Charlotte und Reto Bleisch wohnen mit Ihren Töchtern (Liv, 5 und Noa, 1) seit drei Jahren in der amerikanischen Hauptstadt. Wie sie die berüchtigte amerikanische Oberflächlichkeit erleben, warum Washington nicht sehr repräsentativ für die USA ist und wieso sie manchmal das Krebsenbächli vermissen, erzählt uns Reto im Interview. Alle anderen Teile unserer Serie über Auslandschweizer-Familien findet ihr hier.
Welche drei Worte beschreiben Washington DC für Dich am besten?
Macht, Politik, Zuhause
Was hat Euch nach Washington gebracht?
Die Arbeit meiner Frau Charlotte – sie ist Diplomatin im Dienst des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten. 2015 mussten wir uns entscheiden, wer von uns beiden seinen Job an den Nagel hängen würde. Ich leitete damals den Bereich Regulierung & Internationales der SBB, war beruflich voll engagiert und habe meine Aufgaben gerne und mit viel Herzblut wahrgenommen. Gleichzeitig wussten wir immer, dass irgendwann eine Entscheidung anstehen würde. Und da Charlotte und ich uns 2010 im Ausland kennen gelernt hatten – damals arbeitete ich für vier Jahre in Neuseeland – lag die Wahl des Auslandeinsatzes nahe.
Was fiel euch beim Wegzug am schwersten?
Der Abschied von Familie und Freunden. Insbesondere der Abschied am Flughafen war hart, da wir damals ultimativ realisierten, dass Grosseltern, Eltern, Freunde und andere wichtige Menschen bald 7000 Kilometer entfernt sein würden. Kurz- oder Spontanbesuche würden ab sofort ausserhalb des Möglichen liegen.
Und was lief gut bei der Umstellung?
Rückblickend hat unsere Tochter Liv, damals 2.5 Jahre alt, die Umstellung bravourös gemeistert: Nach wenigen Monaten sprach sie Englisch und fand unmittelbar sozialen Anschluss. Ausserdem wurden wir von unseren Nachbarn sehr warmherzig begrüsst und an Barbecues, Familien- und Sportanlässe eingeladen. Die offene und herzliche Art der Amerikaner, die wir kennenlernten, hat uns die Integration leicht gemacht.
«Wir wurden von unseren Nachbarn sehr warmherzig begrüsst und an Barbecues, Familien- und Sportanlässe eingeladen. Die offene und herzliche Art der Amerikaner, die wir kennenlernten, hat uns die Integration leicht gemacht.»
Wie und wo lebt ihr jetzt?
Wir leben in einem kulturell durchmischten Quartier im Norden Washingtons (Chevy Chase). Hier leben sowohl alteingesessene «Washingtonians» als auch Familien wie wir, die für Botschaften, Universitäten, Forschungseinrichtungen sowie globale Institutionen wie die Weltbank arbeiten. Unser Haus ist mit dem Auto rund 15 Minuten von der Schweizer Botschaft und 20 Minuten vom Weissen Haus entfernt. Für amerikanische Verhältnisse eher aussergewöhnlich ist, dass wir Liv zu Fuss oder mit dem Velo in die Schule bringen können. Die Umgebung hier ist unwahrscheinlich grün, wir leben sozusagen in einem Wald. Rehe, Füchse oder Waschbären sind in unserer Nachbarschaft regelmässige Gäste.
Wie verläuft euer Alltag?
Charlotte arbeitet Vollzeit bei der Botschaft, ich arbeite während der Tage, an denen die Kinder betreut werden, als selbständiger Ökonom für eine Beratungsfirma an Projekten im Bereich Telekommunikation und Transport. Unsere ältere Tochter Liv geht täglich in den Kindergarten an einer öffentlichen Schule, Noa wird an drei Tagen die Woche von einer Nanny betreut, deren Stelle wir uns zusammen mit anderen Familien mit gleichaltrigen Kindern teilen. Für uns war es von Anfang an wichtig, dass unsere Kinder regelmässig Kontakt zu Gleichaltrigen haben, diese Lösung geht darum für uns perfekt auf.
Wie sieht es denn mit Eurem Sozialleben aus? Und was unternehmt ihr in der Freizeit?
