Kleinstadt Agentur Über uns
Newsletter Kontakt

«Warum hat man denn Kinder, wenn man sie fremdbetreuen lässt?»

Sobalds ums Thema Mutterschaft und Erwerbstätigkeit geht, kommt die Frage garantiert. Wir haben 10 Antworten darauf.
11 Mai 2023
Bild — Österreichische Nationalbibliothek via Unsplash

Irgendwann taucht sie immer auf. In der Kommentarspalte zu jedem Artikel, in dem die Begriffe «Frau» und «Erwerbsarbeit» vorkommen. Und sie ist nicht einmal immer böse gemeint. Aber sie kommt jedesmal. 3 … 2 … 1 …

«Wenn jemand seine Kinder eh fremdbetreuen lässt, warum hat man dann überhaupt welche?»

Ich hatte sie schon so oft gelesen, dass ich sie gar nicht mehr wirklich ernst nahm. Ich dachte, das sei halt etwas, was irgendwelche Ewiggestrige sagen, stockkonservative Leute, Internet-Trolls, weit weg von meiner Realität. Aber dann tauchte die Frage plötzlich in meinem Alltag auf. In einem Seminar an der Pädagogischen Hochschule. Wo die zukünftigen Lehrpersonen ausgebildet werden.

Dass das sogar aufgeschlossene, junge Frauen und angehende Lehrpersonen ernsthaft fragen, hat mich überrascht. Beim längeren Nachdenken musste ich aber gestehen, dass es eine Zeit gab, in der die Frage von mir hätte sein können. Die Frage ist der ultimative Ausdruck unserer Kultur im Umgang mit erwerbstätigen Müttern und Kinderbetreuung.

Höchste Zeit für eine Liste möglicher Rückfragen (und entsprechender Erläuterungen) darauf.

  • Hast du das auch schon mal einen Vater gefragt?
    — Denn die Frage ist frauenfeindlich und rückwärtsgerichtet. Oder hat sich schon jemand mal gefragt, warum ein Vater, der vielleicht oft auf Geschäftsreise ist, ständig auf dem Hof beschäftigt oder regelmässig am Feierabend noch in der Beiz hängen bliebt, denn eigentlich Kinder in die Welt gesetzt hat? In den allermeisten Fällen richtet sich diese Frage an junge Mütter, und implizit schwingt mit, dass diese durch die Berufstätigkeit ihre Kinder vernachlässigen würden.
  • Meinst du, jede kann es sich leisten, nicht berufstätig zu sein?
    — Denn die Frage zeugt von unreflektierten Privilegien. Weil in der Frage automatisch mitschwingt, dass es in jedem Fall eine Wahlmöglichkeit ist, Zeit mit den Kindern zu verbringen, anstatt einer Erwerbsarbeit nachzugehen.
  • Meinst du, sein Betreuungsmodell kann man sich einfach jederzeit frei so auswählen?
    Denn die Frage negiert die komplexen Lebensrealitäten von Familien. Ich selber habe mich kurz nach der Geburt unseres ersten Kindes in die berufliche Selbständigkeit begeben. Dahinter steckten mehrere Gründe, keiner davon für mich vor der Schwangerschaft absehbar. Statt wie ursprünglich geplant in einem 60%-Pensum, habe ich dann eine Weile lang 120% gearbeitet. Einige Jahre später war ich dann eine Zeit lang Vollzeit-Hausfrau – auch das hat sich aus diversen Umständen ergeben. Fakt ist: Keine dieser beiden Optionen habe ich vor der Kinderfrage in Betracht gezogen … Doch nicht immer sind es eigene Entscheidungen: Der Partner hat vielleicht ganz andere Vorstellungen, wie die Kinder betreut werden sollen. Auch Krankheiten, Schicksalsschläge oder Trennungen können Menschen innert kürzester Zeit in eine neue Situation versetzen, welche nach deutlich mehr externer Betreuung für ihre Kinder verlangt. Das Leben verläuft meistens nicht so linear und planbar, wie sich das gewisse Menschen vorstellen.

In den allermeisten Fällen richtet sich diese Frage an junge Mütter, und implizit schwingt mit, dass diese durch die Berufstätigkeit ihre Kinder vernachlässigen würden.

  • Und wie viel hast du auf dem Bankkonto?
    Denn die Frage ist indiskret und kann verletzend sein: Unter Umständen entspricht die Betreuungssituation nicht dem, was sich die Eltern eigentlich vorstellen (z.B. weil sonst einfach Geld in der Haushaltskasse fehlt oder die Kinderbetreuung aus psychischen Gründen ausgelagert werden muss). Wenn jemand wirklich neugierig ist, wie eine Familie ihre Betreuungssituation regelt, kann ganz einfach fragen: «Wie macht ihr das mit den Kindern, wenn ihr arbeitet? Und was waren eure Beweggründe für diese Lösung?»
  • Meinst du, in der Kita betreuen Fremde die Kinder?
    — Denn die Frage zeugt von einer fehlenden Auseinandersetzung mit Kinderbetreuung. Schon im Begriff «Fremdbetreuung» schwingt mit, als würde jeden Tag eine andere Person zum Kind schauen. Betreuerinnen und Betreuer sind ganz im Gegensatz wichtige Vertrauens- und Bezugspersonen für die Kinder und bauen mit ihnen stabile Beziehungen auf. Ebenfalls interessant: Wer seine Kinder von den Grosseltern hüten lässt, muss sich diese Frage wohl kaum gefallen lassen. Dabei können Grosseltern für ein Kind viel «fremder» sein als eine Nanny oder ein Fachmann Betreuung in der Kita.

