Das Wohnzimmer im Haus in Langenthal ist hell eingerichtet und perfekt aufgeräumt. Die Spielsachen in der Ecke sind in Körben und Regalen verstaut. Die Fotos an den Wänden zeigen Ophelia mit angeklebter Magensonde und schöner Mütze. Sie erinnern an ihr kurzes Leben und ein strahlendes Mädchen. Im oberen Stock steht ihre Asche im Kinderzimmer, in einem Körbchen und umgeben von Stofftieren. Ophelia ist noch da. Und doch fehlt sie.
Im Alter von nicht ganz 22 Monaten ist Ophelia Arya an einem hochaggressiven Hirntumor verstorben. Als sie zehn Monate alt war, erhielten ihre Eltern die Diagnose AT/RT. Die Abkürzung steht für Atypischer Rhabdoider Tumor.
So Unglück verheissend klang der Name, dass Nathalie und Lukas ihn während Ophelias Krankheit nie hören und aussprechen wollten. In allen anderen Belangen haben sie aber die Konfrontation mit der Realität nie gescheut. Trotz diesem immensen Verlust haben sie sich ihren Zusammenhalt als Paar und ihren resilienten Blick auf das Leben bewahrt.
Schon wenige Wochen nach Ophelias Tod war für Nathalie und Lukas klar: Sie wollen einen Beitrag leisten, um jede Art von Kindsverlust zu enttabuisieren und anderen betroffenen Familien Halt zu geben. Mit dieser Vision haben sie den Verein Ophelia’s Legacy gegründet und mir ihre Geschichte erzählt.
Nathalie, Lukas: Wo ist Ophelia heute für euch?
Nathalie: Ophelia ist immer und überall bei mir. Körperlich mag sie gegangen sein, aber ihre Seele ist gerade hier in und ums Haus, für mich stark spürbar. Ich bin sicher, dass sie bei mir ist.
Lukas: Ophelias Geplapper ist verstummt, aber in meinem Herzen ist sie immer präsent. Manchmal nimmt der Schmerz alles ein. Grundsätzlich bin ich aber zutiefst dankbar für alles, was sie mich gelehrt hat.
Wie lebt sie in eurer Erinnerung?
Nathalie: Ophelia hat immer allen Menschen gewunken und sie angelacht. Auch nach Fremden hat sie immer die Arme ausgestreckt. Sie hatte nie vor jemandem Angst, auch nicht vor den Ärzt:innen und Pflegefachpersonen, die ihr manchmal weh tun mussten. Sie hatte das Urvertrauen, dass alle Menschen gut sind.
Lukas: Grundsätzlich bin ich nicht besonders gut darin, Menschen ohne Vorurteile zu begegnen. Ophelia hingegen nahm jeden Menschen, wie er/sie ist.
Ich glaube auch, sie hat gespürt, dass sie auf dieser Welt nicht so viel Zeit hat. Sie wollte alles in sich einsaugen. Und sie wusste: «Wenn es mir dann doch nicht passt, kann ich schnell zurück in die Arme von Mami und Papi.»
«Ich glaube, Ophelia hat gespürt, dass sie auf dieser Welt nicht so viel Zeit hat. Sie wollte alles in sich einsaugen.»
Wann und wie habt ihr von Ophelias Krankheit erfahren?
Lukas: Bei der Neun-Monate-Kontrolle stellte die Kinderärztin fest, dass Ophelias Kopfumfang in den letzten drei Monaten überdurchschnittlich gewachsen war. Sie riet uns sicherheitshalber, diese Unregelmässigkeit im Berner Inselspital abzuklären.
Am 7. März 2022, einem Montagmorgen, hatten wir unseren Termin im Kinderspital Bern. Wir gingen früh aus dem Haus und hörten die Klänge der Langenthaler Fasnacht – das werde ich nie vergessen. Trotzdem dachte ich, es wäre eine Routineuntersuchung. Für den Nachmittag hatten wir beide schon wieder Meetings angesetzt.
Weil der Ultraschall eine Auffälligkeit zeigte, wollte der pädiatrische Neurologe unbedingt noch am selben Tag ein MRI machen. Um 16.30 Uhr bat er uns zur Besprechung des MRIs in einen Raum, wo zehn bis zwölf Ärzt:innen anwesend waren. Da war klar, es waren keine guten News.
