«Ich merke jetzt mehr denn je, dass ich mir genau diese Zeiten des Alleinseins nehmen muss»
Was ich mitnehme aus Corona? Meine eigenen Prioritäten. Das Jonglieren von meinen Bedürfnissen mit (nicht nur meiner) Arbeit, Familienalltag, Partnerschaft, Kindern und Ich-Zeit war nach langer Prozessphase vor Corona grade so in die Balance gekommen. Leider nur kurz. Was Corona als erstes zunichtemachte, war die so genannt «unproduktive Zeit» (ha!): Zeit mit Freunden, aber vor allem auch Zeit mit mir. In 10 Jahren Selbstständigkeit hatte ich mich immer gegen das protestantische Ideal «Wenn du nur hart genug arbeitest, schaffst du es» gewehrt und mir stoisch gegen gerümpfte Nasen und runzlige Stirnen meine Frei-Zeiten im Alltag genommen. Nur für mich. Zum Abschalten, Luftholen, Käfele. Jetzt fehlen diese Momente. Aber sie passen eben nicht in 24 Stunden Kinderbetreuung, 2×8 Stunden Arbeit, Kochen, Einkaufen, Putzen, Bespassen. Was hat nun also welche Wichtigkeit? Kann man «quality time» mit zwingend nötiger Arbeit aufwiegen? Wessen Arbeit ist denn überhaupt zwingend nötig? Die Diskussionen gehen ans Eingemachte. Und ich merke, jetzt mehr denn je, dass ich mir genau diese Zeiten des Alleinseins nehmen muss. Damit das Arbeiten, Spielen, Haushalten, Schmusen weiterhin funktioniert. Für alle Beteiligten. Dann leidet eben etwas anderes.
«Unsere Kita gehört zur erweiterten Familie»
Unser Aha-Erlebnisse der letzten Wochen? Dass unser Dreijähriger alleine spielen kann, wenn’s denn unbedingt sein muss (Home Office plus Kita-Entzug sei dank). Dass unsere Eltern fast genau so viel Freude an einem Videocall haben wie an einem Wochenendbesuch, für den wir quer durch die Schweiz reisen müssen. Dass in all unseren hübschen Kochbüchern richtig tolle Rezepte drin stecken. Dass unsere Kita zur erweiterten Familie gehört. Und dass unsere Nachbarn noch viel wunderbarer und hilfsbereiter sind als wir dachten.
Was wir aus dem Lockdown mitnehmen möchten? Die Freude an einander, am Quartierleben, am Einen-Gang-Zurückschalten. Home Office einmal pro Woche. Die Online-Apéros mit Familie und Freunden. Das Auch-mal-zu-sich-selbst-Schauen am Mami-/Papitag, während das Kind sich selbst beschäftigt. Und natürlich das gemeinsame Brotbacken!
«Ich begegnete meiner Angst vor Langeweile»
Die letzten acht Wochen waren eine innige, intensive Zeit. Oft haben sie sich angefühlt wie Elternsein hoch zwei: kaum Pausen, immer Kasperli im Hintergrund, Kinder, die jede Grenze testen und abends Mühe haben einzuschlafen. Muttersein hat mich gelehrt, mich mit wenig Freiräumen zu begnügen. Aber das hier war next Level. Zum ersten Mal seit Jahren knallte ich wutschnaubend eine Tür zu.
Und doch war dieser Shutdown eine willkommene Entschleunigung. Ich entdeckte das Waldbaden und verbrachte unzählige Nachmittage unter Bäumen. Ich versuchte, mich ganz auf die Zeit mit den Kindern einzulassen. Ich begegnete meiner Angst vor Langeweile und erzählte auch mal eine halbe Stunde lang das gleiche Büechli hoch und runter.
Und auch in der Enge fand ich sie, meine Räume zur Selbstfürsorge. Jeden Morgen stand ich vor den anderen auf, um eine Stunde zu mediteren und Yoga zu machen. Ich belegte online Kurse in Traumatherapie, Gaga-Improvisationstanz und yogierte virtuell mit meinen Lieblingslehrern in New York mit.
Zu Beginn des Shutdowns las ich irgendwo, dass 2020 zwar kein Schuljahr, dafür aber ein Kinderjahr werde. Ich glaube, auch wir Eltern (zumindest in unserer privilegierten Bubble) durften uns auf das Wesentlich zurück besinnen. Vielleicht wird 2020 sogar ein Familienjahr.