    Fast alle europäischen Länder kennen umfangreiche staatliche Frühbetreuungsangebote für Kinder ab 3 Jahren, in vielen Fällen sogar noch früher und ab Ende des Elternurlaubs.

  • Hast du schon mal mit einer Familie aus einem unserer Nachbarländer gesprochen?
    — Denn die Frage ist einzigartig für die Schweiz. In unserem Nachbarland Frankreich ist die ganztägige école maternelle für Kinder ab 3 Jahren obligatorisch. Fast alle europäischen Länder kennen umfangreiche staatliche Frühbetreuungsangebote für Kinder ab 3 Jahren, in vielen Fällen sogar noch früher und ab Ende des Elternurlaubs. In der Schweiz wird es aber als Privatsache angesehen, wie die Kinderbetreuung zwischen der 15. Lebenswoche eines Kindes (Ende des Mutterschaftsurlaubs) bis zu seinem Schuleintritt gelöst wird. Und auch die hierzulande geltenden Unterrichtszeiten orientieren sich am Modell der Hausfrau, die zwischen 12 Uhr und 13.30 Uhr zuhause die Kinder betreut – in Europa ein Sonderfall.
  • Meinst du, nur Eltern können ihre Kinder gut betreuen?
    — Denn die Frage impliziert, dass es immer im Interesse des Kindes ist, möglichst viel Zeit mit seinen Eltern zu verbringen. Selbstverständlich sind stabile Bindungsbeziehungen wichtig für Kinder. Eine Garantie für solche gibt es aber in keinem Elternhaus, ob nun die Bezugspersonen erwerbstätig sind oder nicht. Eine Aussage darüber, wieviel Zeit Eltern mit ihrem Kind verbringen, sagt nichts über die Qualität der Beziehung aus.
  • Meinst du, früher hätten Mütter immer stundenlang mit ihren Kindern gespielt?
    — Wer die Frage ergänzt mit «früher schauten die Mütter halt noch selber zu den Kindern», beweist fehlendes Geschichtsverständnis. Weil das Modell «Vater ist erwerbstätig, Mutter ist Hausfrau» im globalen Norden erst um 1900 überhaupt entstand – für viele Bevölkerungsschichten aus finanziellen Gründen aber undenkbar war. In allen vorhergehenden Epochen haben beide Eltern und ihr Nachwuchs (abgesehen von einer kleinen Oberschicht) für das eigene Überleben gearbeitet: Im Industriezeitalter war Kinderarbeit auch in der Schweiz weit verbreitet, und auch in Landwirtschaftsbetrieben mussten Kinder standardmässig schon früh im Betrieb mithelfen. Die Vorstellung, dass Eltern (beziehungsweise Mütter) früher mit Ihren Kindern stundenlang gespielt haben oder ständig auf die kindlichen Bedürfnisse eingegangen seien, war in der Schweiz also höchstens zwischen 1945 und 1975 Realität – und auch dann nur für einen Teil der Bevölkerung.
  • Meinst du, Kinder brauchen nur Erwachsene, um gut aufzuwachsen?
    — Denn die Frage zeugt von einem verzerrten Verständnis von Kindheit. Kinder haben immer viel Zeit mit anderen Kindern verbracht. Erst die (auf gewisse Weltregionen beschränkte) Entwicklung zur Kleinfamilie nach dem zweiten Weltkrieg hat dazu beigetragen, dass Kinder sich vermehrt an Erwachsenen ausrichten und mit diesen viel Zeit verbringen.

    Die Frage zeugt von einem verzerrten Verständnis von Kindheit.

  • Was wäre denn deiner Meinung nach ein guter Grund, um ein Kind von jemand Drittes betreuen zu lassen?
    Gerne wird dann nachgeschoben, dass die Frage «vor allem den Gutverdienenden gilt». Das beweist, dass die Frage auch moralisch hoch problematisch ist. Weil wer definiert denn, welche Lebensumstände Mütter «berechtigen», mehr als zu den in der Schweiz gesellschaftlich akzeptierten 50% erwerbstätig zu sein? Wenn ihr Einkommen eine gewisse Schwelle unterschreitet? Wenn sie einen «systemrelevanten» Beruf haben? Wenn sie in derjenigen Zeit, die sie mit den Kindern verbringen, «gute Eltern» sind?

Was wir brauchen, ist eine familienfreundlichere Kultur. Die erfordert natürlich entsprechende Strukturen. Aber wir können nicht alles an die Politik delegieren. Wir müssen auch im Alltag anfangen, am besten bei der Sprache. Achten wir darauf, wie wir mit und über Familien sprechen. Machen wir andere darauf aufmerksam, was sie mit solchen Fragen suggerieren. Und hören wir auf damit, Vor- und Werturteile in vermeintlich unschuldige Fragen zu verpacken.