Unterdessen haben wir ein gutes soziales Netzwerk aufgebaut. Darunter sind sowohl andere Diplomatenfamilien als auch permanent in DC wohnhafte Amerikaner. Wir laden sehr gerne Freunde zu uns nach Hause ein und kochen. Sehr wichtig ist mir das wöchentliche Mountainbiken mit einer Gruppe von Amerikanern, die ich über einen Nachbarn kennengelernt habe. Wir treffen uns aber nicht nur auf den Velos, sondern unternehmen auch häufig etwas mit den Familien dieses «Clubs». Was für mich das wöchentliche Velofahren ist, ist für Charlotte die Teilnahme an politischen Anlässen, Yoga oder der Austausch mit gleichgesinnten Frauen aus anderen Kulturkreisen. An den Wochenenden erkunden wir die Umgebung von Washington DC: Am liebsten gehen wir an den Atlantik oder in die Nationalparks im Osten und entfliehen so der Grossstadt für ein paar Tage.
Wie erlebt ihr die Kultur in Washington?
Washington ist eine «transitional city», also eine dynamische Stadt, in der sich ein grosser Teil der Bewohner für eine beschränkte Zeit niederlässt, dann aber auch wieder wegzieht. Die Stadt zieht aufgrund der grossen Arbeitgeber viele gut ausgebildete Leute an. Auch leben hier zahlreiche verschiedene Ethnien, was sich u.a. in den kulturellen und religiösen Anlässen, aber auch dem kulinarischen Angebot äußert. Wir essen beispielsweise sehr gerne in einem äthiopischen Restaurant ganz in der Nähe oder geniessen bei der tropischen Sommerhitze ein «Phở», eine vietnamesische Nudelsuppe.
«Washington ist eine «transitional city», also eine dynamische Stadt, in der sich ein grosser Teil der Bewohner für eine beschränkte Zeit niederlässt, dann aber auch wieder wegzieht.»
Wo seht ihr Probleme?
Die Diskrepanz zwischen Wohlstand und Armut überrascht uns auch heute noch. Beispielsweise besitzt ein Prozent der reichsten Amerikaner über 40 Prozent des gesamten Reichtums des Landes. Diese ungleiche Verteilung wird zunehmend grösser, die Löhne der Mittelschicht stagnieren seit langem, und das Ausmass der Obdachlosigkeit ist eindrücklich. Eine weitere gesellschaftliche Herausforderung zeigt sich in der nach wie vor vorherrschenden Segregation zwischen den Bevölkerungsgruppen. In Washington DC sind mehr als 50 Prozent der Bevölkerung afroamerikanischen Ursprungs, die Bewohner der Quartiere im Norden, auch bei uns in Chevy Chase, sind jedoch fast ausschliesslich weiss.
Auch bei der Bildungspolitik sieht man die riesigen Diskrepanzen: An die «richtige» Schule zu gehen, wird mit künftigem Erfolg gleichgesetzt. Eltern investieren sehr viel, damit ihre Kinder möglichst gute Startchancen haben, der Wohnort wird beispielsweise vorwiegend nach der Nähe zu guten Bildungsinstitutionen ausgewählt. Wer über die entsprechenden finanziellen Ressourcen verfügt, wählt für seine Kinder teure Privatschulen. Immer häufiger verschulden sich Familien mit ungenügenden finanziellen Mitteln, um die Schulkosten tragen zu können, in der Hoffnung, dass der Nachwuchs dereinst von den im Schulzimmer geknüpften Kontakten profitieren kann.
«Immer häufiger verschulden sich Familien mit ungenügenden finanziellen Mitteln, um die Schulkosten tragen zu können, in der Hoffnung, dass der Nachwuchs dereinst von den im Schulzimmer geknüpften Kontakten profitieren kann.»
Insgesamt hat die in Washington vorherrschende Kultur, welcher wir begegnen, kaum etwas mit dem Rest des Landes gemeinsam. Vielmehr leben wir hier in einer regelrechten «Bubble» mit hervorragend ausgebildeten Leuten, die politisch grösstenteils auf der Seite der Demokraten stehen (96 Prozent der Bevölkerung von DC haben bei der vergangenen Wahl Hillary Clinton gewählt). Dieses intellektuelle Establishment unterscheidet sich also stark vom amerikanischen «Durchschnittsbürger».
Und was gefällt Euch besonders gut?
Im täglichen Leben erleben wir unsere amerikanischen Nachbarn, Bekannten und Freunde als sehr offen, hilfsbereit und grosszügig, ganz entgegen dem allgemein vorherrschenden Vorurteil der Oberflächlichkeit. Beispielsweise wurden wir nach der Geburt unserer zweiten Tochter von unseren Nachbarn in verschiedener Art und Weise unterstützt: Die Leute haben für uns gekocht, uns eingeladen und gingen für uns einkaufen. Wir fühlen uns hier sehr gut aufgehoben und werden die freundliche und hilfsbereite Art der Amerikaner vermissen, wenn wir an einen anderen Ort versetzt werden.
