Kleinstadt Agentur Über uns
Newsletter Kontakt

Leben mit einem gefühlsstarken Kind

Manche Kinder sind etwas emotionaler als andere. Und dann gibt es noch die gefühlsstarken Kinder. Ein Erlebnisbericht.
23 Sep 2020
Bild — Jens Johnsson (Unsplash)

Die Zahnpasta ist alle und der Ersatz ist nicht derselbe? Dann putzt sich unser Kind die Zähne vorerst mal nicht mehr. Das Medikament schmeckt ungewohnt? Dann wird es NICHTS dazu bringen, es zu schlucken. Ein Familienmitglied kommt unerwarteterweise mit einer neuen Frisur nach Hause? Das Kind endet in Tränen. Oder es will fernsehen, noch ein Glas Sirup, noch länger auf dem Spielplatz bleiben? Dann setzt es sich mit all seiner verfügbaren Kraft und Verhandlungsstärke dafür ein, dass dieser Wunsch Wirklichkeit wird. Und diese Kraft ist gross!

Nicht mehr altersgerecht

Was im Leben eines Dreijährigen weitgehend normal ist, ist für unser Kind auch im Schulalter noch Alltag: Gefühlsexplosionen in regelmässigen Abständen, Konflikte um scheinbare Kleinigkeiten und viele, viele Verhandlungen. Nach vielen Jahren des Zweifelns – an uns selber, an unserem Kind, an unserem Erziehungsstil, nach der Suche nach möglichen «Störungen», nach Zeiten des absoluten familiären Ausnahmezustands und nach dem beinahen Scheitern unserer Ehe haben wir jetzt begriffen, dass niemand etwas falsch gemacht hat. Unser Kind ist so, war immer schon so und wird es wohl auch noch lange bleiben.

Im Buch «So viel Freude, so viel Wut» und der Fortsetzung «Du bist anders, Du bist gut» führt die Autorin Nora Imlau den Begriff der «gefühlsstarken» Kinder in die deutsche Sprache ein. Für mich fühlte es sich bei der Lektüre an, als würde sie unser Kind beschreiben. Gemäss Imlau ist jedes 7. bis 10. Kind gefühlsstark (sie verwendet den Begriff nicht im Sinne einer behandlungsbedürftigen Problematik, sondern als Schlagwort, um ein Kind wertschätzend zu beschreiben). Diese Beschreibung hat sich für mich sehr passend angefühlt: «Gefühlsstark heisst, auch dann noch ständig von Gefühlen überwältigt zu werden, wenn es längst nicht mehr als altersgerecht gilt.»

Solche Kinder sind einfach mehr. Mehr Emotionen, mehr Aufwand, mehr Konflikte, mehr Intensität, mehr Ausdauer.

Gefühlsstarke Kinder: Mehr von allem

Solche Kinder sind einfach mehr. Mehr Emotionen, mehr Konflikte, mehr Intensität, mehr Ausdauer. Die Gefühlsausbrüche sind heftig und häufig, die Frustrationstoleranz ist tief und das Verhandlungsgeschick ausgeprägt. Zusammengenommen sind seine Geschwister emotional weniger aufwändig als dieses einzelne Kind: Bei unseren anderen Kindern sehe ich, dass es durchaus eine Möglichkeit ist, dass Kinder von Anfang an kooperieren, dass nicht jede Entscheidung hinterfragt wird und dass unangenehme Gefühle nicht direkt die Dimension einer griechischen Tragödie annehmen müssen. Dass es Kinder gibt, die jegliche Gefühle stärker empfinden und auch wieder nach aussen tragen, war mir lange Zeit nicht bewusst. Hätte mir vor den Erlebnissen mit unserem Kind jemand davon erzählt, hätte ich wohl gedacht, dass die Eltern einfach zu lasch und nachgiebig seien. Jetzt weiss ich, dass es damit nichts zu tun hat – im Gegenteil: Kontrolle, Bestrafungen und Schimpfen bewirken bei gefühlsstarken Kinder viel eher das Gegenteil des erwünschten Resultats: Noch mehr Widerstand, noch mehr Frust.

Gefühlsstarke Kinder sind aber häufig auch mehr in die andere Richtung: Mehr Begeisterungsfähigkeit, mehr Meinungsstärke, mehr Wissbegierde, mehr Durchsetzungsfähigkeit und mehr Kreativität. Diese Eigenschaften schätze ich an Erwachsenen sehr, bei Kindern schienen sie mir aber bisher eher als störend – was aber mehr über mich und meine Glaubenssätze als über unser Kind aussagt. Mir einzugestehen, dass ich mich mit meinen Haltungen gegenüber «unangepassten» Kindern auseinandersetzen sollte, ist für mich ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung.