Nathalie: Ich schrie und schrie. Ich konnte nicht mehr aufhören. Aber es war gut, dass ich es damals rausgelassen habe. Bei der Folgediagnose, also bei der Bestätigung, dass der Tumor bösartig ist, geschah das wieder mit mir. Seither habe ich nie wieder einen solchen Zusammenbruch gehabt, bis heute nicht.
Lukas war erschüttert, aber gefasster. Dieses Szenario hat sich oft wiederholt: Wenn eine/r von uns die Fassung verlor, konnte der/die andere noch alles zusammenhalten, was auseinander zu brechen drohte.
Was geschah danach?
Lukas: Die genaue Art des Tumors konnte erst mittels Biopsie bestimmt werden – und die Chancen standen gut, dass er entfernt werden konnte.
Der Tag nach der Erstdiagnose war schlimm. Ophelia musste unzählige Tests und Vorbereitungsmassnahmen über sich ergehen lassen, konnte nicht zu den gewohnten Zeiten essen und schlafen. Und wir als Eltern hatten noch keine psychologische Begleitung, wir waren auf uns allein gestellt.
Nathalie: Zwei Tage nach dem MRI stand die grosse Operation an. Ich trug Ophelia in meinen Armen bis zur Anästhesie, weiter durften wir nicht. Ich hatte grosse Angst, wusste nicht wie sie nach der Operation aussehen würde und ob wir sie überhaupt wiedersehen würden.
«Auch wenn wir es damals nicht aussprachen, uns war beiden klar: Sollte Ophelia von uns gehen, sie wird nicht auf einer Intensivstation sterben.»
Lukas: Wir bekamen stündlich ein Update. Nach 48 Stunden Ausnahmezustand konnten wir endlich duschen und ein wenig schlafen. Und ich wollte erstmal ein Bier. Nach der Operation rief uns der Neurochirurg persönlich an und teilte uns mit, er habe 99 % des Tumors entfernen können. Das letzte Prozent konnte er nicht anrühren, sonst wäre Ophelia halbseitig gelähmt gewesen.
Danach war unsere Tochter zehn Tage auf der Intensivstation. Hier sind die Betten nur durch einen Vorhang getrennt. Während unsere Tochter wieder bei uns war, erlebten wir hautnah mit, wie ein anderes Kind starb. Auch wenn wir es damals nicht aussprachen, uns war beiden klar: Sollte Ophelia von uns gehen, sie wird nicht auf einer Intensivstation sterben. Niemals wollten wir ihr diese Menschenwürde nehmen.
Die Biopsie zeigte, dass der Tumor selten und hochaggressiv war. Die Studienlage war dünn. Und nach diesem Befund war klar, dass der Tumor nicht gutartig war und dass Nathalie und Lukas nicht mit einem Schrecken davonkommen würden. Die Ärzt:innen rieten zur Chemotherapie, so schnell wie möglich.
Von April bis Ende Juni 2022 verbrachte Ophelia jeweils vier bis fünf Tage im Spital für die Chemo. Nathalie und Lukas wechselten sich alle 24 Stunden ab und blieben über Nacht bei ihr. Nach den Behandlungstagen durfte Ophelia jeweils für zehn Tage zur Erholung nach Hause. Die Tage zu Hause wurden oft von Notfällen unterbrochen, so dass Spitalaufenthalte zwischendurch immer wieder notwendig waren.
Neue Komplikationen an Ophelias Shunt-System traten auf. Dieses hatte sie bereits nach der ersten grossen Hirnoperation und vor der Chemotherapie erhalten. Es sollte sicherstellen, dass Hirnwasser in Zukunft in den Bauchraum ablief. Im Juni trat Hirnwasser beim Reservoir am Kopf aus, bis die Kopfnarbe aufplatzte. Beim Rausoperieren und Ersetzen des Schlauchsystems kam zudem eine Infektion zum Vorschein.
Jede Operation bedeutete wieder Zeit auf der Intensivstation, wo Schlafen unmöglich war. Hier herrschte ständig Betrieb, die Neonröhren brannten Tag und Nacht. Aber Ophelia liebte es, denn das Pflegepersonal kannte sie mittlerweile, und hier war immer was los.
Gleichzeitig zeigte das nächste MRI, dass der Tumor wieder gewachsen war.
Wie ging es euch Eltern während der Chemotherapie und diesen zusätzlichen operativen Eingriffen?