Was läuft in den USA anders im Umgang mit Kindern als in der Schweiz?
Die Amerikaner sind, basierend auf unserer persönlichen Erfahrung, sehr kinderlieb. Es stört beispielsweise nicht, wenn ein Kind im Restaurant oder in den öffentlichen Verkehrsmitteln schreit. Kinder lernen in den USA auch schon relativ früh, selbständig zu sein, sich für ihre Anliegen einzusetzen und Argumente vorzutragen. Schon im Vorschulalter stehen Kinder vor ihre Klasse und präsentieren ausgewählte Themen. Wir waren beispielsweise sehr stolz auf Liv, als sie vor der Klasse die Schweiz präsentieren durfte. Hier werden Kinder auch in den höchsten Tönen gelobt, wenn sie etwas gut machen («good job» und «well done»). Auf diese Art und Weise wird das Selbstbewusstsein schon früh gefördert.
Seht ihr auch problematische Seiten am Umgang mit Kindern?
Wie bereits erwähnt betrachten wir das gesellschaftliche Phänomen, Kinder sehr früh aus dem öffentlichen Schulsystem zu nehmen und in Privatschulen unterzubringen, eher skeptisch. Da private Institutionen relativ teuer sind und nur für eine ausgewählte Gesellschaftsschicht in Frage kommen und öffentliche Schulen ausserdem latent unterfinanziert sind, beginnt sich die soziale Schere schon früh zu öffnen.
Im Vergleich mit der Schweiz ebenfalls kritisch betrachten wir die Entwicklungen im Bereich der Unterhaltung und des Konsums: Anstatt auf die Phantasie der Kinder zu setzen und sie mit wenigen Spielsachen zu versorgen, wird hier standardmässig ein Programm angeboten, welches von Clown-Shows über Kinovorstellungen bis hin zu interaktiven Tanzspielen reicht. Vielleicht sind wir diesbezüglich etwas altbacken und konservativ, wir schauen aber manchmal mit Wehmut auf die Stunden auf dem Gurten oder am Krebsenbächli an der Aare zurück. Auch eine «Kita-Kultur», wie wir sie mit Liv in Bern erleben konnten, in welcher die Kinder im Wald in einer Hängematte ihren Mittagsschlaf machen dürfen, ist in unserer gegenwärtigen Situation schlichtweg unvorstellbar.
«Wir schauen aber manchmal mit Wehmut auf die Stunden auf dem Gurten oder am Krebsenbächli an der Aare zurück.»
Wie hat der Umzug euch als Familie verändert?
Verändert hat sich insbesondere die Kommunikation untereinander. Wir nehmen uns viel Zeit, um uns über neue Ausgangslagen auszutauschen und auch die Kinder mit einzubeziehen. In unserer Situation sind wir laufend gefordert, mit den speziellen Eigenheiten, die eine diplomatische Tätigkeit mit sich bringt, zurechtzukommen. Ein Beispiel dafür sind die Gespräche mit Liv, um sie auf die Veränderungen im kommenden Jahr vorzubereiten. Sie wird sich als Sechsjährige in einem völlig neuen Umfeld, in einer neuen Schule, mit neuen Freunden und möglicherweise sogar mit einer neuen Sprache zurechtfinden müssen.
Und was sind Eure Pläne für die Zukunft?
Die Auslandeinsätze für Diplomatinnen und Diplomaten dauern in der Regel vier Jahre. Für uns ist das Abenteuer USA somit im Sommer 2019 zu Ende. Derzeit steht Charlotte mitten im Bewerbungsprozess für die kommenden vier Jahre. Klar haben wir unsere persönlichen Favoriten, was Ort, Aufgaben und Familientauglichkeit anbelangt, allerdings werden wir erst gegen Ende des Jahres Gewissheit darüber haben, wohin wir versetzt werden. Wir können uns durchaus vorstellen, nochmals für vier Jahre im Ausland zu leben und zu arbeiten, um diese intensiven Erfahrungen, die wir als Familie machen dürfen, zu wiederholen. Das Schöne ist aber, dass eine Rückkehr in die Schweiz – und damit die Nähe zu unseren Familien und Freunden – eine wunderbare Alternative zu Abenteuer und Neuem wäre.