Zusammengenommen sind seine Geschwister emotional weniger aufwändig als dieses einzelne Kind.

Die Vorurteile der anderen Eltern – und unsere eigenen

Als ich kürzlich auf Instagram einen Post las mit dem Inhalt «Kinder sind sooo easy-going, man kann sie grundsätzlich überallhin mitnehmen und es wird ihnen gutgehen. Es ist so ein Mythos, dass man sein Leben aufgeben muss, wenn man Kinder hat. Sie sind meistens relaxt, und wenn es nicht so ist, liegt es an Dir», wusste ich, dass diese Person kein gefühlsstarkes Kind hat (abgesehen davon, dass Pauschalaussagen wie diese per se nerven). In meinen Ohren klingen solche Worte wie blanker Hohn. Das empfinde ich denn auch im Austausch mit anderen Eltern manchmal als Herausforderung: Gewisse von ihnen denken, dass sie – weil sie selber (höchst wahrscheinlich nicht-gefühlsstarke) Kinder haben – ja wissen, wie das so läuft mit dem Kinderhaben. Und sich dann überhaupt nicht vorstellen können, dass es auch ganz anders sein kann. Als mir kürzlich jemand sagte: «Wenn sie 5 Jahre alt sind, wird das Leben mit Kindern dann ja viel lockerer», und ich meinte, dass das bei uns nicht so sei, hat mich diese Person nur verständnislos angeschaut.

Aber das ist ein Detail im Vergleich zu den eigenen Vorurteilen, die wir als Eltern unserem gefühlsstarken Kind entgegenbringen. Wie oft haben wir uns gedacht «Jetzt macht es schon wieder so ein Theater wegen nichts» oder «Warum kann es nicht einfach mal kooperieren?». Wie oft habe ich mein Kind angeschrien, weil es einfachste Anweisungen auch nach der dritten, vierten, fünften Wiederholung nicht umsetzte? Wie oft hatte ich das Gefühl, dass ich das jetzt einfach nicht mehr aushalte? Dass ich zu Erziehungsmethoden griff (und immer noch greife), die ich eigentlich ablehne, ich aber einfach am Ende meines Lateins war?

Wie oft hatte ich das Gefühl, dass ich das jetzt einfach nicht mehr aushalte?

Diese Überforderung hat aus meiner Sicht zum Teil auch damit zu tun, dass das Konzept der gefühlsstarken Kinder noch nicht in der Allgemeinheit verbreitet ist. Lange habe ich mir überlegt, ob bei unserem Kind vielleicht eine Entwicklungsstörung vorliegt, stundenlang habe ich zu ADHS, Störungen auf dem Autismus-Spektrum etc. recherchiert und doch immer das Bauchgefühl gehabt, dass es sowas nicht ist. In den verschiedenen Kontakten mit Fachpersonen, die ich deswegen hatte (mit den Kindergärtnerinnen, der Erziehungsberatung, einer Therapeutin), hat niemand jemals von gefühlsstarken Kindern (oder einem ähnlichen Konzept) gesprochen, und nach jedem Gespräch fühlte ich mich noch etwas ratloser. Die Einsichten von Nora Imlau bringen jetzt erstmals den Aha-Effekt, den ich mir schon so lange gewünscht hatte. Denn obwohl sich dadurch kein Zusammenbruch vermeiden lässt und ich nach wie vor öfter als ich es gerne hätte hässig werde in diesen Situationen, bringt diese Sichtweise etwas Ruhe in unser Familienleben. Niemand hat etwas falsch gemacht – das war die erste Erkenntnis. Zu akzeptieren, dass Gefühlsstärke sogar etwas grundsätzlich Gutes sein könnte – daran arbeite ich noch.

In diesem Beitrag sind Strategien aufgezeigt, die uns im Umgang mit den starken Gefühlen helfen: Leben mit einem gefühlsstarken Kind: Diese sechs Strategien helfen uns

Habt ihr auch ein gefühlsstarkes Kind? Erlebt ihr Verständnis aus eurem Umfeld? Was hat euch dabei geholfen, damit umzugehen?

* Zum Schutz ihres Kindes möchte unsere Autorin anonym bleiben.

 

 

Nora Imlau

Die deutsche Autorin und Journalistin Nora Imlau ist selber Mutter von vier Kindern – eines davon gefühlsstark.

Ihr Buch «Du bist anders, Du bist gut» ist ein Wegbegleiter für Familien gefühlsstarker Kinder: Ermutigend und bestärkend erklärt sie darin, warum gefühlsstarke Kinder so sind, wie sie sind, und zeigt anhand praktischer Beispiele auf, wie Eltern ihre Kinder durch deren intensive Emotionen hindurch begleiten liebevoll und bindungsorientiert ihre Fähigkeit zur Selbstregulation stärken.