Nathalie: Nach meinem anfänglichen Zusammenbruch habe ich sehr schnell gewechselt zu Fokus auf Ophelia. Ich war für sie da. Und ich sah, sie war ja auch für mich da! Sie war fast immer fröhlich, und das vertrieb meinen grössten Schmerz.
Die Nächte im Spital waren trotzdem zehrend. Nach der Chemo überprüfte das Personal bis zu stündlich ihre Vitalfunktionen und ihren Urin. Manchmal wusste ich nicht, wie ich mit so wenig Schlaf am nächsten Morgen mit Ophelia spielen sollte. Aber ihre Energie hat mich immer getragen.
Was geschah Ende Juni nach diesen sechs Zyklen Chemotherapie und der schlechten Nachricht, dass der Tumor wieder gewachsen war?
Lukas: Die behandelnden Ärzt:innen schlugen uns vor, es mit Bestrahlung zu probieren. Vom 20. Juli bis 3. September fuhren wir jeden Tag mit Ophelia zum Paul-Scherrer-Institut, nach Villigen im Aargau – und das mit einem Kind, das Autofahren hasste!
Nathalie: Gegen Ende der Protonentherapie folgte das MRI zur Überprüfung. Überraschend schnell kam die Nachricht: Der Tumor ist nicht mehr sichtbar!
Das Paar erzählt, dass ihre Freude verhalten war. Die Onkolog:innen in Bern empfahlen einen erneuten Chemo-Block. Sie befürchteten, dass der Tumor zurückkommen könnte. Obwohl vor allem Lukas grosse Widerstände verspürte, entschieden die Eltern, die Empfehlung zu befolgen. Während dieser Chemotherapie im Herbst kamen erschwerend noch eine Covid-19-bedingte Isolation hinzu. Nathalie und Lukas merkten, dass ihre Kräfte langsam schwanden.
Wann habt ihr erfahren, dass Ophelia nicht mehr gesund wird?
Nathalie: Das war am 11. Oktober. Ein MRI stand an. Ich hatte den Onkologen gebeten, er solle mir sofort Bescheid geben, wenn er eine Tendenz sieht. Ich hatte gelernt: Fachärzt:innen wollen sich meist zuerst tagelang untereinander beraten.
«Der Arzt blieb lange bei mir im Zimmer, wir weinten zusammen.»
Noch am gleichen Tag sah ich ihn vor unserem Zimmer herumtigern. Am späteren Nachmittag trat er ein und hatte feuchte Augen. Der Tumor hatte gestreut. Ich hatte es erwartet, hatte dem positiven Ergebnis nach der Strahlentherapie nie getraut. Der Arzt blieb lange bei mir im Zimmer, wir weinten zusammen. Lukas war noch auf der Arbeit und ich ganz alleine mit Ophelia, das war sehr schlimm für mich.
Danach wollte ich nur noch nach Hause. Wir entliessen uns selbst. Ich packte unsere Tasche und wir fuhren heim.
Für das Paar war klar: Ophelia sollte noch ein gutes Leben haben. Niemand konnte ihnen sagen, wie viel Zeit ihr noch blieb, aber sie wollten unbedingt nochmal gemeinsame Ferien erleben und zusammen in Langenthal Weihnachten feiern. Alle lebensverlängernden Massnahmen lehnten sie ab und machten so oft wie möglich einen Bogen um Spitäler.
Lukas, der von sich sagt, dass er gerne in Aktionismus verfällt, kontaktierte den gemeinnützigen Verein Herzensbilder. So entstanden die Fotos, die im Wohnzimmer hängen.
Wie habt ihr die Zeit erlebt, in der ihr Ophelia palliativ zu Hause gepflegt habt?
Nathalie: Es mag so klingen, als wäre es eine Erlösung von der vielen Zeit im Spital gewesen. Aber wir wechselten auf Pflege zu Hause und entschieden uns für eine Therapie, die Ophelia möglichst viel Lebensqualität gab.
Konkret hiess das: Wir hatten eine riesige Apotheke im Haus und verabreichten die Medikamente selber per Magensonde. Es durfte nie etwas fehlen oder vergessen gehen, bis zum spezifischen Pflaster oder Tupfer nicht. Die Koordination und die Verantwortung brachten mich an den Rand eines Nervenzusammenbruchs – und ich meine das wörtlich.
«Wir lebten komplett im Jetzt. Wir wussten nicht, wie viel Zeit uns mit Ophelia blieb.»
