Xenia Schlegel, die Schweiz ist ein wohlhabendes, hochentwickeltes Land mit gutem Bildungsstand – ist Gewalt an Kindern hierzulande überhaupt ein Problem?
Ja, das ist es leider. Jedes zweite Kind in der Schweiz erlebt psychische oder physische Gewalt in seiner Erziehung. Viele Eltern greifen in herausfordernden Erziehungssituationen regelmässig auf unangemessene psychische oder physische Bestrafungen zurück. Diese reichen von Ablehnung und Demütigung über Ohrfeigen und Prügelstrafen bis hin zu Vernachlässigung und sexualisierter Gewalt.
Sind denn körperlicher Strafen an Kindern nicht verboten?
Die Schweiz hat 1997 die UNO-Kinderrechtskonvention ratifiziert. Damit verpflichtet sie sich, Eltern an ihre Erziehungspflicht zu mahnen und sie dabei zu unterstützen, das Kindeswohl in ihrer Erziehung bestmöglich zu berücksichtigen und zu schützen. Dazu gehört auch, dass es eine gesetzliche Grundlage für das Verbot von körperlichen Züchtigungen, seelischen Verletzungen und anderen entwürdigenden Massnahmen gibt. Die Schweiz hat das Recht des Kindes auf eine gewaltfreie Erziehung nicht ausdrücklich in der Gesetzgebung festgehalten, sie erfüllt ihre Schutzpflicht also nicht vollständig. Dies legen auch Kinderschutzstatistiken und die jüngsten Ergebnisse von repräsentativen Studien nahe. Ausserdem gilt in der Schweiz die Erziehung als Privatsache – die öffentliche Schweiz unternimmt deshalb zu wenig gegen Gewalt in der Erziehung.
«Die Schweiz hat das Recht des Kindes auf eine gewaltfreie Erziehung nicht ausdrücklich im Gesetz festgehalten.»
Was würde sich für betroffene Kinder konkret verändern, wenn es dieses Verbot gäbe?
Ein Verbot hat immer eine Signalwirkung – wenn es zusätzlich von breit angelegten Sensibilisierungsmassnahmen, Informationen und kostenlosen Weiterbildungsmassnahmen gestützt wird, wird es wirksam. Das zeigen Beispiele aus den umliegenden Ländern, die ein solches Verbot eingeführt haben: Die Anzahl der betroffenen Kinder sinkt dort schnell.
Gibt es ein Land, das bezüglich Kinderschutz eine Vorreiterrolle spielt? Was läuft dort anders?
Schweden hat vor 40 Jahren ein komplettes Verbot von Körperstrafen an Kindern eingeführt. Solche Verhaltensveränderungen brauchen mindestens eine Generation, bis sie greifen. In Schweden hat der Generationenwechsel also bereits stattgefunden. Das heisst nicht, dass es in Schweden keine Gewalt gegen Kinder gibt, aber Gewalt an Kindern ist dort unterdessen gesellschaftlich verpönt.
Neben der physischen Gewalt spielt die psychische Gewalt eine grosse Rolle. Was ist psychische Gewalt an Kindern genau?
Psychische Gewalt ist die häufigste Form von Gewalt und sehr vielfältig. Dazu gehört beispielsweise, wenn Kindern mutwillig Angst gemacht wird, wenn sie verspottet werden, aber auch, wenn Kindern keine Grenzen gesetzt werden. Viele Kinder erleben täglich psychische Gewalt. Sie wird ihnen oft bewusst und ebenso oft ungewollt zugefügt. Psychische Gewalt ist schwer fassbar, weil sie individuell erlebt wird und ihre Wirkung von aussen oft nicht erkennbar und einschätzbar ist.
«Als psychische Gewalt gilt auch, wenn Kinder verspottet werden oder ihnen keine Grenzen gesetzt werden.»
Und welche Folgen hat Gewalt in der Erziehung?
Die Folgen von Gewalt sind vielzählig: Psychische und physische Gewalt erschüttern das Vertrauen des Kindes in seine Eltern, schwächen das Selbstvertrauen und gefährden damit eine gesunde Entwicklung. Ohnmachtsgefühle, Niedergeschlagenheit, Wut, Widerstand und übermässiger Trotz sind mögliche Folgen. Kinder, die zuhause Gewalt erlebt haben, neigen zudem später selbst dazu, Gewalt als legitimes Mittel der Konfliktlösung einzusetzen. Körperliche Gewalt im Kindesalter kann auch langfristig zu schweren Belastungen und Einschränkungen führen: Ängstlichkeit, Kontaktarmut, Drogensucht, Aggressivität, fehlendes Einfühlungsvermögen. Gewaltanwendung in der Erziehung führt nicht nur nicht zum gewünschten Ziel, sondern verursacht neben individuellem Leid auch hohe Folgekosten für die öffentliche Hand.
Was ist hier die Rolle von Kinderschutz Schweiz?