«Die Nachmittage im Wald haben uns gerettet»
Am ersten Tag des Lockdowns überkam mich daheim im Badezimmer eine Panikattacke. Damals fürchtete ich mich sehr von einer kompletten Ausgangssperre, wie sie z.B. in Spanien eingeführt worden war. Denn was uns schlussendlich über diese Zeit hinweggerettet hat, waren die Nachmittage im Wald. Die vielen Stunden in der Natur waren für mich einer der Benefits aus dieser Krise. Aber auch zu erleben, wie sich unsere Buben wunderbar gemeinsam ins Spiel vertiefen können, wenn sie Zeit dazu haben. Und ich konnte meinem Hobby frönen, aus irgendwelchen zufälligen Zutaten, die noch im Kühlschrank zu finden sind, ein feines Essen zu kochen. Aber ich will nicht schönfärben, es gab auch viele schwierige Momente: Das Homeschooling verlief sehr harzig und hat zu vielen Konflikten geführt. Ich machte mir ständig Vorwürfe, zu wenig zu leisten, weil andere doch neben Kindern und Haushalt auch noch Homeoffice machen und dazu noch Zeit für Yoga finden. Das ist wohl meine grösste persönliche Erkenntnis aus dieser Zeit: dass mir die direkten sozialen Kontakte, die kreative Arbeit und die ungestörten Stunden, die ich sonst regelmässig habe, so richtig fehlten und mir das spürbar aufs Gemüt schlug.
«Im Moment sind sämtliche Ziele erreicht, wenn die Kinder lachen»
Shutdown-Tag 26, ungefähr. Wir sind beim Sandkasten am Waldrand, den wir seit Wochen stets in der gleichen Vierergruppe bespielen.
Kinder, sagt meine Nachbarin, hätten ganz andere, viel unmittelbarere Ziele als wir. Die Freude, wenn sie ein Ziel dann erreichen, sei aber grösser, als wenn wir Selbiges mit einem unserer vermeintlich grossen Ziele schaffen. Kinder wollen ein Schneckenhäuschen finden, ein Loch im Sandkasten ausbaggern, eine weitere Folge «Paw Patrol» schauen.
Als meine Nachbarin das sagt, wird mir bewusst, wie grundlegend wir Erwachsenen unsere Ziele seit Mitte März revidieren mussten. Es geht nicht mehr darum, befördert zu werden, mehr Umsatz zu machen, den besten Unterricht anzubieten, fein essen zu gehen, die Kinder mal wieder über Nacht abzugeben, eine Reise zu planen.
Im Moment sind sämtliche Ziele erreicht, wenn die Kinder lachen. Das ist bedeutend weniger romantisch, als es jetzt klingt. Wahrscheinlich wird es aber gut sein, in Zukunft öfters mal daran zu denken.
«Das Mittagsschlaf-Comeback, der Zmorgekuchen und die Milchkastenfreuden»
Wenn dein Hab und Gut im gleichen Moment vors neue Zuhause gefahren wird, wie der Bundesrat die Schliessung der Schulen bekannt gibt, weisst du, dass ab jetzt nur noch Kaffee und Wein in rauen Mengen helfen. Existenzangst, Überforderung, Homeschooling-Unwillen (bei Muttern, nicht beim Kind), Grosselternvermissung, Zankereien, Geschrei, sie alle standen vor der Tür. Bleiben tun dennoch andere Sachen. Die unglaubliche Solidarität mit und unter dem Kleingewerbe. Neu entdeckte Gemüsesorten dank frisch abgeschlossenem Gemüseabo. Das Mittagsschlaf-Comeback, der Zmorgekuchen und die Milchkastenfreuden. Dass es für uns richtig und wichtig ist, mit möglichst wenig fixen Terminen durch den Alltag zu gehen (und gleichzeitiges Staunen darüber, wie durchgetaktet die Wochen vor Corona trotz überzeugtem «weniger ist mehr» waren). Am allerwichtigsten aber: Wie mühelos und konfliktfrei Donat und mir die Aufteilung der 24/7-Kinderbetreuung gelang und dass die Kinder und ich auch dann sehr gut miteinander zurecht kommen, wenn wir die Wohnung mal tagelang nicht verlassen.
«Das Beste, was mir und meiner Familie passieren konnte»
Die Krise in der Krise: Der Lockdown traf mich in einer sehr schwierigen Lebenssituation. Ich stand am Ende einer kräftezehrenden Trennung, unmittelbar vor dem Auszug aus der gemeinsamen Wohnung. Auch wenn es zunächst nicht danach aussah, rückblickend war der Lockdown das Beste, was mir und meiner Familie passieren konnte. Denn endlich hatte ich Zeit. Zeit zum loslassen, Zeit zum Trauern und Zeit, mein Leben neu zu gestalten. Ich hatte Zeit, mich intensiv um unsere Kinder zu kümmern, ihnen die Geborgenheit und Nähe zu geben, die sie in dieser Situation so dringend brauchten. An die Zeit, die uns geschenkt wurde, daran werde ich mich erinnern, wenn ich an den Lockdown denke. Ob etwas davon bleibt? Vermutlich nicht. Erkenntnisse kann man zwar aufschreiben, aber oft gehen sie irgendwann wieder vergessen. Ich finde, viel wichtiger, als dass sie ewig bleiben, ist doch, dass wir sie überhaupt gewonnen haben.
«Ist es normal, gleichzeitig zu verzweifeln und entspannen?»