Trotzdem bekam die Zeit eine andere Qualität. Nach einer Weile waren wir eingespielt. Und die Beziehung zwischen uns Dreien bekam eine unbeschreibliche Intensität und Tiefe. Wir lebten komplett im Jetzt. Wir wussten nicht, wie viel Zeit uns mit Ophelia blieb.
Ihr nahender Tod machte mir Angst, und doch hat mich die Belastung nicht so vereinnahmt, dass ich die Zeit mit ihr nicht geniessen konnte. Ich konnte auch immer gut über meine wechselnden Emotionen reden.
Ihr habt Ophelia in den Tod begleitet, wart bis zum letzten Augenblick und darüber hinaus an ihrer Seite. Möchtet ihr davon erzählen?
Nathalie: Nach unserer Heimkehr aus dem Spital im Oktober kamen Mitte Februar 2023 erste Anzeichen der Verschlechterung. Ich beobachtete, dass Ophelia ihren Bobbycar nur noch mit dem rechten Arm lenkte und dass ihr linkes Auge schielte. Der Tumor drückte.
Im März erlitt sie über Nacht einen Schlaganfall. Sie wachte anders auf als sonst, schreiend, verängstigt. Ich setzte sie auf und sie kippte seitlich um. Ophelias Sinneswahrnehmung war ab diesem Zeitpunkt anders. Bei jedem Positionswechsel schrie sie panisch auf. Sie klebte an uns, wollte gar nicht aus unseren Armen.
Eines Abends, wir sassen zum Essen auf dem Sofa, erbrach sich Ophelia auf mir. Dann schrie sie und hörte nicht mehr auf.
Lukas: Ich rannte nach oben, holte Morphin, das zum Glück innerhalb von ein paar Minuten wirkte. Wir wussten, jetzt ist die Zeit gekommen. Das Sterben fing an, seinen Lauf zu nehmen.
«Wir wussten, jetzt ist die Zeit gekommen. Das Sterben fing an, seinen Lauf zu nehmen.»
Nathalie: Als wir am nächsten Abend schlafen gingen, atmete Ophelia schwer und ich spürte, sie wird diese Nacht nicht überleben. Um 1 Uhr morgens weckte uns ihr Schrei, er ging bis ins Mark. Sie hatte Todesangst.
Wir gaben ihr nochmals Morphin. Es wurde zunehmend belastender für uns: Einerseits wollten wir Ophelia ihre Schmerzen nehmen und ihr die ausreichende Dosis verabreichen, was in ihrem erregten Zustand schwierig war. Andererseits wollten wir liebevolle Eltern sein und ihr Halt und Sicherheit geben. In Absprache mit der Ärztin am Telefon setzten wir schliesslich den Opiat-Lollipop ein. Es ging eine gefühlte Ewigkeit, bis die Medikamente wirkten. Dann liessen wir die Spitex kommen.
Habt ihr als Paar einfach funktioniert? Gab es in dieser Extremsituation keinen Streit?
Nathalie: In der Hektik gab es manchmal schon einen hässigen Ton.
Lukas: Aber das haben wir einander nie übelgenommen. Wir haben einander immer sofort vergeben. Ausserdem reden wir immer über alles. Wenn mich etwas nervt, dann sage ich es.
Nathalie: Von der Todesnacht gab es für uns als Paar nichts aufzuarbeiten. Dafür bin ich zutiefst dankbar. Würde einer:m etwas aus dieser Nacht zu schaffen machen, könnten wir ja nicht sagen: Beim nächsten Mal machen wir es besser.
Wie war es, das eigene Kind gehen lassen zu müssen?
Lukas: Meine erste Priorität war, dass Ophelia keine Schmerzen hat. Das eigene Kind leiden sehen, das kann niemand. Bis zum letzten Atemzug würde ich bei ihr sein, das hatte ich ihr immer versprochen. Aber Ich hätte nicht gedacht, dass sie dann fast neun Stunden auf meinem Bauch liegen würde. Hautnah bekam ich mit, wie ihr Körper seine Funktionen hinunterfuhr.
«Wenn ich Eltern in der gleichen Situation etwas raten darf: Informiert euch vorher, was im Sterbeprozess mit dem Körper passiert.»
Wenn ich Eltern in der gleichen Situation etwas raten darf: Informiert euch vorher, was im Sterbeprozess mit dem Körper passiert. Wenn man das nicht nachvollziehen kann, erschrickt man und ist überfordert.