Wir von Kinderschutz Schweiz vertreten eine klare Position: Weder psychische noch physische Gewalt hat in der Erziehung etwas zu suchen. Denn Körperstrafen, psychische Demütigungen oder Liebesentzug sind langfristig keine wirksamen Erziehungsmittel. Kinderschutz Schweiz ist eine seit 1982 bestehende privatrechtliche Stiftung, die sich komplett durch Spenden finanziert, wir erhalten also keine finanzielle Unterstützung von der öffentlichen Hand. Da es in der Schweiz kein Bundesamt für Kinder gibt (im Gegensatz zu vielen anderen europäischen Ländern), übernehmen wir soweit wie möglich diese Rolle und geben beispielsweise Stellungnahmen und Empfehlungen zum Thema Kindeswohl und Kindesschutz zu Handen des Parlaments ab. Wir haben es uns als Aufgabe genommen, die starke Stimme der Kinder in der Schweiz zu sein und arbeiten unter anderem auf die oben erwähnte Gesetzesänderung hin.
«Verbote alleine bewirken wenig, zuerst muss ein gesellschaftlicher Paradigmenwechsel stattfinden.»
Wie wollen Sie diese Ziele konkret erreichen?
In der Regel wenden wir uns an Fachleute – die sind sich aber grösstenteils einig, dass die aktuelle Situation bezüglich Gewalt in der Erziehung in der Schweiz unzureichend ist. Momentan wenden wir uns darum mit der nationalen Sensibilisierungskampagne «Starke Ideen – Es gibt immer eine Alternative zur Gewalt» erstmals an die Öffentlichkeit. Diese langfristig angelegte Kampagne soll die öffentliche Diskussion über Erziehungsstile anregen und mit gezielter Informationsvermittlung ein Umdenken zu Gunsten gewaltfreien Erziehungsmethoden begünstigen. Denn Verbote alleine bewirken wenig, zuerst muss ein gesellschaftlicher Paradigmenwechsel hin zur gewaltfreien Erziehung stattfinden. Durch eine Haltungsänderung in der Bevölkerung wird der Druck auf den Gesetzgeber steigen, um in der Folge ein klares Zeichen zu Gunsten der Kinder zu setzen. Dazu werden wir uns im Rahmen der Kampagne in einem nächsten Schritt noch genauer äussern. Jetzt geht es zuerst um die Schärfung des Bewusstseins für die eigene Erziehung, was Gewalt in der Erziehung genau ist und bewirkt, und wie man es anders machen kann.
Was trägt dazu bei, dass wir in der Schweiz diesbezüglich noch nicht weiter sind?
Bisher sind alle politischen Vorstösse für ein Verbot der Körperstrafe gescheitert: Das politische System in der Schweiz trägt dazu bei. Gewalt in der Erziehung ist ein unpopuläres Thema für PolitikerInnen, weil in weiten Kreisen der Bevölkerung noch immer die Meinung vorherrscht: «Ab und zu braucht es halt eine Ohrfeige oder einen Klaps … und die hat noch niemandem geschadet». Erziehung gilt für viele als Privatsache in die sich der Staat nicht einzumischen hat. Diese Kommentare auf einen Beitrag zu unserer Kampagne im «20 Minuten» zeigten beispielsweise auf, wie stark Gewalt in der Erziehung hierzulande noch gutgeheissen wird – mich hat das erschüttert. Es gibt noch viel zu tun. Erziehung ist Privatsache. Gewalt an Kindern nicht.
«Gewisse Online-Kommentare zeigten uns auf, wie stark Gewalt in der Erziehung hierzulande noch gutgeheissen wird – mich hat das erschüttert.»
Ihre aktuelle Kampagne ist sehr emotional – aber glauben Sie, dass die Eltern nach dem Schauen des Clips wirklich ein Glas Wasser trinken, statt ihr Kind anzuschreien? Besteht damit nicht die Gefahr, die wahren Ursachen des gewaltsamen Verhaltens zu vernachlässigen und die oft verzweifelten Eltern alleine zu lassen?
Unser Hauptziel ist es, ein Bewusstsein für Risikosituationen zu schaffen und Alternativen aufzuzeigen. Die Kampagne soll im ersten Schritt sensibilisieren und entlasten, indem sie klar macht, dass es allen Eltern so geht. Sie zeigt einfache Sofortmassnahmen, wie man sich in schwierigen Situationen zuerst selbst beruhigen kann, bevor man sich mit dem Nachwuchs auseinandersetzt. Im Zusammenleben mit Kindern gibt es immer wieder Situationen, in denen Eltern sich ärgern oder wütend werden. Unsere Botschaft dazu ist: Halten Sie kurz inne, bevor Sie explodieren. Lassen Sie Ihren Ärger nicht durch Worte oder Taten an Ihren Kindern aus. Um die erste Wut «verrauchen» zu lassen, gibt es viele verschiedene Handlungsalternativen: den Ort kurz verlassen und tief durchatmen, einmal ums Haus laufen, etwas Warmes trinken und so weiter (mehr dazu hier). Wichtig ist es, die Situation später in Ruhe zu klären.
Woher kommt diese Gewalt in der Erziehung?