Hoppla, was passiert gerade? Und warum alles aufs Mal? Wo ist Wuhan und warum? Weshalb sind Viren schneller als unser Verstand? Wieso wache ich morgens auf und träume nicht? Lockdown und social what? Wie erkläre ich das alles meinem Kind? Sind meine Eltern vernünftig? Wann gibt es wieder Sterillium? Ist es normal, gleichzeitig zu verzweifeln und entspannen? Lerne ich meine Tochter gerade neu kennen? Wird sie bald zum «Paw Patrol»-Hündchen? Wie dehnbar sind meine Grenzen? Und wo ist denn das Fernweh hin? Welcher Wald solls heute sein? Wieso hatte ich vergessen wie schön sich Ruhe anfühlt? Soll ich noch News lesen? Brauchen wir mehr Vorräte oder weniger Planung? Was kochen wir heute? Und lerne ich endlich backen? Wieso hatte ich nie eine leere Agenda? Weshalb geht es allen anders in dieser einheitlichen Krise? Und wie geht es weiter, Herr Koch? Darf ich meine Freunde wieder umarmen? Wann meine Eltern? Und diese die Kinder? Wann ist alles wieder wie früher? Will ich das überhaupt?
«Vier Herzensdinge sind zu viel für ein Leben»
Am Anfang verfiel ich in eine Art Euphorie, die Kinder spielten stundenlang, ich rannte jeden Tag, wir fuhren den Kleinstadt-Betrieb herunter, das Frühlingswetter half, das Homeoffice war akzeptabel, ich las Bücher wie «Walden», löschte Instagram, wir verbrachten ganze Tage im Wald, ich war unheimlich dankbar für diese Familie, unsere Gesundheit, unseren Sozialstaat. Ein glückseliger Rückzug ins Private, die Freizeitverpflichtungen fehlten uns null.
War das nicht alles ein klares Signal? Dass wir zu viel arbeiten, zu viel abmachen, zu viel betreuen lassen? Sollten wir nicht weniger machen, diese kurze Zeit mit kleinen Kindern mehr auskosten? Oder sind das wieder klassische reaktionäre Gedanken in Krisenzeiten?
Aber dann kam der Regen, der Homeoffice-Koller, überhaupt der Koller, zugleich kehrte der Elan zurück; ein Tag im Büro fühlte sich trotz viel Arbeit an wie ein Wellnesstrip.
Zurück bleiben viele Fragen. Ich weiss jetzt deutlicher denn je, dass vier Herzensdinge (Familie, Job, Kleinstadt-Magazin und noch ein jüngeres Projekt) zu viel sind für ein Leben. Nur: Wo Zeit gewinnen oder wo Abstriche machen, was und wie ändern? Dazu lieferte der Lockdown keine Antwort.
Am Ende ist es vielleicht nur wie nach einer langen Reise. Von der man verändert heimkommt, aber innert Tagen wieder im normalen Tritt mitmarschiert. Hoffentlich nicht!
«Durchs Beobachten wurde ich gelassener»
«Liebe dich selbst», sagt Buddha (wahrscheinlich sagen das viele andere auch).
Ich habe mir in dieser Zeit immer wieder vorgestellt, wie die Welt aussehen würde, wenn jeder sich selber lieben würde. Sei es nur ein ganz klein wenig mehr. Das könnte wirklich die ganze Welt verändern. Also fange ich mit der Liebe bei mir selber an. Das ist gar nicht immer so leicht!
Buddha fügte dem hinzu: «Liebe dich selbst und beobachte, heute morgen und immer.»
Ich habe viel beobachtet in den vergangenen Wochen. Ich habe meine Gedanken beobachtet. Ich habe beobachtet, was ich esse und wie ich esse. Ich habe beobachtet, welche Gefühle verschiedene Situationen in mir auslösen. Ich habe meine Kinder beobachtet. Ich habe meinen Körper beobachtet und wie ich ihn behandle. Ich habe die Natur beobachtet. Ich habe mein Gegenüber beobachtet und gleichzeitig auch mich. Ich habe beobachtet, was passiert, wenn ich konsumiere, egal was. Ich habe meinen Atem beobachtet. Ich habe beobachtet, dass positive Gefühle meinen Körper stärken. Durchs Beobachten wurde ich gelassener.
Ich habe beobachtet, dass meine Freiheit plötzlich grösser wird, wenn ich überall Verantwortung übernehme. Ich weiss nun, dass ich immer eine Wahl habe. Also fange ich überall bei mir an und wähle, mit offenem Herzen und grossem Vertrauen durch mein Leben zu gehen.
Ich weiss: Alles ist gut, genau so, wie es ist.
Der 11. Erfahrungsbericht in diesem Beitrag sind die Bilder: Sie stammen von Ulrike Meutzner, die während des Lockdowns mit ihren Kindern den Wald in ihrer Nähe entdeckt hat. Sie fotografiert Familien in ihrem Zuhause oder in einem Umfeld nach Wahl: www.other-days.ch
Was nehmt ihr mit aus dem Lockdown? Hinterlasst uns einen Kommentar, wir freuen uns auf weitere Erkenntnisse und Einblicke.