Morgens um 7:30 Uhr dachte ich, ich kann nicht mehr. Auch nach langen Atempausen kam sie immer wieder zurück, konnte nicht gehen. Wir waren müde, wussten nicht, wann das Ende wirklich kommt, und wir mussten durchhalten, wie wir es ihr immer versichert hatten.
Nathalie: Zuerst lag ich so, dass ich Ophelia direkt ins Gesicht sah. Als ich sagte, die Bilder machen mir zu schaffen, ermutigte mich die Spitex, gut zu mir selber zu schauen. Ich erlaubte mir schliesslich, meine Position zu verändern. Rückblickend war es entscheidend, dass ich in diesem Moment auch meine Verfassung bedacht habe. Die Begleitung von erfahrenen Menschen im Sterbeprozess ist für die Angehörigen zentral.
«Rückblickend war es entscheidend, dass ich in diesem Moment auch meine Verfassung bedacht habe.»
Lukas: Ophelia ging nicht durch die Hintertür, nicht bei Nacht und Nebel. Sie starb morgens um zehn bei Sonnenschein und Vogelgezwitscher. Wir machten das Fenster auf, wir schlossen ihre Augenlider nicht. Ihr Blick war wunderschön.
Wie trauert ihr gleich und wo trauert ihr anders?
Lukas: Unmittelbar nach Ophelias Tod trauerten wir sehr unterschiedlich. Ich stürzte mich in die Organisation für ihre Lebensfeier. (Anm. d. Red.: Das Paar spricht nicht von einer Trauerfeier.)
Wir haben aber weiterhin über alles gesprochen. Ich erklärte, wieso es mir ein Anliegen war. Umgekehrt sagte Nathalie mir, wieso sie nicht so stark in die Vorbereitungen involviert sein konnte, sie hatte dazu nicht so viel Energie.
Nathalie: Das Reden war für mich anstrengend, ich wurde still. Kurz nach Ophelias Tod gab es zwischen uns schon schwierige Momente.
Ich habe bis heute oft das Bedürfnis, Fotos und Videos von Ophelia anzuschauen. Lukas geht dann lieber weg. Zu Beginn verletzte mich das, aber mir fehlte der Mut, es anzusprechen. Meine Psychologin half mir zu erkennen, wie jede:r anders mit dem Verlust umgeht. Mit ihrer Hilfe definierte ich klarer, wie und wo wir gemeinsam trauern können. Als ich es bei Lukas thematisierte und wir Ideen sammelten, wo und wie wir das machen wollen, fiel die Last von mir. Bereits mit der Aussprache war das Problem gelöst.
Wie hat euer Umfeld auf Ophelias Diagnose, Krankheit und Tod reagiert?
Lukas: Die Grosseltern sind sicher die, denen der Tod des Enkelkinds am meisten zu schaffen macht. Sie hadern heute noch stark mit dem Verlust. Das restliche Umfeld hat mit einer enormen Anteilnahme reagiert, vielleicht auch, weil wir immer ganz offen kommuniziert haben. Wir haben nichts schöngeredet, und dadurch nahmen wir Freund:innen und Angehörige mit auf die Reise. Viele haben sich bedankt, dass sie mit uns mitleiden dürfen.
Nathalie: Vom ersten Moment an wurden wir mit Hilfsangeboten überschüttet. Zuerst war ich gerührt und überwältigt, mit der Zeit stellte sich aber für mich heraus: Die Leute wollen vor allem helfen, weil sie sich hilflos fühlen. Aber so viel Unterstützung brauchten wir gar nicht. Wenn ich Hilfe ablehnte, spürte ich auf der anderen Seite eine Enttäuschung.
«Vom ersten Moment an wurden wir mit Hilfsangeboten überschüttet. Mit der Zeit stellte sich heraus: Die Leute wollen vor allem helfen, weil sie sich hilflos fühlen.»
Ich hatte nie ein Problem damit, um Hilfe zu bitten und diese anzunehmen. Ich war lediglich überfordert, wenn ich täglich Nachrichten mit Hilfsangeboten bekam und antworten musste. In unserer Situation war es für mich auch ein Weg zurück in die Selbstbestimmung, dass ich frei formulieren konnte, wann und in welcher Form ich Hilfe wollte und wann nicht.
Was wäre denn wirklich eine Hilfe gewesen?
