sich selber eine weitere Schlagzeile, indem es die («nicht-repräsentativen») Umfrageergebnisse nimmt («97 Prozent halten den Daumen nach unten») und zusammen mit ein paar Statements von Politikerinnen und Politikern zu einem weiteren Artikel verquarkt.

Das ist nun wieder einmal klassischer Both-side-ism: Wir nehmen ein Thema, das ganz klar einer politischen Seite dient, und fragen dann alle um ihre Meinung – journalistische und demokratische Pflicht getan. Dass so trotzdem das Thema bewirtschaftet wird, geht elegant unter. Mit diesem Vorgehen kann «20 Minuten» gleichzeitig Empörung verstärken und daraus mehrfach Klicks ernten – sozusagen das Perpetuum Mobile des Klickjournalismus. (Hier zum Artikel.)

Klassischer Both-side-ism: Wir nehmen ein Thema, das ganz klar einer politischen Seite dient, und fragen dann alle um ihre Meinung. Dass so trotzdem das Thema bewirtschaftet wird, geht elegant unter.

4.

Jetzt kommt die «SonntagsZeitung», bei ihr ist der Newsletter schon «umstritten». Der gleiche Autor, der titelte, Studentinnen wollten lieber einen erfolgreichen Mann statt selber Karriere zu machen, hat jene Person aufgetrieben, die das Buch geschrieben hat, aus dem die Tipps ursprünglich stammen. Und, oha, Ravna Marien Siever ist «queer-aktivistisch» unterwegs! Zwar muss selbst die «SonntagsZeitung» einräumen, dass «viele der Tipps im Newsletter (…) völlig unumstritten und für die meisten Eltern wohl eine Selbstverständlichkeit» seien. Gleichzeitig erwähnt sie die «20 Minuten»-Umfrage (ohne zu erwähnen, dass diese nicht repräsentativ ist) und betont, dass der SP-Stadtrat «Fehler eingesteht». Hier gehts zum Artikel hinter der Bezahlschranke.

5.

Zuletzt lässt sich schliesslich die «NZZ am Sonntag» süffisant über diese Sprachverhunzung aus, sodass es jetzt vermutlich auch noch die etwas linker stehenden NZZ-Leser*innen checken: Das war ein völlig lächerliches Ansinnen!

Gar nichts wird «ersetzt»

Worum es ursprünglich einmal ging, ist egal. Dass Mädchen und Jungen, Mütter und Väter in unserer Gesellschaft unterschiedlich behandelt werden, darüber müssen wir dann nicht mehr diskutieren. Dass Mädchen beispielsweise weniger Taschengeld erhalten, Jungen und Mädchen stereotyp behandelt werden, dass Frauen immer noch den Grossteil der unbezahlten Arbeit übernehmen (31,9 Stunden pro Wochen vs. 20,6 Stunden pro Woche bei den Männern, Zahlen von 2020 vom Bundesamt für Statistik) und gleichzeitig von Zeitungen wie der NZZ immer wieder mehr oder minder offen dazu aufgefordert werden, doch gopferteli endlich mehr Erwerbsarbeit zu leisten, am liebsten 100 % («Dolce-Vita-Gesellschaft») – zu komplex. Dass wir damit anfangen könnten, nicht standardmässig für alles, was das Kind betrifft, die Mutter in die Pflicht zu nehmen, ist doch viel zu unbequem! Pssst! Reden wir AM BESTEN EINFACH NICHT über das Thema!

Lieber reiten wir darauf herum, dass man angeblich nicht mehr «Mami» sagen darf. Obwohl das nie jemand gesagt hat. Es gibt kein behördliches Verbot für «Mama» oder «Papa», «Mutter» oder «Vater». Einzig Vorschläge für ein paar wenige interessierte Eltern, alles in der Möglichkeitsform. (Und vermutlich schlaflose Nächte bei wohlmeinenden Mütter-/Väterberaterinnen, die zur Zielscheibe eines Shitstorms wurden.)

Wir freuen uns schon auf den 22. Oktober, wo die gleichen Medien dann völlig überrascht feststellen werden, wie die Polarisierung wieder stärker zunahm.

Gewinner dieser Geschichte: die SVP, die ganz ohne Aufwand elegant ihr Wahlkampfthema «Genderwahn» bewirtschaften konnte. Und die Medienhäuser, die mit der selbst geschürten Empörung Klicks generierten.

Wir freuen uns schon auf den 22. Oktober, wo die gleichen Medien dann völlig überrascht feststellen werden, wie die Polarisierung wieder stärker zunahm. Polarisierung: Sorgt für Diskussionen! Sorgt für Kritik! Sorgt für Ärger! Sorgt für Klicks!