Für die meisten Eltern ist «Gewalt in der Erziehung» ein diffuser und unklarer Begriff, viele haben ein wenig klares eigenes Problembewusstsein. Ausserdem wissen wir aus einer Studie zum Bestrafungsverhalten von Eltern in der Schweiz der Universität Fribourg, dass Gewaltanwendung durch Eltern nicht in erster Linie im Rahmen einer überlegten, absichtsvollen Erziehungshaltung erfolgt. Vielmehr lassen Eltern sich in schwierigen, stressigen Erziehungssituationen zu gewaltsamen Handlungen hinreissen. In den meisten Fällen wollen die Eltern ihren Kindern also keine Gewalt antun, sie fühlen sich deswegen schlecht und bereuen ihre Handlungen danach.
«Früher war Gewalt ein bewusstes Erziehungsmittel – das ist es heute für viele nicht mehr. Eine echte Alternative dazu ist aber gesellschaftlich nicht verankert.»
Gewalt wird also meistens nicht mit Absicht eingesetzt – warum werden trotzdem so viele Eltern gewaltsam?
Konsequent zu bleiben, sich auch gegen die Wünsche des Kindes zu stellen, als Eltern die eigenen Werte und Grenzen durchzusetzen und dabei gleichzeitig auch die Grenzen und die Würde des Kindes zu respektieren – das ist die tägliche, grosse Herausforderung der Erziehung. Gewalt in der Erziehung findet genau dort statt, wo dieser Balanceakt misslingt und Erziehungssituationen eskalieren. Auslöser ist dabei in vielen Fällen eine Überforderung der Bezugspersonen des Kindes; auch Unwissen über die kindlichen Bedürfnisse und die kindliche Entwicklung spielt meist eine grosse Rolle. Ein wichtiger Faktor ist zudem, dass sich die Haltung gegenüber Gewalt in den letzten 15 Jahren verändert hat: Früher war Gewalt ein bewusstes Erziehungsmittel – das ist es heute für viele nicht mehr. Eine echte Alternative dazu ist aber gesellschaftlich nicht verankert, viele Eltern haben Mühe mit diesem Vakuum und wissen nicht, wie sonst zu reagieren. Ausserdem sind wir es uns sehr gewohnt, zu reagieren und zu funktionieren, es gibt in unserem Alltag wenig Raum zur Selbstreflexion. Geringe Erholungsfreiräume, Schlafentzug, Arbeits-, gesundheitlicher oder finanzieller Stress bringen uns ausserdem rasch ans Ende unserer Handlungsoptionen, dann fallen wir zurück in die bekannten Muster von Drohungen und Bestrafungen. Die einfachste Möglichkeit ist es also, sich selber Abstand zu verschaffen.
Werden viele Strategien nicht einfach aus der eigenen Kindheit übernommen?
Es ist erwiesen, dass das Gewaltrisiko bei Jugendlichen, welche als Kind selber Opfer elterlicher Gewalt wurden, mehr als doppelt so hoch liegt wie dasjenige von Jugendlichen, welche ohne Gewaltanwendung erzogen worden sind. Je länger und massiver die Gewaltausübung ist, desto höher das spätere Gewaltrisiko. Zudem bestehen Hinweise darauf, dass körperliche Strafen besonders dann zu späterer Gewalt führen, wenn sie mit geringer emotionaler Zuwendung kombiniert sind. Darum ja: Gewalt ist sowohl Folge als auch Ursache von Gewalt.
«Gewalt ist sowohl Folge als auch Ursache von Gewalt.»
Kann man dagegen überhaupt etwas machen? Wie kann man eine eigene gewaltvolle Kindheit überwinden und selber anders erziehen als die eigenen Eltern?
Eltern sein ist eine anspruchsvolle Aufgabe, die viel Energie braucht. Aber es ist möglich, aus den selber erlebten Mustern auszubrechen: Schätzen Sie Ihre Reserven richtig ein, und sorgen Sie für Ihr Wohlbefinden. Es ist legitim, sich Entlastung oder Rückenstärkung zu holen. Vor allem wenn Sie merken, dass Sie regelmässig auf unangemessene und verletzende psychische und physische Bestrafungsmittel zurückgreifen. Nehmen Sie die Hilfe von Freunden, Verwandten und Bekannten in Anspruch, oder holen Sie sich Unterstützung bei Fachpersonen. Für Eltern, die als Kinder selber Gewalt in ihrer Erziehung erfahren haben, ist das Aufgehobensein in einer guten Partnerschaft ein wichtiger Schutzfaktor, um den Kreislauf zu durchbrechen. Ein offener, verständnisvoller Partner hilft Betroffenen positive, korrektive Erfahrungen zu machen. So können sie einen Teil ihrer Vergangenheit mithilfe der Partnerin oder des Partners hinter sich lassen. Und schliesslich lässt sich mit einem entwicklungsfördernden Erziehungsstil der Kreislauf durchbrechen. Dieser Stil ist geprägt von hoher emotionale Zuwendung, klarer Rahmensetzung und dem entschiedenen Verzicht auf jegliche Form von Gewaltanwendung.