Nathalie: Ich wünsche mir, dass unser Umfeld gut zu sich selber schaut. Die Menschen, die nahe dran waren, haben selber auch einen Trauerprozess. Sie brauchen auch eine aktive Verarbeitung, eventuell Begleitung, damit sie wieder auf Augenhöhe mit uns und für uns da sein können.
Weil wir immer ein so positives Mindset hatten, ertappte ich mich oft dabei, dass ich andere aufbaute und tröstete. Mit der Zeit begann ich mich radikal abzugrenzen. Ich wollte keine Energie dafür aufwenden; die brauchte ich für Ophelia, für Lukas und mich selbst. Auch hier wurde es einfacher, sobald ich es aussprechen konnte: «Wenn du mir helfen willst, schau gut zu dir selber. Ich trage genug, ich kann dich in deiner Trauer nicht auch stützen.»
Mit der Vision, das Erlebte mit der Welt zu teilen, um anderen betroffenen Familien Mut zu machen, habt ihr den Verein Ophelia’s Legacy gegründet. Was hat es damit auf sich?
Nathalie: Das Gefäss Verein ist Mittel zum Zweck. Wir haben so viele finanzielle Unterstützungsangebote bekommen, aber wir wollen kein Geld auf unsere privaten Konti annehmen. Dafür ist der Verein ideal. So können Menschen Mitglieder werden und sich involvieren. Ich persönlich spreche aber lieber von unserem Projekt.
Wir suchen keine Bühne. Aber viele haben uns gesagt, unsere Geschichte habe sie berührt. Unsere Vision ist es, Kindsverlust und Trauerarbeit in allen Formen zu enttabuisieren und betroffene Familien zu informieren. Im besten Fall kann unsere persönliche Geschichte auch als Inspiration dienen, beispielsweise wenn Eltern unsicher sind, ob palliative Pflege und Sterben zu Hause möglich sind.
Wir wollen zeigen, dass es den Punkt gibt, an dem man akzeptieren kann, was ist, und dankbar sein für alles, was noch sein darf.
«Wir sagen oft zu einander und zu uns selbst: Es ist okay, wieder glücklich zu sein.»
Wie blickt ihr in die Zukunft?
Nathalie: Ich weiss, dass ich Ophelia für den Rest meines Lebens jeden Tag vermissen werde. Gleichzeitig schaue ich auch mit Neugierde und Vorfreude in die Zukunft. Ich bin gespannt, was wir als Paar und auch als Eltern noch alles erleben werden, denn wir bekommen bald unser zweites Kind.
Durch Ophelias Krankheit und Tod durfte ich lernen, dass das Leben ambivalent ist, dass ich im gleichen Moment tiefste Trauer und grenzenloses Glück empfinden kann.
Ophelia wird in unserer Familie fortan immer präsent sein. Und sie wird mich in meinem Herzen immer begleiten.
Lukas: Ich schaue erwartungsvoll und freudig in die Zukunft, im Wissen, dass unsere Familie wieder wachsen darf. Vor meinem geistigen Auge sehe ich drei Menschen, die oft in den Himmel hochschauen und winken und strahlen. Ophelia ist die vierte Person in dieser Familie, und sie fehlt mir enorm.
Wir sagen oft zu einander und zu uns selbst: Es ist okay, wieder glücklich zu sein.
Lukas hat als Amateurmusiker für seine Tochter zwei Songs geschrieben resp. gecovert und mit professioneller Unterstützung produziert. Hier könnt ihr sie auf Spotify hören oder hier mit Musikvideo auf Youtube schauen.
Zur Website des Vereins Ophelia’s Legacy; Ophelia’s Legacy auf Instagram und auf Facebook.
Jährlich erkranken in der Schweiz ungefähr 350 Kinder und Jugendliche an Krebs, darunter viele Säuglinge und Kleinkinder. Die Behandlungsmöglichkeiten erlauben mittlerweile, dass vier von fünf Kindern wieder in ein gesundes Leben zurückfinden. Trotzdem stirbt immer noch fast jede Woche ein Kind an seiner Krebserkrankung.
Von den sehr aggressiv wachsenden atypischen rhabdoiden Hirntumoren treten jährlich ein bis zwei Fälle in der Schweiz auf. Am häufigsten davon betroffen sind Säuglinge und Kleinkinder in den ersten zwei Lebensjahren. Die Überlebensrate ist allgemein tief.
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